Theater der Zeit

Ukraine

Krieg in Europa – auf dem Spiegelfeld der Geschichte

Babyn Jar und Ilya Khrzhanovskys Holocaust-Museumsprojekt

von Elisabeth Bauer

Erschienen in: Theater der Zeit: Frank Castorf – „Wallenstein“ in Dresden (06/2022)

Assoziationen: Europa Dossier: Ukraine

Das „Spiegelfeld“ in Babyn Jar.
Das „Spiegelfeld“ in Babyn Jar.Foto: Elisabeth Bauer

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Als Symbol des „Holocausts durch Kugeln“ stand Babyn Jar schon lange im Zentrum widerstreitender Geschichtsnarrative: Das historische Relief im Kyjiwer Nordosten wurde zur Bühne ­eines – zunächst nur rhetorischen – Kampfes um den „richtigen“ Umgang mit der Geschichte. Mit der russischen Invasion am 24. Februar gerieten die ukrainischen Bloodlands (Timothy Snyder) erneut ins Zentrum zivilisatorischer Kriegsverbrechen; am 1. März wurde die Erinnerungslandschaft von Babyn Jar indirekt von Raketen getroffen, fünf Zivilisten wurden getötet. Die Ukraine und mit ihr Europa stehen einem faschistischen Regime gegenüber, das seine Strategien der verkehrenden Simulation in den vergangenen Jahrzehnten ungestört perfektionieren konnte. Auch Ilya Khrzhanovsky, DAU-Regisseur und künstlerischer Leiter eines umstrittenen Holocaust-Museumsprojekts in Babyn Jar, bedient sich der Kunstgriffe Simulation und Immersion in die Gewalt­geschichte des 20. Jahrhunderts. Sind wir längst im von Jean Baudrillard beschriebenen hyperrealen „Zeitalter des Simulakrum“ angekommen?

„War es hier? Ich gehe durch eine mit Gestrüpp bewachsene flache Landschaft. Die Menschen spazieren, reden, gestikulieren. Ich höre nichts. Die Vergangenheit schluckt alle Laute der Gegenwart. Es kommt nichts mehr hinzu. Kein Raum mehr für Neues“, schrieb Katja Petrowskaja, die ihre mit Kyjiw verknüpfte Familiengeschichte in ihren Roman „Vielleicht Esther“ hat einfließen lassen, über ihren „Spaziergang in Babij Jar“, FAZ, 2011).

Viel zu lange eine Leerstelle auf der europäischen Erinnerungskarte gewesen, sticht der Erinnerungsort aus den von den zivilisatorischen Verbrechen zweier totalitärer Systeme überzogenen Bloodlands Ostmitteleuropas heraus: In Babyn Jar – zu Deutsch: Weiberschlucht – ereignete sich das bis zu diesem Zeitpunkt zahlenmäßig größte, antisemitisch motivierte Holocaust-Massaker: Am 29. und 30. September 1941 vernichteten die Nazis und ihre lokalen Kollaborateure an Ort und Stelle 33 771 Juden und Jüdinnen. Nachdem die jüdische Bevölkerung weitestgehend ausgelöscht war, griff der Massenmord auch auf andere Minderheiten wie Roma, psychisch Kranke, Rotarmisten, ukrainische Nationalisten, Gegner des NS-Regimes sowie einfache Zivilisten über.

Schwarze Erde: Im Zentrum der Bloodlands

Das Gedächtnis von Babyn Jar ist symbolisch schwer beladen – und es ist materiell. Bis zu 200 000 Menschen liegen in jener ­geologischen Vertiefung, in Vorkriegszeiten Teil einer multikonfessionellen Nekropole. Die Körper der Toten haben sich für immer verbunden mit seiner Erde.

