Theater der Zeit

Festivals

Unter Geistern

Die erste Ruhrtriennale unter der Intendanz von Barbara Frey

von Sascha Westphal

Erschienen in: Theater der Zeit: Volksbühne Neu (11/2021)

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Barbara Frey Ruhrtriennale

Anzeige

Anzeige

Abendliches Licht fällt durch die hohen Fenster in die imposante Maschinenhalle der Zeche Zweckel in Gladbeck. Es taucht die stillgelegte Fördermaschine samt ihren unterschiedlich großen Antriebsrädern in ein abgründiges Zwielicht. Die riesigen Artefakte einer längst vergangenen Zeit der Industrialisierung, die aus dem Boden der Halle herauszuwachsen scheinen, sind das zentrale Bühnenbild-Element in Barbara Freys Adaption von Edgar Allan Poes „Der Untergang des Hauses Usher“. Martin Zehetgruber hat entlang der Maschinenteile nur noch einige Stapel mit Büchern und eine Reihe von Musikinstrumenten platziert. Mehr braucht es nicht, um das Publikum mit dem Unheimlichen zu konfrontieren, in dem sich nach Freud Vertrautes immer mit Unvertrautem mischt.

Es ist eine grandiose Bildsetzung, die Barbara Frey, die neue Intendantin der Ruhrtriennale, für ihre erste eigene Festival-­Inszenierung gewählt hat. Kultur und Industrie vereint in einem gigantischen Raum, der von Verfall und Wandel erzählt. Die Geister der Vergangenheit sind hier noch überaus lebendig, und so wird es auch noch lange bleiben. Das Unheimliche dieses Ortes wird zum Nukleus von Freys Annäherung an Edgar Allan Poes Erzählungen des Schreckens und lässt sich doch nicht ganz von ihnen vereinnahmen. Die Spielstätte behauptet ihre Eigenständigkeit und weist damit über die Inszenierung und die Kunst an sich hinaus. Genau das war gerade in ihren ersten Jahren der Geist der Ruhrtriennale. Ein großes internationales Musik- und Theaterfestival an Orten der Arbeit, die ihre einstige Bestimmung verloren haben.

In den vergangenen Jahren war die Ruhrtriennale allerdings gleich in mehrere Stürme geraten. 2020 hat die Corona-Pandemie den Grund für die Absage des Festivals geliefert, obwohl im Spätsommer die Theater in NRW öffnen durften. Allerdings hatte die damalige Intendantin Stefanie Carp schon vorher keine sehr glückliche Figur gemacht. Die Diskussionen um den BDS und antisemitische Haltungen von Künstlern und Intellektuellen, die im ersten Carp-Jahr das Hin und Her um ein Konzert der schottischen Band Young Fathers und im letzten Jahr die Einladung von Achille Mbembe ausgelöst hatten, haben nicht nur den Blick auf die Kunst verstellt. Sie waren auch eine schwere Belastung für die Ruhrtriennale. Dabei haben sie eigentlich nur ein größeres, weit über das Festival hinausweisendes Problem offen gelegt und einige essenzielle Fragen aufgeworfen.

Welche Rolle spielen persönliche Haltungen und das politische Engagement einzelner Künstler für Häuser und Festivals, die sie einladen? Oder anders gefragt, ist unsere Gesellschaft an einem Punkt angekommen, an dem sie nur noch Werke und Ideen von Menschen akzeptiert, die bestimmte politische und gesellschaftliche Normen einhalten? Bedauerlicherweise sind diese im gegenwärtigen intellektuellen Klima ebenso umstrittenen wie notwendigen Fragen in der aufgeheizten und in Teilen tendenziösen Kontroverse um Stefanie Carp weitgehend untergegangen. Statt einer thematischen Auseinandersetzung kam es zu Scharmützeln um Personalien.

