She She Pop
Von Generation zu Generation
Mit ihrer neuesten Produktion tanzen She She Pop ein großes Thema aus ihrem Gesamtwerk
von Renate Klett
Erschienen in: Theater der Zeit: Sterne über der Lausitz – Die Schauspielerinnen Lucie Luise Thiede und Susann Thiede (03/2022)
Assoziationen: Theaterkritiken Performance Freie Szene

Einerseits: Wenn sich eine Theatergruppe als Performance-Kollektiv beschreibt, dann kratze ich gleich die Kurve. Grund: zahlreiche läppisch-langweilige Aufführungen, die ich unter diesem Label gesehen habe, und immer brav bis zum Ende. Andererseits: Wenn She She Pop spielt, die sich auch so nennen, dann renne ich gleich hin. Was ist das? Vorurteil, Feigheit oder gar theatrale Dialektik?
Die She Shes sind auch ein Kollektiv, und sie performen, aber sie sind halt aus ganz anderem Holz geschnitzt. Sie lachen, statt zu lamentieren, stehen für gut gemacht statt gut gemeint und überraschen mit immer wieder neuen Themen und der Art, wie sie sie angehen. Gefunden haben sie sich an Andrzej Wirths berühmtem Theaterinstitut Gießen, und sie haben die Normen und Freiheiten der Ausbildung sofort mit ihren eigenen Interessen konfrontiert.
„Es gab eine voll ausgestattete Probebühne, auf der man sich ausprobieren konnte“, sagt Ilia Papatheodorou im Gespräch. „Und man wurde nicht benotet für diese studentischen Arbeiten, konnte sich also frei austoben.“
1993 brachten sie im Rahmen des Studiums das „Mädchenprojekt“ heraus, – so ätzten die männlichen Kommilitonen –, eine „kollektive Biografie“, – so nannten sie es – und gaben dem Generationenporträt den schönen Titel „Sesam, Sex und Salmonellen“. Die vier Performerinnen Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Ilia Papatheodorou und Berit Stumpf sind heute noch Mitglieder der Gruppe. Neu dazugekommen sind im Laufe der Jahre Sebastian Bark, Johanna Freiburg, Fanni Halmburger, und, als Geschäftsführerin, Elke Weber.
In Gießen hatte sich zeitgleich auch eine Männergruppe entwickelt: „Showcase beat le mot“, und manche Veranstalter und Beobachter schürten eine Art Gender-Konkurrenz zwischen den beiden. Aber diesen Wettstreit, wenn es ihn denn wirklich gab, gewann She She Pop mit Leichtigkeit. Sie waren schlicht besser, fantasie- und anspruchsvoller.
Ihre damaligen Grundsätze gelten bis heute: Autobiografie als Inspiration, Feminismus als Grundsatz und ständig sich wandelnde Größe und – ganz wichtig – die Lust am Sein und an der Verwandlung. Außerdem: die Gleichberechtigung aller Mitglieder, alle machen alles – Schreiben, Spielen, Ausstatten, Erfinden, Spott, Selbstironie, Radikalität.
Von den frühen Aufführungen ist mir vor allem eine in Erinnerung: „Warum tanzt ihr nicht?“ (2003). Sie zitiert die Peinlichkeiten, Angebereien und miesen Tricks bei Tanzveranstaltungen, das Publikum sitzt mittendrin mit genauso viel Angst vor den möglichen Entwicklungen, Enttäuschungen und Erinnerungen wie die Performerinnen. Jede kann hier Mauerblümchen sein oder Ballkönigin, wie das Schicksal es will oder die geheime Dramaturgie des Abends. Mal charmant, mal rabiat wird man aufgefordert mitzumachen, und all die Malaisen der Tanzschule, von Schweißhändchen bis Trampelbeinchen kriechen wieder hoch. Aber das Gegenüber ist auch solidarisch ängstlich oder tut wenigstens so, und das Ganze ist immer auch witzig und verrückt. Und intelligent sowieso, wie immer bei SSP. Es ist eine der fröhlich-schrecklichsten Aufführungen der Gruppe. Wer den Mut hatte, sie durchzustehen, hat sie nie mehr vergessen.
Lisa Lucassen beschreibt den She-She-Pop-Arbeitsprozess wie folgt: „Wir einigen uns auf ein Thema, und dann entwickelt jede allein oder gemeinsam ihre Figur und deren Bedeutsamkeit. Aus vielen Puzzlesteinen entsteht so das Narrativ, das alles umfasst und nichts verschweigt. Wir müssen uns nicht gegeneinander durchsetzen, sondern miteinander einigen. Wir sind alle unkündbar, jede kann bleiben, so lange sie will. Wir sind immer Autorinnen, Dramaturginnen und Darstellerinnen zugleich, was große Anstrengung bedeutet, aber auch große Freiheit.“ So haben sie über die Jahre fast 40 Inszenierungen erarbeitet.