Dass der Name Babyn Jar in der vielgelobten deutschen Erinnerungskultur lange überwiegend für Irritation sorgte, bezeugt ihre scheinheilige Lückenhaftigkeit. „Man gedenkt Babyn Jar nicht für die Juden, man gedenkt Babyn Jar für sich selbst, man gedenkt dem Holocaust, weil es Teil der Schaffung einer verant­wortungsvollen Gesellschaft und, hoffentlich, einer zukünftig funktionierenden Demokratie in der Ukraine ist“, mahnte Timothy Snyder 2017 in einer Rede über die deutsche Verantwortung der Ukraine gegenüber im Bundestag.

Angesichts anhaltender politischer Spannungen der vergangenen Monate wurde Babyn Jar erneut auf die Bühne der Geo­politik katapultiert. So wendete sich etwa am 27. Januar, dem internationalen Holocaust-Gedenktag, einer der Oberrabbiner der Ukraine, Rabbi Moshe Azmann, vom schneebedeckten Babyn-Jar-Gelände aus an den russischen Präsidenten: Er solle keinen Krieg mit der Ukraine beginnen, nicht erneut Zerstörung über das Land bringen. Wenige Minuten nach dem Angriff auf den Fernsehturm, der dem Friedhof für Kriegsgefallene und Opfer des Holodomors 1973 aufgesetzt worden war, zeichnete Rabbi Azmann, die Thora unter dem Arm, in einer Kyjiwer Synagoge eine weitere emotionale Nachricht an die russischen Menschen auf: „Leute, stoppt diesen Krieg! Und passt auf, was man euch im Fernsehen erzählt: dort belügt man euch!“ Gerade sei Babyn Jar von drei Raketen getroffen, fünf in nichts schuldige Zivilisten getötet worden – das sei symbolisch. Noch bevor die Gräueltaten von Butscha bekannt wurden, sagte er in einem DW-Interview: „Ich denke, das ist eine Vorwarnung dafür, wohin dieser Krieg noch führen kann. Bisher ist es, Gott sei Dank, noch zu keinen Vernichtungsaktionen gekommen.“

Hyperreal: Modelle des Schreckens

Putins Mythen folgen den Mustern der NS-Propaganda, seine ­Ideen von einer „russischen Welt“ modellieren die Linien des ­nationalsozialistischen „Lebensraums“ nach: Was mit dem symbolträchtigen Raketenangriff auf Babyn Jar begann, hätte mög­licherweise als Ankündigung jener Kriegsverbrechen gelesen ­werden können, die mit den Namen Mariupol, Butscha oder ­Mykolajew auf die abgründigste Art und Weise bestätigt wurden.

Babyn Jar hat für die Genozid- und Holocaustforschung auch ­deshalb zentrale Bedeutung, weil das, was in den ukrainischen Massengräbern seinen Anfang genommen hatte – das systematische, industrialisierte Morden –, als Test für die erst drei Monate später im Zuge der Wannseekonferenz beschlossene „Endlösung der Judenfrage“ angesehen wurde. Das russische Regime nutze den „Nazi“-Begriff als Rechtfertigung für seine genozidale Kriegspolitik und bediene sich einer „amorphen und ambivalenten“ Rhetorik, resümiert Timothy Snyder. Man müsse in der Lage sein, hinter diese Schein-Welt zu blicken.

In ihrer gefährlichen Mehrfachverkehrung evozieren diese Analogien jenen Prozess, für den Alexei Yurchak den Neologismus HyperNormalisation prägte (in: „Everything was Forever, ­Until it was No More: The Last Soviet Generation“, Princeton University Press, 2006). Der britische Filmemacher und Journalist Adam Curtis nahm diesen Begriff auf, um den Hyperrealismus der postkapitalistischen Wirklichkeit zu untersuchen. In einer ­hypernormalisierten Fake-Welt werde Geschichte analysiert und nach Mustern durchsucht, die jetzt passieren, aber Gefahren der Vergangenheit ähnelten.

Geschichte wiederhole sich nicht, sie „reime“ sich, hatte Keith David Watenpaugh, Professor für Menschenrechtsstudien an der University of California, über die Gewaltgeschichte in der Ukraine geschrieben, ebenfalls noch bevor das ganze Ausmaß des Grauens in den rückeroberten Gebieten sichtbar geworden war. Es sind schwarze „Reime“, die dieser Tage in der Ukraine geschrieben werden.

