Theater der Zeit

Auftritt

Oberhausen: Granaten in der Highschool

Theater Oberhausen: „Kissyface“ von Noah Haidle (UA). Regie Kathrin Mädler, Bühne und Kostüme Mareike Delaquis Porschka

von Stefan Keim

Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)

Assoziationen: Theaterkritiken Nordrhein-Westfalen Kathrin Mädler Theater Oberhausen

Es ist leicht, den Funken der Gewalt zu entfachen, wenn die Gesellschaft schon von rechtspopulistischem Gedankengut durchseucht ist: Susanne Burkhard in „Kissyface“ von Noah Haidle in der Regie von Kathrin Mädler am Theater OberhausenFoto: Jochen Quast

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Das Publikum sitzt mitten im Geschehen. Das Studio des Theaters Oberhausen ist zur ­Bibliothek einer Highschool geworden. Hier regiert Miss P. zwischen Staub, Regalen und Weltliteratur und kontrolliert, dass niemand Essen oder Getränke in die heiligen Hallen des Wissens schmuggelt. Sie ist die Siegel­bewahrerin der Zivilisation. Ein wichtiger Job, denn draußen bricht ein Bürgerkrieg aus.

Noah Haidle ist in den USA ein erfolgreicher Drehbuchautor, als Dramatiker allerdings vor allem in Deutschland bekannt. Er war auch Hausautor am Nationaltheater Mannheim. Die Kombination verschiedener Genres ist seine Spezialität. Das gilt auch für „Kissyface“, das Stück, mit dem Kathrin Mädler als Regisseurin – nach einem Liederabend – ihre Intendanz am Theater Oberhausen startet. Hier vermengt Haidle Politthriller und satirische Groteske auf sehr unterhaltsame Weise.

Eine Granate fliegt in die Bibliothek. Heldenhaft stürzt sich der sonst nicht wegen übertriebener Geistesstärke bekannte Joey (David Lau) auf die Sprengkapsel und befördert sie nach draußen. Dann explodiert die Turnhalle, und die Hölle bricht los. Schuldirektor Overstreet, den Anna Polke hinreißend durchgeknallt als trumpesken Trottel spielt, zieht in den Krieg gegen eine benachbarte Bildungsanstalt. Der Turnlehrer (Klaus Zwick) entdeckt seine wahre Mission als militaristischer Kanonenfutterlieferant und schickt seine Schützlinge ins Gemetzel. Während Miss P.s Tochter Maude sich vom komplexbeladenen Mäuschen zur aggressiven Amazone verwandelt, was Nadja Bruder mit großartigem Understatement glaubwürdig verkörpert.

Der Humor ist tiefschwarz. Maude kehrt mit einer Sammlung von Skalpen zurück. „Kenn ich jemanden?“, fragt ihre Mutter mit selbstverständlicher Leichtigkeit. Klar, der Therapeut ist darunter. Doch hinter den Gags steckt grimmiger Ernst. Schon bevor der Krieg ausbricht, definiert sich die Highschool über Werte wie Gott, Familie und Vaterland, mit denen die Faschistin Giorgia Meloni ge­rade die Wahl in Italien gewonnen hat. Es ist leicht, den Funken der Gewalt zu entfachen, wenn die Gesellschaft schon von rechtspopulistischem Gedankengut durchseucht ist. Das analysiert Noah Haidle mit bitterböser Ironie.

Eine Klammer des Stücks ist die ­Suche nach Gott. Er spricht seit 2000 Jahren nicht mehr zu den Menschen. Nun, in der Stunde der Not, ändert sich das. Gott will vielleicht nur anders angesprochen werden. So erklärt sich der Titel „Kissyface“. Doch ob die Zettel, die nun aus dem Himmel fallen, wirklich die Rettung bringen, bleibt unklar. Am Ende zieht sogar die von Susanne Burkhard ebenso kraftvoll wie abgründig verkörperte Biblio­thekarin in den Endkampf. Pazifismus ist halt nur in Friedenszeiten schön. Man könnte sich „Kissyface“ leicht als sechsteilige Miniserie auf Netflix vorstellen. Das ist eine Qualität, weil das Stück anschlussfähig scheint für die Streaming-Generation und gleichzeitig genuines Theater ist. Kathrin Mädler findet in ihrer Inszenierung genau den schmalen Grat zwischen stilisierter Komik und einem Rest Glaubwürdigkeit, ohne die einem die Charaktere reichlich egal wären. Ein paar Längen hat der Abend, was dem Ethos geschuldet sein könnte, bei einer Uraufführung möglichst nicht zu streichen. Doch das ist zu verschmerzen, weil „Kissyface“ ein garstig gelungenes Gesellschaftsporträt ist, das nach dem Lachen ein angemessen mulmiges Gefühl hinterlässt. //

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