Theater der Zeit

Auftritt

Köln: Die Deutungshoheit gehört den Opfern

Schauspiel Köln: „Mölln 92/22“ von Nuran David Calis (UA). Regie Nuran David Calis, Bühne Anne Ehrlich, Kostüme Patricia Ruszkiewicz

von Stefan Keim

Erschienen in: Theater der Zeit: Was soll das Theater jetzt tun? – Eine Umfrage (05/2022)

Assoziationen: Sprechtheater Theaterkritiken Nordrhein-Westfalen Schauspiel Köln

„Mölln 92/22" von Nuran David Calis am Schauspiel Köln. Foto David Baltzer
„Mölln 92/22" von Nuran David Calis am Schauspiel Köln.Foto: David Baltzer

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Ein Kinderzimmer steht auf der Bühne, mit vier Wänden drum herum. Das Publikum kann durch die Fenster und die Tür hineinschauen, auf einen bunten Teppich, ein Bett, Poster an den Wänden. Es ist ein Raum, in dem sich die Kinder der Familie Arslan sicher gefühlt haben. Bis er abbrannte, wie das ganze Haus. Zwei Kinder und eine Frau sind gestorben in Mölln, am 23. November 1992, als zwei Skinheads Brandbomben in zwei Wohnhäuser warfen.

Natürlich wird das nicht nachgespielt im Stück „Mölln 92/22“ von Nuran David Calis. Es geht darum, wie rechtsradikaler Terror heruntergespielt und halbherzig bekämpft wurde, über Jahrzehnte hinweg. Und darum, wie mit den Opfern umgegangen wird. In Mölln gibt es eine Gedenktafel und Erinnerungsveranstaltungen, offiziell im Rathaus. Doch die Familie gestaltet ihre eigenen Gedenkfeiern, am Ort des Geschehens. Das Kölner Ensem­ble ist nach Mölln gefahren und hat daran teilgenommen. „Wie die Anwohner reagiert haben“, erzählt Schauspielerin Kristin Steffen im Stück, „das war absolut verstörend. Die sind da einfach durchgelatscht. Da hab ich gemerkt, dass diese Gedenkfeier nicht nur nicht akzeptiert wird. Sie ist unerwünscht.“

Wer hat die Deutungshoheit über das Verbrechen? Das ist eine der Fragen, die im Stück diskutiert werden. Zwei junge Männer aus der Familie Arslan sind zur Premiere angereist, das Ensemble holt sie kurz vor Schluss auf die Bühne. Sie erzählen von Solidaritätsbriefen, die bei der Stadt Mölln gelandet sind und nicht weitergeleitet wurden. Einige enthalten konkrete Hilfsangebote, verstaubten aber fast 30 Jahre lang im Stadtarchiv. Das Ensemble zeigt historisches Filmmaterial und Zeitungsausschnitte. Zwar ­haben der damalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident Björn Engholm und sein Vize Wolfgang Kubicki die Verletzten im Krankenhaus besucht. Doch man sieht die Distanz, die Fremdheit. Und Bundeskanzler ­Helmut Kohl kam gar nicht.

Wie kann da eine Versöhnung stattfinden? Die liegt in weiter Ferne, sagt das Ensemble. Zunächst einmal geht es darum, den Konflikt ehrlich auszutragen und einen ehrlichen Dialog auf Augenhöhe zu beginnen. Nuran David Calis inszeniert diskursives ­Dokumentartheater ohne viele Zutaten. Es gibt eine ebenso zurückhaltende wie stimmungsvolle Bühnenmusik von Vivan Bhatti, das Kinderzimmer wird einmal auseinandergeschoben. Es zerfällt in drei Teile, drei Tote hat es gegeben. Ansonsten präsentieren ­Kristin Steffen, Stefko Hanushevsky und ­Ismail Deniz die Ergebnisse ihrer Recherchen. Mal nachdenklich und selbstkritisch, mal engagiert und mit Nachdruck. Auch ihre persönlichen Erlebnisse spielen eine Rolle.

Ergänzt werden die Berichte durch ­Videointerviews. Da kommen weitere Mitglieder der Familie Arslan zu Wort, auch der ­Anwalt Mehmet Daimagüler, der Opfer im NSU-Prozess vertreten hat. Er beschreibt, wie er damals als erstes türkischstämmiges Mitglied im FDP-Präsidium sich nicht getraut hat, auf Rassismus und rechte Gewalt hinzuweisen. Weil er Karriere machen und nicht riskieren wollte, sich zu blamieren. Falls die Morde vielleicht doch mit einer Auseinandersetzung unter türkischen Kriminellen zu tun haben. Er selbst hat in Gedanken die Opfer zu Tätern gemacht, wie viele andere. Dass Daimagüler sich offen dazu bekennt, löst großen Respekt aus. Wie überhaupt dieses kantige, kompromisslose Dokumentartheater beeindruckt.

„Mölln 92/22“ ist ein Abend voller Menschlichkeit und Wärme, aber ohne falsches Versöhnungskuscheln. Beharrlich arbeitet Nuran David Calis inzwischen über viele Jahre hinweg daran, die Kluft zwischen Migrant:innen und Mehrheitsgesellschaft immer präziser zu beschreiben und Probleme zu benennen. Auch diese Aufführung ist ein Schritt, um sich näherzukommen, nicht mehr und nicht weniger. //

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