Die wohl berühmteste davon ist „Testament“ aus dem Jahr 2010, mit dem schönen Untertitel „Verspätete Vorbereitungen zum Generationswechsel, nach Lear“. Das Stück, bei dem sie gemeinsam mit ihren Vätern auftreten, handelt genau davon, und das in aller Schonungslosigkeit. Alles wird hier verrechnet, Peinliches gegen Gefühlsüberschwang und verjährte Kränkungen gegen verspätete Abbitte, Geld gegen Liebe, und gegen die Kinderlose wird der Enkelfaktor ausgespielt. Alles ist privat und öffentlich zugleich, jede Pflegehandlung wird effizient in Rechnung gestellt. Die Aufführung ist so grausam wie lustig und mutig, und intelligent ist sie allemal. Dass die gemeinsame Arbeit kein Zuckerschlecken war, kann man sich denken, wird aber auch durch die Veröffentlichung der Probengespräche bestätigt. Und wie bewundernswert, dass Väter und Töchter sich dieser Lear-Übermalung stellten! Ein großer Wurf, der mit der Einladung zum Theatertreffen und vielen Festivals weltweit belohnt und mit Preisen überschüttet wurde.
Die große Begeisterung überall hat sicher auch damit zu tun, dass viele Menschen im Publikum vor den gleichen Problemen stehen wie die Performerinnen, sich aber nicht trauen, sie so direkt anzugehen wie die auf der Bühne.
Als ich vor Jahren am Goethe-Institut in Minsk einen Vortrag über neue Theaterformen in Deutschland hielt und dabei viele Szenen aus „Testament“ zeigte, war es erst mucksmäuschenstill im Saal, und dann brach es los: So könne man mit seinem Vater doch nicht umgehen, so herzlos und kalt. Hinterher gab es viele Privatdiskussionen pro und contra. She She Pop gastierte später mit der Aufführung in Minsk und berichtete von großem Jubel.
In „Frühlingsopfer“ (2014) untersuchen die Performerinnen folgerichtig das Verhältnis zu ihren Müttern. War im Väterstück Shakespeares „Lear“ der Bezugspunkt, so ist es diesmal Strawinskys „Le sacre du printemps“. Die Mütter sind nicht live anwesend, sondern tanzen auf riesigen Videoscreens zur Ballettmusik, ungeschult, aber eindrucksvoll. Die Töchter tanzen auf der Bühne mit und verwickeln die Mütter dabei in eine Bestandsaufnahme der Beziehungen. Zwischen Selbstvorwürfen und Aufbegehren, Ausgrenzung und Hingabe entstehen sehr nachdenkenswerte Dialoge über Opferbereitschaft und deren Verweigerung. Das hat bei aller Härte auch viele Momente von Zärtlichkeit und Verständnis. Und die Identifikationsmöglichkeiten des Publikums stehen denen in „Testament“ in nichts nach.
Bemerkenswert ist, dass jedes neue Stück einen neuen Angang hat, ästhetisch wie inhaltlich. Das ist eine Wohltat angesichts der zahlreichen „Rezept-Regisseure“, die nichts anderes tun, als einmal Erprobtes stets neu zu kopieren.
Da ist zum Beispiel „Die Marquise von O.“ (2011), ein Experiment mit nur zwei Spielern, Lisa Lucassen und Sebastian Barg, die abwechselnd aus Kleists Novelle vorlesen und mit hypnotischen Methoden ihre jeweiligen Bewusstseinsebenen demonstrieren. Das Schamhafte wird veröffentlicht, die Schande sehr sachlich zum Angebot erhöht und die Unterworfene zur Siegerin erkoren.
Sich schämen und die Scham zu überwinden, sie als Waffe und Beweisstück einzusetzen, mit dem Publikum zu teilen oder sie als wohlfeilen Besitz zu veredeln, ist ein häufiges Motiv in She-She-Pop-Stücken. Über die Jahre werden sie immer radikaler damit, das Ausstellen von Schamgefühlen wird immer persönlicher und damit ehrlicher, aber nicht narzisstisch. „Die Scham schamlos auszuleben, geht nirgendwo besser als auf der Bühne“, sagt Lisa Lucassen. Das wirkt nie exhibitionistisch oder peinlich. Weil es keine Masche ist, sondern eine Abrechnung. Wer seine tiefsten Ängste offenbart, wirkt nicht narzisstisch.