Eine reale, eine imaginierte Ukraine

Kontinuität hat in Russland nicht nur das imperialistische Machtsystem. Auch das russisch-philosophische Denken, auf das sich die Regenten verschiedener Epochen immer wieder beriefen, beruht auf einem dualistischen Prinzip, das strukturell im putin’schen ­System widerhallt: Demzufolge versteht sich die russische Kultur als Antipode des Westens, als transzendentale Umkehrung der ­rationalen, wissenschaftlichen Denkkultur. Dabei sei das Mittel der subversiven Spiegelung, Transformation und Aneignung bestimmter westlicher Strömungen von zentraler Bedeutung, um sie wie­derum „gegen den Westen als Ganzes zu richten“, so der russisch-deutsche Philosoph und Medientheoretiker Boris Groys.

Dieses Denken ist nicht möglich ohne eine imaginierte Grenze, entlang derer die oppositionelle Kultur gespiegelt und umgekehrt wird. In seinem Essay „Die reale und die imaginierte Ukraine“ (2006) schrieb der ukrainische Schriftsteller Mykola Rjabtschuk: „Diese ,zwei Ukrainenʻ existieren nicht neben-, sondern eher ineinander – als zwei Symbole, zwei Möglichkeiten für ihre weitere Entwicklung.“ putins Idee von „Malorossija“, die aus jener Vorstellung einer angeblichen „tiefen Spaltung“ der Ukraine in einen „nationalistischen Westen“ und einen „prorussischen Osten“ schöpft, wurde kürzlich von seiner Behauptung übertroffen, die Ukraine als Ganzes existiere gar nicht.

An der ukrainisch-russischen Erinnerungsfront

Analog zur russisch-ukrainischen Kriegsfront lodert seit Jahren eine aufgeheizte Debatte über eine „ukrainische“ und eine „russische“ Lesart der Geschichte. Über 30 Denkmäler, verschiedenen Opfergruppen gewidmet, wurden seit den Neunzigern in der ­historischen Schutzzone von Babyn Jar aufgestellt. So heterogen wie die Symbollandschaft, so polyphon war lange Zeit auch der ukrainische Erinnerungsdiskurs.

Im Zuge der vorangetriebenen nationalen Selbstidentifika­tion – beflügelt von der Orangenen Revolution und der Revolution der Würde, beschleunigt durch die russische Aggression und den Krieg im Donbass – ist die Ausformulierung einer ukrainischen, sich von einer sowjetischen Perspektive auf die Geschichte distanzierenden Erzählung von essenzieller Relevanz: Als staatliches Organ wurde das Institut für Nationale Erinnerung mit der Aufgabe betraut, ein einheitliches, „anti-kommunistisches“ Erinnerungsnarrativ zu etablieren. Yohanan Petrovsky-Shtern, ukrainisch-jüdischer Historiker und Bruder der Schriftstellerin Katja Petrowskaja, hatte bereits im September 2021 vor einer Invasion und Okkupation Kyjiws, die in Babyn Jar beginnen könnte, gewarnt: Ausgerechnet von einer Erinnerungsinitiative, die von ­russischen und ukrainischen Oligarchen, Präsident Wolodymyr Selenskyi, Bürgermeister Vitali Klitschko sowie viel Prominenz unterstützt wird, sahen ukrainische Historiker:innen die größte Gefahr ausgehen. Putin benutze diese Oligarchen als seine Spielfiguren, argumentierte Petrovsky-Shtern.

