Theater der Zeit

Chamäleon Theater Berlin: Magische Welten des Neuen Zirkus

„in_between“ von Circo Aereo – Regie Maksim Komaro, Performance & Choreografie Alyssa Bunce, Vejde Grind, Eetu Ranta, Sini Saari, Anna Shvedkova, Onni Toivonen, Saleh Yazdani

von Tom Mustroph

Assoziationen: Zirkus Theaterkritiken Berlin Chamäleon Theater

Zirkuskompanie Circo Aereo in „in_between“, in der Regie von Maksim Komaro Foto: Andy Phillipson
Zirkuskompanie Circo Aereo in „in_between“, in der Regie von Maksim KomaroFoto: Andy Phillipson

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Maksim Komaro hat seine künstlerische Laufbahn als Magier begonnen. Mit fünf Jahren schon probierte er Zauberkunststücke aus. Die frühe Prägung macht sich auch jetzt bemerkbar, in seinem aktuellen Leben als Regisseur und Gründer der Compagnie Circo Aereo, einer der ersten finnischen Gruppen des Neuen Zirkus überhaupt. Seine sieben Performer:innen hat Komaro zu Beginn der neuen Produktion „in_between“ zu einem Tableau Vivant arrangiert. Teils auf den Füßen, teils auch auf ihren Händen stehen sie da. Die Akrobatin Anna Shvedkova hat sich gar über die Köpfe aller erhoben. Und die Luftartistin Alyssa Bunce scheint ein paar Handbreit über dem Boden zu schweben. Nur mit einem Fuß berührt sie sichtbar den Boden, der zweite ist in die Luft gestreckt, und der Körper in einer solchen Schräglage, dass unmöglich der eine Fuß auf dem Boden ihn halten könnte. Oder vermag er das doch? Oder hilft ein Seil, eine Stütze?

Es bleibt unauflösbar. Das ist es ja auch, was Magie ausmacht: Ein besonderer Wahrnehmungszustand, in den man gerät, wenn die Dinge, die bekannt scheinen, sich plötzlich verändern. Wenn sie Transformationen ausgesetzt sind, die man so nicht erwartet, die wiederum aber doch nicht so fremd sind, dass man sie nicht mit Narrativen in die eigene Vorstellungswelt einbetten kann.

Es ist ein Zwischenzustand, ein „in_between“. Der Titel hält also, was er verspricht. Dieser neuen zusammengestellten Compagnie aus drei Performer:innen aus Finnland, dem schwedischen Cyr Wheel-Artisten Vejde Grind und dem Berliner Duo Anna Shvedkova & Saleh Yazdani gelingt es, ihr circensisches Können immer wieder in etwas zu verwandeln, das Eintritt in Traumwelten eröffnet.

Onni Toivonen etwa jongliert so mit silberfarbenen Keulen, dass sie ihn wie eine glitzernde Lichterscheinung umgeben. Zu einem späteren Zeitpunkt der Show hält er Federn in der Luft, Objekte also mit ganz anderen Flugeigenschaften. Sie verlangen dem Artisten nicht in erster Linie Schnelligkeit ab, sondern animieren ihn zu federhaft leichten harmonischen Bewegungen. So entsteht eine Art Paartanz zwischen Mensch und Federn.

Hoch in die Luft schwingt sich hingegen Alyssa Bunce. Die Luftringe, die von der Decke abgelassen werden, scheinen Leuchtkreise, die die Artistin magisch anziehen. Als Kontrast dazu kann man das dicke Vertikalseil sehen, das für ihre Kollegin Sini Saari inmitten des Zuschauerraums herabgelassen wird. Es ist an einer großen Holzrolle befestigt, die bei jeder Bewegung quietscht, als hätte sie Jahrhunderte lang irgendwo herumgelegen und sei erst jetzt ans Licht geholt.

„in_between“ ist eine eigenwillige Mischung aus analogen und handgreiflichen Elementen einerseits und zarten poetischen Momenten andererseits. Eine solche Mischung suchte auch Regisseur Komaro. „Ich mag sehr die analog erzeugten magischen Effekte des Theaters der 19. Jahrhunderts“, erklärt er Theater der Zeit. Erste Ideen für eine Show im Chamäleon hatte er bereits 2017. Drei Jahre später, eine Förderung musste schließlich akquiriert werden, sollte es ans ernsthafte Produzieren gehen. Dann aber kam die Pandemie dazwischen. Eine schwere Zeit auch für die Compagnien des Neuen Zirkus, denen die Auftrittstermine abgesagt wurden und die Zukunft ganz ungewiss schien. „in_between“, das Dazwischen, kann man auch so deuten. Und folgt man diesem Interpretationsmuster, dann gibt die große Ensembleszene dieser Show einen kräftigen Schub Hoffnung.

Aus einer Salonszene, Jongleur Toivonen fläzt sich in Alltagskleidung in einem aristokratisch anmutenden Ambiente, entwickelt sich eine so kuriose wie Energie geladene Flugshow. Artisten schwingen an Kronleuchtern, vollführen Salti auf Chaiselongues. Sie fliegen sogar durch die elegante Tapete, die den an sich schon kleinen Bühnenraum des Chamäleons noch weiter begrenzt. Circo Aereo baut Bilder auf, und hat dann doch wieder Lust, diese Bilder buchstäblich von der Wand zu reißen. Staunen, Träumen und pragmatisches Wegwischen der Traumgespinste sind in dieser Show vereint.

Die Bewegung des Neuen Zirkus gibt es seit den 1990er Jahren in Finnland. Komaro ist einer der Pioniere. Rückblickend ist es eine Erfolgsgeschichte, allerdings auch eine, die von Kampf geprägt war.  „Als wir anfingen, gab es noch keinerlei Förderung für zeitgenössischen Zirkus, es war nicht einmal als Kunstform anerkannt. Das hat sich inzwischen, nach zehn Jahren harter Auseinandersetzung, zum Glück geändert“, erzählt er. Und mit Blick auf das Land, in dem seine aktuelle Produktion herauskommt, sagt er: „Es gibt keinen Grund, warum das, was in Finnland klappte, nicht auch in Deutschland gelingen soll.“

In Deutschland befindet sich der Zeitgenössische Zirkus noch in einer in_between-Phase, immer stärker als Kunstform anerkannt, aber kulturpolitisch noch längst nicht gleich behandelt im Vergleich zu anderen Kunstformen. Dieses in_between ist allerdings nicht magisch oder zauberhaft, sondern beschreibt lediglich einen Zustand der Rückständigkeit.

Erschienen am 10.3.2023

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