Indem Barbara Frey in ihrer ersten Arbeit für die Ruhrtriennale das Besondere, teilweise sogar Einzigartige der industriellen Spielstätten derart akzentuiert, setzt sie ein sehr deutliches und auch sehr kraftvolles Zeichen. Das Festival kehrt mit ihr zu seinen Ursprüngen zurück, zu Inszenierungen, die man in Gedenken an Gerard Mortier, den Gründungsintendanten der Ruhrtriennale, als „Kreationen“ beschreiben könnte. Arbeiten, die den Ort, an dem sie entstehen, aufgreifen und nicht kaschieren und dabei noch die Grenzen zwischen den einzelnen Genres und Formen verflüssigen. Genau diesem Ansatz folgt Barbara Frey mit „Der Untergang des Hauses Usher“. In den ersten zwanzig Minuten ihrer Inszenierung schlagen zwei Pianisten an ihren Konzert­flügeln parallel die gleichen Akkorde an und arbeiten sich so durch die gesamte Klaviatur, von den schrill-spitzen hohen Tönen zu den dräuenden tiefen Tönen. Es ist ein langer, bewusst enervierender Gang von einem Extrem zum anderen, wobei beide von Unheil und Schrecken künden. Frey etabliert so nicht nur eine Atmosphäre des Unheimlichen, die mit Poes Prosa korrespondiert und den Weg des Abends zwischen Wahnsinn und Tod antizipiert. Sie lässt dem Publikum zugleich auch Zeit, die Welt dieser Halle und die Welt ihrer Inszenierung in sich aufzunehmen.

Die Radikalität dieses (Neu-)Anfangs schwebt sowohl über der Inszenierung, die Poes wohl berühmteste Erzählung mit einigen anderen seiner Werke verschneidet, als auch über dem ­gesamten Festival. Das heißt allerdings auch, dass sich beide, ­Inszenierung und Festival, an dem Versprechen dieser ersten 20 Minuten messen lassen müssen. Wie ihre Adaption von James Joyces „Die Toten“, die Frey am Ende ihrer Intendanz am Schauspielhaus Zürich inszeniert hat und die im Rahmen der Ruhr­triennale als Gastspiel in der Bochumer Jahrhunderthalle zu ­sehen war, ist auch dieser Abend nach Edgar Allan Poe eine quasi in Zeitlupe ablaufende Geisterbeschwörung. Von dem Moment an, in dem das sechsköpfige Ensemble eng aneinander gedrückt von der Seite auftritt und sich im Gänsemarsch durch die Weite der Maschinenhalle bewegt, herrscht ein Ton höchster Künstlichkeit.

Frey sucht nach einem schauspielerischen und choreogra­fischen Äquivalent zu Poes Sprache, die sich immer wieder in Adjektiv-Kaskaden über den Leser ergießt, und findet es in artifiziellen Gesten und manierierten Posen. Das ist reizvoll, weil es das Ensemble vom Zwang realistischer Darstellung befreit und alle direkt aus den Tiefen des Unbewussten schöpfen können, ­verführt aber auch zu Exzessen wie Michael Maertens Auftritt, in dem er als C. Auguste Dupin, der Detektiv aus Poes Kurzgeschichte „Der Doppelmord in der Rue Morgue“, auf höchst outrierte Weise über das Wesen von Scharfsinn doziert und dabei sich und Poes Text der Lächerlichkeit preisgibt. In Momenten wie diesem schlägt Freys radikaler Formwille in eine kunstgewerbliche ­Anstrengung um.

Noch radikaler als Barbara Frey geht Florentina Holzinger zu Werke. „A Divine Comedy“, ihre neue Performance, die Motive aus Dantes „Göttlicher Komödie“ aufgreift, war wohl die Produk­tion des diesjährigen Festivals, die mit der größten Spannung ­erwartet wurde. Und zumindest in einer Hinsicht wurden diese ­Erwartungen auch nicht enttäuscht. Denn die enormen Ausmaße der Duisburger Kraftzentrale haben Holzinger die Möglichkeit eröffnet, ein wahrhaft zirzensisches Spektakel zu inszenieren. Ein Spektakel, in dem sie ganz ihrer Lust an Tabubrüchen frönen kann. Allerdings bricht der Abend ausgerechnet unter der Last sich ständig überbietender Show- und Provokationsnummern in sich zusammen. Was auch immer an kritischen, unsere Zeit und das Theater reflektierenden Überlegungen in diese von Dante inspirierte Reise durch die Hölle, das Fegefeuer und den Himmel geflossen sein mag, verflüchtigt sich schon bald in sportiven ­Anstrengungen, Kunstnebelschwaden und aktionistischem Blut- und Farbgekleckse. Die Bilder sind groß und raumgreifend, zerplatzen aber schneller als Seifenblasen.