Spiegel, Synagoge und Kristall

Das Babyn Yar Holocaust Memorial Centre (BYHMC), das sich seit seiner Gründung 2016 als den Erinnerungsdiskurs dominierende, privat-staatlich finanzierte Initiative herauskristallisiert hatte, setze der Erinnerungslandschaft eine „russische“ Version der Geschichte auf, so die Befürchtung. Als 2019 bekannt wurde, dass der russische Filmemacher Ilya Khrzhanovsky, Schöpfer des dis­kutablen DAU-Filmprojekts, den Posten der künstlerischen Leitung übernehmen würde, waren Protestrufe aus Wissenschaft und ­Medien zu vernehmen; als im April 2020 ein unfertiger Konzeptentwurf durch ein Leak in die internationale Presse gelangte, war zu lesen, Khrzhanovsky wolle die historische Schutzzone Babyn Jar in ein „Disneyland“ verwandeln – viele forderten seinen Rücktritt.

Khrzhanovsky, dessen Mutter selbst jüdische Ukrainerin war, blieb auf seinem Posten. Das Gedächtnis von Babyn Jar solle aus einer Abstraktion in etwas Lebendiges mit emotionaler Wirkung verwandelt werden, ein „Gefühl von Empfindsamkeit und Schmerz für den Verlust der verschwundenen, ermordeten und zerstörten Welt“ – der jüdischen – hervorrufen und eine Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herstellen, konkretisierte er das Grundkonzept.

Diese bühnenartige Verbindung dreier Zeitebenen materialisierte sich als Erstes im „Spiegelfeld“: Dort, wo die topografische Vertiefung noch nachempfunden werden kann, schwebt seit 2019 eine flache, metallene Plattform wenige Zentimeter über der ­fragilen, symbolischen Erdkruste – eine futuristisch anmutende, auditive Rauminstallation. Säulen, bei Dunkelheit von innen ­heraus beleuchtet, ragen baumstammartig in die Höhe. Auf der Spiegelfläche verteilte Löcher sollen das Kaliber der von den Nazis eingesetzten Gewehre abbilden. Es folgte eine „Symbolische ­Synagoge“ aus ukrainischer Eiche – unweit des 1991 eröffneten Menora-Denkmals errichtet –, und zum 80. Jahresgedenken ­Anfang Oktober 2021 wurde die drei Meter hohe „Kristallene ­Klagemauer“ der Künstlerin Marina Abramović eröffnet.

Immersion in die Geschichte

Eine interaktive Plattform überlagert das physische Gedächtnis von Babyn Jar in seiner virtuellen Präsenz: Sie verfügt über eine freie Enzyklopädie, ein Stimmen-Archiv, „die vollständigste Opfer­namenliste weltweit“ sowie digitale Raummodelle des historischen Ortes. In den Monaten vor der Kriegseskalation kündigte ein bedeutungsmächtig über einer Baugrube schwebender Kran das geplante Holocaust-Museum „Kurgan“ an. Ein Bauzaun zeichnete Model­lierungen des vom Berliner Architekturbüro SUB konzipierten ­Mu­seumsbaus nach, in dem die Geschichte der Massenerschießungen mithilfe von 3D-Technologie „reproduziert“ werden sollte. Vor bühnenartigem Grund schrieben sich Spaziergänger und Passantinnen als ob in den aus drei Zeit- und Raumebenen konstituierten Bachtin’schen Chronotop ein – verwandelten sich in Schaustellerinnen jener Alltags-, Museums- und Erinnerungsszenerie.

Die einen kritisieren Khrzhanovsky dafür, dass er sich einer totalitären Rekonstruktion von Geschichte bedient; anderen ist seine interne Arbeitsweise, sein Hang zur Machtkontrolle und als „masochistisch“ empfundenes Interesse an der Gewaltgeschichte der Sowjetzeit nicht geheuer. Die Frage ist berechtigt: Müssen die mit diesem Ort verbundenen Tragödien wirklich realitätsnah ­rekonstruiert werden?

