Theater der Zeit

Gespräch

Vorläufiges Weltmodell

Die Bühnenräume von Katja Haß fordern zum Suchen auf – nach dem Menschen in seiner bedingten Existenz

von Gunnar Decker und Katja Haß

Erschienen in: Arbeitsbuch: Bild der Bühne, Vol. 2 / Setting the Stage, Vol. 2 – 17 Bühnenbildner:innen im Porträt (06/2015)

Assoziationen: Akteure Kostüm und Bühne

DIE PASSAGIERIN (Mieczysław Weinberg) Oper Frankfurt, 2015. Regie Anselm Weber, Musikalische Leitung Leo Hussain, Christoph Gedschold, Kostüme Bettina Walter. Skizzen Katja Haß.
DIE PASSAGIERIN (Mieczysław Weinberg) Oper Frankfurt, 2015. Regie Anselm Weber, Musikalische Leitung Leo Hussain, Christoph Gedschold, Kostüme Bettina Walter. Skizzen Katja Haß.Foto: Foto: Barbara Aumüller

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Katja Haß, Sie kommen gerade aus den Endproben zu „Don Carlos“ am Deutschen Theater in Berlin. Sie haben die Bühne entworfen, Stephan Kimmig, mit dem Sie seit fast zwanzig Jahren verheiratet sind, führt Regie. Wie muss man sich eine derartige Beziehung vorstellen?

Es ist eine extreme Art zu leben, erfüllend, aber auch anstrengend. Arbeit und Zusammenleben kreisen 24 Stunden umeinander. Wir haben uns durch die Arbeit kennengelernt, und so ist das eine mit dem anderen nahezu nahtlos verbunden. Das setzt einen gemeinsamen Blick voraus, vielleicht entsteht der aber auch erst mit der Zeit. Da ist dann viel geteilte Emphase und geteilte Einsamkeit zugleich.

Wie sieht die Bühne zu „Don Carlos“ aus?

Wir nutzen die gesamte Drehbühne des Deutschen Theaters. Ein riesiges, abstraktes Koordinatensystem mit realistischen Teilen eines Büroapparates kreist um sich selbst. Ein weißes Totenreich, Reste einer Zivilisation, die sich im Labyrinthischen verliert.

Das erinnert an eine Stelle aus Georg Trakls „Psalm“: „Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben“ – ein starkes Todessymbol. Weiß ist ja die Farbe des Todes; wenn alles Leben aus dem Körper gewichen ist, dann ist da nur noch die Leichenblässe, das ultimative Ende.

Das Ende ist auch hier bereits da – vielleicht als atomarer Unfall oder Krieg, jedenfalls sind nur Reste eines ehemals intakten Ganzen zu sehen. Eine verstrahlte, beschädigte Welt mit einem weiterhin rotierenden Rückgrat, das sich unaufhaltsam weiterdreht, sich verdreht, die Dinge aus der Ordnung geraten lässt.

Nun ist der Kern von „Don Carlos“ aber eine jugendliche Auflehnungsgeschichte!

Ja, richtig, aber der Raum hierfür irritiert auf den ersten Blick, er desorientiert Zuschauer und Spieler …

Ein ortloser Ort?

Es gibt keinen Ausweg aus diesem Labyrinth, das die Trümmer einer früheren Ordnung hinterlassen hat – keine Idee. Alexander Khuon, unser Carlos, möchte durchaus rebellieren gegen den erschöpften, todmüden Vater, König Philipp, bei uns Ulrich Matthes – aber er ist trotz aller Dynamik so von seinen eigenen egozentrisch-­privaten Problemen aufgerieben, dass alle Kraft verpufft und kein entschiedenes, gesellschaftliches Handeln von ihm zu erwarten ist. Er befindet sich in einem unnatürlich-fiebrigen Dauerzustand, an dessen Überhitzung er sogleich wieder ermüdet.

Sie setzen sehr bewusst immer wieder auf Irritationsmomente?

Ja, denn damit beginnt schließlich jedes Fragen, jedes Verstehen – dass einem die Dinge nicht mehr normal, im Sinne von selbstverständlich, vorkommen. Vielleicht sollten die Dinge und die Verhältnisse anders sein, aber können sie das? Da sind wir dann mitten im Stück.

Sie haben in einem früheren Gespräch, das wir führten, bereits von der inspirierenden Rolle der Architektur für Ihre Bühnenbilder ­gesprochen, aber hinzugefügt, es handle sich um eine „negative Architektur“. Was soll man sich darunter vorstellen?

Ich meine damit die Grundsituation, den „Bau“, in dem der Mensch steht, seine ganze bedingte Existenz, die er nicht überschaut oder nur nach und nach und vielleicht auch falsch. Was ich auf der Bühne baue, sind immer auch Weltmodelle, jedoch in einer vorläufigen und sich selbst infrage stellenden Art.

Sie haben auch einmal gesagt, Räume hätten ein Eigenleben, sie seien wie Monster. Ist das damit gemeint?