„Shame Shame Shame“ war Titel ihrer Jubiläumsgala 2018, und eines ihrer überraschendsten Stücke hieß „50 Grades of Shame“, eine wüste Mischung aus Bilder- und Körperwelten. Männerköpfe über Frauenbrüste montiert und literarische Texte (Wedekinds „Frühlingserwachen“) mit pornografischen (von E. L. James) verschmelzend. Intime Beichten und Aufklärungsunterricht, Witze und Zoten, neu montierte Körper und unschuldige Kinderfragen – alles, alles wuselt durcheinander, es ist immer zu viel und zu wenig zugleich.
Das beste Stück über die deutsche Wiedervereinigung, das ich kenne, ist She She Pops „Schubladen“ (2012), in dem drei Ost- und drei Westfrauen in ihren Schubladen herumwühlen und sich dabei gegenseitig auf die Probe stellen. Darin wird Autobiografisches und Politisches, Neugieriges, Vermutetes und Enttäuschtes zusammengebracht. Derzeit denken sie über eine eventuelle Fortsetzung des Themas nach, die sie „Mauern“ nennen wollen.
„Oratorium“ brachte 2018 die zweite Einladung zum Theatertreffen. Das Stück mit dem Untertitel „Kollektive Andacht zu einem wohlgehüteten Geheimnis“ ist ein umfassender Dialog mit dem Publikum, der Eigentum, Geld und natürlich Scham behandelt und sich am Brecht’schen Lehrstück orientiert. Das Publikum wird in handliche Chöre und Interessengemeinschaften aufgeteilt und ficht mit dem Delegiertenchor auf der Bühne einen bizarren Kampf aus um Wohnungsübernahmen, Alleinerziehende mit Geldsorgen, Wohlhabende mit Zweitwohnsitz und alle Stufen und Möglichkeiten dazwischen. Das ist amüsant und bitter zugleich. Man lernt nichts Neues dabei, aber macht sich klar, wie unaufhaltsam diese Schieflagen sich gegenseitig komplettieren, wie sich abstrakte Betroffenheit angesichts konkreten Eigennutzes verkrümelt.
2019 entsteht „Hexploitation“. Wie immer geht die Stückentwicklung vom Autobiografischen aus, diesmal vom Umstand, dass sie nun alle um die 50 sind und sich damit einer neuen Identität nähern. Wo der Geist noch à jour ist, kann der Körper schon schlaff werden. Intime Filmbilder zeugen davon. Alle Skrupel, Übertünchungen und Hexen-Diffamierungen kriechen immer näher heran und werden doch auch selbstbewusst zerfleddert. Altwerden mit She She Pop ist vielleicht ganz schön, denkt frau, während sie verschämt den eigenen Bauchspeck befühlt, den sie für weniger problematisch hält als die Großaufnahme der Bühnenfigur. Und überhaupt können Hexen auch toll sein.
Immer wieder schafft es She She Pop, die eigenen Skrupel und Verzweiflungen so authentisch und dabei selbstironisch ins Publikum zu streuen, dass sich die Zuschauerinnen daran messen können. Diese Identifikation kommt nicht bunt plappernd oder reklameträchtig zustande, sondern aus dem stoischen Vertrauen, dass man sich selbst und das Publikum vielleicht doch aus der Bredouille ziehen könnte. Quod erat demonstrandum.
Aber dann kommt Corona, und alles wird anders. „Alles, was uns an unserem Job nervt, machen wir im Moment viel zu viel: Anträge schreiben, Termine verlegen, und alles, was uns an unserem Job Spaß macht, also: Proben, Aufführen, das machen wir im Moment gar nicht“, seufzt Ilia, „aber das geht ja allen so.“
Sie hatten zuvor auch in Stadttheatern gearbeitet. Mit den Ergebnissen waren sie nicht immer zufrieden, zu fremd der Apparat, zu verschieden die Methoden.
„Am liebsten würden wir immer abwechseln, nicht zwischen Stadttheater und frei, sondern mal wir allein, mal wir mit anderen.“
Ihre jüngste Produktion „Dance Me“ kommt allerdings ein wenig mager daher, obwohl (oder weil) sich alle verausgaben. She She Pop verbindet sich mit jungen Performern der freien Szene zu einer unerbittlichen Dance Battle. Eine Gruppe macht die Musik, die andere tanzt dazu, schweißtreibend, verbissen oder entrückt und hingebungsvoll. Sie kommentieren einander, loben und befragen sich.
„Wir wollen nicht als Generation wahrgenommen werden“, sagen die Jungen, „wir sind alle Individualisten.“ Die Alten hingegen verorten das Generationsgefühl just im Altwerden, weil immer mehr Menschen in ihrem Umkreis verwirrt oder krank werden und etliche sterben. Von solchen Diskursen hätte man gerne mehr gehört, aber die lassen sich eben nicht tanzen. //