„Jede Generation, jede Zeit hat eine eigene Sprache. Nun kommen wir in eine Zeit, in der wir VR, AI-Technologien, 3D-Modeling und andere technologische Tools haben“, sagte Khrzhanovsky anlässlich des 79. Jahresgedenkens. Erst die Sprache des Virtuellen und Immersiven könne die Menschen des 21. Jahrhunderts wirklich berühren. Widersprechen würde ihm die Erinnerungsforscherin Dr. Jessica Rapson, Autorin einer Anthologie über die „Topographien des Leidens“ (Berghahn Books, New York/Oxford 2015). „Es ist nicht möglich oder wünschenswert, dass der Holocaust für jene ,realʻ wird, die ihn als Geschichte konfrontieren; wir können das ,Holocaust-Universumʻ nicht als gelebte Erfahrung betreten.“

Subversive Simulation: Eine Befreiung?

Geht es Khrzhanovsky um umsichtige Begegnungen mit der Vergangenheit – oder schrille Re-Enactments? Wieso legt ein Mann, der selbst in der Sowjetunion aufgewachsen ist und die sowjetische Mentalität symptomhaft verkörpert, den Finger in ungeheilte Wunden? Wie jeder Künstler wolle Khrzhanovsky uns aus der Gleichgültigkeit reißen, sagte Thomas Oberender in der Berliner Zeitung. „Ilya Khrzhanovsky erscheint mir wie eine dieser Figuren aus Vladimir Sorokins Roman ,Eisʻ, die mit ihrem Eishammer die wenigen noch schlagenden Herzen freischlagen. Aber jeder Vergleich ist falsch. Es geht um etwas Neues“, so der ehemalige Intendant der Berliner Festspiele. „Denken Sie an DAU – da wird nichts mehr ,aufgeführtʻ, die originalen Filme sind ohne Schauspieler gedreht worden. Laien und Experten haben eine Fiktion gelebt, die über die Wochen und Monate und Jahre ihre Wirklichkeit wurde.“

Ein sowjetischer Mensch, sagte Khrzhanovsky im SZ-Interview, sei „eine psychologisch-historisch-seelische Mutation“. Seine Arbeit als Künstler ziele auf die Befreiung und Überwindung der ewigen Repressions- und Gewaltschlaufen. Das die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sprengende Megaprojekt DAU, das im ostukrainischen Charkiw ein sowjetisches Forschungsinstitut samt zeitgenössischem Personal wiederaufleben ließ, war wohl ein solcher Versuch, sich vom Sowjet-Trauma zu befreien. Das ­Sujet des DAU-Streifens „Degeneration“, in dem sich Neonazis mit KGB-Leuten zusammentun und die institutsinterne, Kommunenartig gestrickte DAU-Welt zerstören, wirke vor dem Hintergrund des aktuellen Kriegs wie ein Dokumentarfilm. „Wenn Leute mit dieser Mentalität und ohne Selbstreflexion ­große militärische Macht haben, wird es sehr gefährlich. Das erleben wir jetzt.“

Putins Schein, Putins Fehler

„Any performed reality is based on memory“, schreibt Literaturwissenschaftlerin Carmen Dominte über die „Bühne als Chronotop der Erinnerung“ (2013). Es ist eine Eigenart historischer Textstoffe, dass sie gewendet, gedehnt und an die politischen Utopien und Ideologien der Zeit angepasst werden können. Auf Grundlage historischer Prätexte werden Geschichten der Gegenwart und Zukunft erzählt – sei es in den Schreibstätten politischer Nationbuilding-Kampagnen, den Hinterbüros manischer Autokraten oder den kuratorischen Abteilungen immersiver Museen.

In eklektizistischer Besessenheit nimmt sich putin beliebiger Prätexte an – oder erfindet sie: „Er wird diesen Prätext kreieren, wenn es ihn nicht gibt –, weil er seiner eigenen Logik, nicht der Realität folgt“, sagte Historiker Petrovsky-­Shtern nach dem Angriff. „Wir müssen darüber nachdenken, was putin tun könnte, wenn er realisiert, dass sein geopolitischer ­Mythos nichts als ein Mythos ist.“ Wenn der Westen zögere, einen „Prätext“ für einen möglichen russischen Angriff auf Europa zu liefern, weil es bedeute, Zeichen der „Provokation“ zu senden, dann meine man immer noch, ­putin beschränke sich in seinem Denken auf die reale Welt, er folge den Regeln der Ratio.

