Theater der Zeit

Auftritt

Schauspiel Leipzig: Weltangst und Ulk

„Von Wunden und Wundern“ von Sarah Kilter (UA) – Regie Marco Damghani, Bühne Hugo Gretler, Kostüme Ragna Hemmersbach

von Nathalie Eckstein

Assoziationen: Theaterkritiken Sachsen Dossier: Neue Dramatik Marco Damghani Schauspiel Leipzig

Roman Kanonik und Paulina Bittner in Von Wunden und Wundern (UA) von Sarah Kilter, inszeniert von Marco Damghani.
Roman Kanonik und Paulina Bittner in Von Wunden und Wundern (UA) von Sarah Kilter, inszeniert von Marco Damghani.Foto: Rolf Arnold

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„Ich will dich und Lieferservice und medizinische Onlinesprechstunde und eine riesengroße Mauer drumherum“: SIE und ER haben sich eingerichtet in einer Beziehung und einer Welt, deren Grenzen die Grenzen der eigenen Wohnung bedeuten. Eine Festung gegen das Außen, durch eine heruntergelassene Jalousie beschirmt. Durch die blickt man in Sarah Kilters Auftragswerk „Von Wunden und Wundern“ in der Inszenierung von Marco Damghani am Schauspiel Leipzig frontal auf eine Wohnung, die in der Mitte gespiegelt zwei identische Seiten aufweist, zwei Betten, zwei Sessel, zwei Router, zwei Salate als Pflanzen (Bühne Hugo Gretler). Die beiden sind lange zusammen, streiten sich wegen der Dinge, wegen derer man sich streitet, wie Kinderwünsche, Unzulänglichkeiten und gegenseitiger Neid. Rollenspiele haben sie probiert, den Sex, den sie haben, spielen sie über einen Abstand, Paulina Bittner als SIE auf der rechten Seite der Wohnung, Roman Kanonik als ER auf der linken Seite. SIE hat Angst, dass er sie weniger liebt, weil er statt „Ich liebe dich“ nur „Ich lieb dich“ sagt.

Aus Angst, so scheint es, verlassen beide weder die Wohnung noch die Beziehung. Das Setting einer Wohnung ist gegenwärtig, Corona, Internet, Homeoffice – Selbstisolation als Gefühl einer Zeit. So weit, so normal, doch SIE und ER scheinen beide einer beginnenden Verwandlung zu unterliegen. Als sie zu „Safe and Sound“, einem Song, der in einer Mobilfunkanbieterwerbung 2013 Verwendung gefunden hat, wie es heißt, die Jalousien öffnen, wird sichtbar, dass beide Fell an den nackten Beinen haben. Aus ihrem kurzen Kleid ragt ein langer Schwanz, aus seinem Jackett (er trägt natürlich keine Hose im Homeoffice) sieht man einen Kaninchenpuschel ragen (Kostüme Ragna Hemmersbach).

Bis gerade in dem Moment, in dem ER sich trennen will und SIE ihn noch nötigen möchte, einen Fahrradhelm aufzusetzen, wenn er geht, HUNZEN (Sonja Isemer) klingelt. Die Figur HUNZEN (weißer Anzug, weißglitzerndes Haar) kennt das Publikum schon aus dem Foyer, wo vor Beginn der Vorstellung eine kurze Umfrage zum Thema Wunder lief. HUNZEN fragt das Publikum, wer an Wunder glaube, wer eines erlebt habe und ob Wunder und Wissenschaft einander ausschließen. HUNZEN, auf dem zweiten Bildungsweg verbeamtete Gutachterin für Wunder, ist auf einen anonymen Hinweis hier, um ein Wunder zu prüfen.

Die Dialoge im Text sind pointiert und scharf beobachtet. Der grundsätzlich fast schon zynische Ton des Textes, der überspitzt auf die Welt blickt, offenbart eine Welt ohne Wunder, aber mit sozialen Ungerechtigkeiten. Auch HUNZEN hat noch nie ein Wunder attestieren können.

Die Verzweiflung ob einer schnöden, wunderlosen Beziehung und Welt kollidiert mit einer aufgedrehten Inszenierung, mit skurrilen Details und Einfällen, wie Schuhe aus Orangennetzen oder Bananen, High Heels aus Salat und dem zunehmend tierähnlichen Verhalten des Paars. Kratzen, mit der Nase wackeln, Tiergeräusche und Haarknäuelerbrechen, alles großartig gespielt. Die Inszenierung dreht auf, Schattentheater inklusive, und ist dabei wirklich ulkig.

Es mangelt einzig etwas an der Tiefe, die dem Text noch innewohnt: Die Verzweiflung, das übergroße Bedürfnis nach einem Wunder, eigentlich für alle drei Figuren, fällt über den Klamauk etwas hinten herunter. So wird gleichzeitig das eigentlichen Wunder der Verwandlung (fast schon im Kafka-Sinne) übergangen, während ironischerweise aus lauter Verzweiflung am Ende gar eines imaginiert wird.

Auch sind die Einfälle teils etwas disparat. Wenn HUNZEN SIE befragt, ertönt der Sound einer Quizshow, HUNZEN stellt die Fragen mit einem Gerät, das eher aussieht wie ein EC-Lesegerät und auch einen Bon drucken kann. Die angerissenen Fragen nach Herkunftsprivilegien, Ängsten und Isolation tauchen zwar mehrmals auf, werden aber kaum zusammengeführt. SIE, später als Frau Müller bezeichnet, ist hochgradig neurotisch, ohne dass das psychologisch nachvollziehbar wird.

Sarah Kilters genau beobachtender Text wird hier zu einer kurzweiligen und unterhaltsamen Form gebracht.

Als es am Ende auch noch eine Verwechslung klar wird, im Text von „Unbehagen. Mitleid. Ohnmacht“ die Rede ist, da greifen die emotionalen Strategien der Inszenierung aus Überhöhung und Klamauk dieses kurzweiligen Käfigkammerspiels leider nicht mehr.

Erschienen am 18.9.2024

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