Wenn Barbara Freys erste Ruhrtriennale so etwas wie ein Leitmotiv hatte, dann war es das Unheimliche. Es war in Holzingers Show, in deren Zentrum eine hypnotisierte Performerin als Wiedergängerin Dantes stand, ebenso präsent wie in „Bählamms Fest“, Olga Neuwirths „Musiktheater in 13 Bildern“, das von dem britischen Regieduo Dead Centre als ironisches Schauerspiel inszeniert wurde. In einem an englische Moor- und Heidelandschaften erinnernden Bühnenbild lassen Ben Kidd und Bush Moukarzel neben (Frauen-)Mördern und Werwölfen auch noch monströse Superhelden auftreten und holen das von Neuwirth vertonte und von Elfriede Jelinek zugespitzte Schauermärchen Leonora Carringtons in unsere popkulturelle Gegenwart. In schillernden Videoprojektionen beschwören sie weibliche Albträume und männliche Allmachtsfantasien herauf und huldigen zugleich Carringtons surrealen Bildwelten, in denen die Gespenster des Patriarchats und die Monster der (Schauer-)Romatik Hand in Hand gehen. So ist ein eindrucksvoller, bewusst brüchiger Stil- und Genremix ­entstanden, der in seiner Darstellung einer monströsen Familie einen bemerkenswerten satirischen Biss entwickelt.

Um den Horror, der auch ein Teil der Kleinfamilie sein kann, dreht sich auch Gisèle Viennes französischsprachige Perfomance „L’étang / Der Teich“, die auf einem kurzen Drama Robert Walsers basiert. Fritz hat das Gefühl, von niemandem geliebt zu werden, weder von seinen Eltern noch von seinen Geschwistern. Also inszeniert er seinen Selbstmord in einem Teich und beobachtet dann, wie seine Familie reagiert. Vienne verwandelt diese dramatische Skizze zusammen mit den beiden Schauspielerinnen Adèle Haenel und Ruth Vega Fernandez in ein unheimliches Porträt elterlicher Gewalt und kindlicher Verlorenheit. Ganz langsam bewegen sich die beiden Performerinnen durch einen kalten weißen Raum. Dazu erklingen verstärkt und verzerrt die Geräusche, die sie dabei machen. Alles in dieser reduzierten Familienaufstellung ist beängstigend und verstörend. Fritzʼ Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung ebenso wie die gläserne Härte und Kälte der erwachsenen Figuren. Adèle Haenel und Ruth Vega Fernandez spielen zwar keine Gespenster, aber ihr so präzises wie artifizielles Spiel erschafft Menschen, die unter dem Druck der bürgerlichen Verhältnisse praktisch alles Menschliche verloren haben.

Die wohl radikalste Arbeit dieser Ruhrtriennale war zugleich auch die leiseste und zarteste. Für „The Life Work“ hat die Choreografin Mette Ingvartsen eine Art japanischen Garten ins Folkwang Museum hineingebaut. Durch diese Landschaft, die Künstliches und Natürliches auf vertraute und zugleich unvertraute Weise verknüpft, bewegen sich gemessenen Schrittes vier ältere Damen, die schon vor Jahrzehnten aus Japan nach Deutschland gekommen sind. Während vom Band ihre Geschichten ­erklingen, gehen sie meist meditativen Tätigkeiten nach. Nur wenn traditionelle japanische Lieder erklingen, singen sie live mit. Die Musik führt sie für Momente zurück in der Zeit, in ein anderes Land und ein anderes Leben. Ihre Erzählungen von Japan und Deutschland, von Alltäglichem und Weltveränderndem, von ­Fukushima und Corona, von Atombomben und familiären Konflikten sind klassischer Dokumentartheater-Stoff. Aber Mette Ingvartsen verweigert sich den typischen Mustern des Genres und setzt ihnen eine wundervolle, gänzlich unspektakuläre Bewegungs­choreografie entgegen. Wie die ersten 20 Minuten von Barbara Freys „Der Untergang des Hauses Usher“ ist auch „The Life Work“ eine Entdeckung der Langsamkeit und der Kraft, die in ihr liegt. //

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Theater unser"
"Pledge and Play"