„Die Rede ist von einem Präsidenten, der vom Volk gewählt worden ist, wie in demokratischen Gesellschaften üblich, einem Autokraten, Despoten, einem autoritären Herrscher, einem neuen Zaren, einem Diktator, den man in einem Atemzug mit Stalin und Hitler nennen darf – oder auch nicht“, umschreibt Osteuropahistoriker Karl Schlögel putins wechselnde Maskeraden in der NZZ. Auch Vladimir Sorokin, einer der meistgelesenen zeitgenössischen russischen Autoren, warf dem „Monster“ kürzlich in seinem SZ-Gastbeitrag vor, sich als Schein-Künstler aufzuführen: „Er ist kein Schriftsteller oder Künstler, er sollte in der realen Welt leben und für jedes seiner Worte einstehen.“

Fake: Auf der Bühne simulierter Erinnerung

Putins megalomanisches Wunschdenken, als historische Figur und Herrscher einer imaginären „russischen Welt“ – dem heraufbeschworenen „russkij mir“ – Geschichte zu schreiben, ist in ­einen Faschismus mutiert, der sich strukturell an der imperialistischen Nazi-Ideologie orientiert: Das Mantra „Nie wieder“ wurde ad absurdum gesetzt.

In seinem Film über den ehemaligen Theatermacher und Kremlideologen Vladislav Surkov zeigte Adam Curtis 2014, wie dieser die spätsowjetische Propaganda ins 21. Jahrhundert überführt hat. „Sein Ziel ist es, die Wahrnehmung der Welt von den Menschen zu unterlaufen, sodass sie nie wissen, was wirklich passiert.“ Surkov, der 2020 seinen Posten als engster Berater putins räumen musste, habe die russische Politik in ein befremdliches, sich ständig änderndes Theaterstück verwandelt. Wenige Tage vor Kriegs­beginn meldete sich Surkov mit der Vorausnahme eines möglichen „geopolitischen Kontakts“ zwischen russland und der westlichen Welt in Form einer verqueren, abstoßenden Gleichung zu Wort: „Wir sind für Frieden – sollte man meinen. Aber nicht für einen schmutzigen. Für einen richtigen.“

Simulierte „Spiegelfelder“ der Geschichte

Der Versuch, ein neues, immersives ­Holocaust-Gedenken zu ­etablieren, scheint von dem vernichtenden Größenwahn eines verkehrten Diktators, der auf die Subversion der freien, demokratischen Welt und die totale Zerstörung der ukrainischen Nation, Kultur und Geschichte abzielt, überholt worden zu sein. In diesem dissimulierten Weltbild wird Wahrheit als Inszenierung verkauft und die Inszenierung zur Wahrheit erklärt – zugunsten ­einer recycelten „russischen Welt“. Zentrales Unterscheidungsmoment zwischen einer „Theologie der Wahrheit und des Geheimnisses“ und dem Zeitalter des Simulakrum, in dem „alles bereits tod“ und „von vornherein wieder auferstanden“ ist, zieht Baudrillard zwischen Zeichen, die etwas dissimulieren, und jenen, die dissimulieren, dass es nichts gibt. („Agonie des Realen“, Merve, Berlin 1978.)

Es scheint, als fänden wir uns auf der mehrfach gebrochenen Metallfläche des „Spiegelfelds“ – im hyperrealen Geschichtsraum – wieder. Es liegt an uns, alles Mögliche zu tun, um das Unsagbare zu stoppen und uns aus der Simulation zu befreien.

„Jetzt bin ich angekommen in Babij Jar: Ich stehe im Wald, auf dem Baum oben hängt ein Trauerkranz. Wer hat ihn hierhin gebracht? Wachsen die Kränze hier? Ich höre die ferne Straße und weiß nicht wohin – ich gehe einfach weiter.“ (Katja Petrowskaja: „Spaziergang in Babij Jar“, FAZ, 2011) //

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