Räume beschädigen und verdrängen sich gegenseitig und den Menschen darin. Das muss im Theater sinnlich erfahrbar werden, ohne dabei Differenziertheit und Vielschichtigkeit zu verlieren. Der Raum muss herausfordern, zum Suchen auffordern. Das Bruchstückhafte bei „Don Carlos“, das Immer-­weniger-Werden durch die Reste von Zivilisation, soll ja auch die Frage stellen: Was kommt nach dem Ende, nach der totalen Verwüstung? Gibt es in dem Labyrinth irgendwo ein Wurmloch, in das man zunächst verschwinden könnte, und liegt dahinter vielleicht doch eine neue Dimension, die wir erst noch wahrzunehmen lernen müssen?

Bei Ihren Bühnen hat man oft den Eindruck, sie seien Stück für Stück leer geräumt worden, ich denke da vor allem an „Ödipus“ am Deutschen Theater. Ist das ein Ziel für Sie?

Reduktion, Konzentration – das ist ein wesentliches Element der Arbeit. Platz machen für die Fantasie, die Figuren die eigenen Grenzen und Räume bestimmen lassen. Dabei starke Kontraste von gerade und rund, schwarz und weiß, Bewegung und Statik.
Stephan wollte für Ödipus die leere Bühne, die Polis, eine Spielfläche, auf der die Menschen die Aufrechten des Raumes bilden, die die hier verschwundenen Wände und die Geometrie ersetzen. Menschen wollen aufbrechen und stoßen doch unentwegt an unsichtbare Mauern. Das ermöglicht eine noch konsequentere Freilegung der Beziehungen, außerdem auch stärkere Körperarbeit. Das haben wir in München auf einer „verrutschten“ Drehscheibe als einziges Bühnenmittel in den „Geschichten aus dem Wiener Wald“ auch verfolgt.

Der leere Raum ist aber doch nur eine Komponente. Was passiert, wenn die andere, die Zeit, hinzutritt?

Räume altern natürlich auch. Zeiten und Geschichten überlagern sich. Da kommt dann die Frage von Materialien und Oberflächen dazu. Ich benutze gern Stoffe, denen man bereits eine eigene Geschichte ansieht. Das nicht sofort Lesbare einer Bühne hat genau mit dieser Raum- Zeit-Konstellation zu tun. Das Verrätseln, die Widersprüche und Hindernisse schaffen erst Bedeutungsräume, die immer mehrdimensional bleiben. Jeder Raum führt auch ein Eigenleben und beinhaltet Möglichkeiten, die es noch zu entdecken gilt.

Das heißt?

Die Bühne braucht einen eigenen Geist, an dem man sich reiben kann. Etwas Widerständiges, Entgegengesetztes. Ein heißes, emotionales Anliegen bedarf des kühl Distanzierten. In solcher Komplexität sind Fragen nach Wahrheit und Lüge viel schärfer stellbar. Ein Zugleich von schonungsloser Analyse zwischenmensch­licher Beziehungen bei gleichzeitigem Glauben an ein Überwinden der Begrenzungen, an Verwandlung. Aber das gelingt natürlich nicht immer. Menschliche Beziehungen in ihrer ganzen Verstricktheit zu zeigen, das hat ja auch immer etwas mit radikaler Selbstbefragung zu tun – so ein bisschen wie in „Alice hinter den Spiegeln“ muss man eben erst durch den Spiegel hindurchgreifen, um in eine andere Dimension zu gelangen.

Sie haben die Zeichnungen für die in der Spielzeit 2015/16 geplante Inszenierung von „Die Jungfrau von Orleans“ am Zürcher Schauspielhaus mitgebracht. Das sieht nach kontrollierter Auflösung aus.

Das Rekonstruieren einer totalitäre Züge annehmenden Bilderwelt um uns ist ein zentraler Gedanke. Was liegt hinter dem äußeren Anschein verborgen? Stephan und ich haben die Szenerie in den Keller eines Schweizer Bankhauses verlegt, das versucht, ein junges Mädchen für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Es geht um Manipulation, Gehirnwäsche. Die Bühne ist komplett mit einem Irrgarten aus halbdurchsichtigen Vorhängen gefüllt. Auf diese werden Videos projiziert, Bilder, die täglich auf uns einprasseln, aus der ganzen Welt, aus Politik und Zeitgeschehen. Hier haben also Vorhänge die Wände ersetzt und treiben die Desorientierung noch weiter, sie sind noch flüchtiger, vielschichtiger. Sie begrenzen den Raum und sind doch durchlässig.

Wie jene Membran in der Biologie der Pflanzenzelle, durch die Osmose, also der Wassertransport bis in die Spitzen der Blätter, möglich wird?

Auf die Vorhänge ­bezogen heißt das: Es sind schwebende Grenzen, Linien, die überschreitbar sind, Bewegung möglich machen. Dann entblättert sich das Ganze immer mehr, Vorhang für Vorhang, wie eine Zwiebel, die Schicht um Schicht gehäutet wird, und am Schluss ist nichts mehr. Nur noch eine leere Bühne, ein Schienenskelett im Bühnenhimmel und ein Stuhl. Mit einem Menschen darauf. //

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