Protagonisten
Birgit Walter: Versammelte Unschuld
von Thomas Flierl
Erschienen in: Theater der Zeit: Peter Kurth: Die Verwandlung (09/2016)
Assoziationen: Berlin Akteure Musiktheater
Versammelte Unschuld
Skandalöse Fehlentscheidungen begleiten die Sanierung der Berliner Staatsoper. Sie kosten den Steuerzahler mehrere hundert Millionen Euro. Heute debattiert das Abgeordnetenhaus über den Bericht des Untersuchungsausschusses.
von Birgit Walter
Den bundesweiten Hohn für ihre Bauskandale hat sich die Hauptstadt mit langem Atem erarbeitet. Zuletzt untersuchte ein Ausschuss des Abgeordnetenhauses die groben Schlampereien bei der Sanierung der Staatsoper Unter den Linden. Das Ergebnis stellt er jetzt dem Berliner Parlament vor. Er ergründet, warum die Kosten für die Sanierung der Oper Unter den Linden von 239 auf mehr als 400 Millionen Euro stiegen. Warum die Oper zu ihrem ursprünglichen Premierentermin am 3. Oktober 2013 aussah wie eine entkernte Ruine und frühestens vier Jahre später fertig wird, im Herbst 2017.
Die Fakten breiteten die Medien über die Jahre lustvoll aus. Dass aber für das kulturpolitische Desaster kein Mensch Verantwortung trägt, kein Regierungschef, kein Senator, kein Staatssekretär und keine Senatsbaudirektorin, dass sich die millionenteuren Fehlentscheidungen über die Anhebung der Saaldecke und die Grabung eines Tunnels im wässerigen Grund alle im Alleingang ohne Absender auf den Weg machten, das darf man eine mittlere Sensation nennen. Denn anders als beim Drama um den Berliner Flughafen liegt bei der Oper alles in einer Hand. Regierungschef Michael Müller besetzt wie sein Vorgänger Klaus Wowereit gleichzeitig das Amt des Kultursenators. Es gibt keine Gemengelage mit versagenden Baufirmen und schlecht informiertem Aufsichtsrat, nicht mal der Bund als Geldgeber mischte sich ein in den Bauvorgang. Trotzdem scheint dasselbe Bild auf von der organisierten Verantwortungslosigkeit.
Der Vorwurf schreibt sich schnell hin, dabei lässt sich echte Abwesenheit von Verantwortung gar nicht leicht organisieren. Es war die bohrende Beharrlichkeit kompetenter Abgeordneter im Untersuchungsausschuss, die Einzelheiten über solche Verweigerungen zutage förderte. Ein Beispiel: Der damals Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit und sein Kulturstaatssekretär André Schmitz, beide SPD, haben keine Ahnung, dass sie selbst als „Bedarfsträger“ agierten für den Bau. „Der Bedarfsträger ist doch die Oper?“, fragt Schmitz arglos in die Ausschussrunde. Der Grünen-Abgeordnete Oliver Schruoffeneger will nicht glauben, was er hört. „Nein!“, klärt er die damaligen Entscheider über ihre Rolle auf: Es gibt für diese Baustelle drei Akteure. Die Oper als Nutzer, die Bauverwaltung als Bauherrin und die Kulturverwaltung als Bedarfsträger. Nur der Bedarfsträger vergibt Aufträge, nur er entscheidet, was gebaut wird und für wieviel Geld. Schruoffeneger formuliert es in dem 642 Seiten dicken Untersuchungsbericht ausführlicher, aber die Kurzform stimmt auch. So erklärt sich nachträglich, wie die Oper 2013 plötzlich eine neue „innere Gebäudestruktur“ für drei Millionen Euro erhielt, von der die Kultur damals laut Schmitz nichts wusste. Da hatte die Oper ihre Wünsche wohl gleich dem Architekten gekabelt. Ohne lästige Umwege über den Bedarfsträger.
Inkonsequenz, Unzuständigkeit und Interesselosigkeit von Berliner Politikern ziehen sich wie ein Leitfaden durch das Bauvorhaben. Das begann, als Kultursenator Wowereit von der Idee abrückte, seinen drei Opernhäusern zur Vermeidung von Stückdoppelungen klare inhaltliche Profile zuzuordnen. Die Staatsoper als traditionsreichste, aber kleine Bühne sollte das Repertoire von Barock bis Mozart übernehmen, Wagner-Inszenierungen aber eher der Deutschen Oper überlassen. 129 Millionen Euro hätten alten Gutachten zufolge für die Grundsanierung der Oper gereicht. Doch Generalmusikdirektor Daniel Barenboim, einer der wahrhaft Großen seines Fachs, wollte mehr für sein Haus, vor allem bessere Sicht und Akustik. Er zog los und besorgte Geld vom Bund, 200 Millionen. Zur Erinnerung, Steuergeld ist das auch. Aber Barenboim erwartete nun die große Lösung, was sonst. Sieben Jahre Ausharren im Notquartier Schillertheater gehörten nicht zu seinem Vorstellungsvermögen, die Kostenplanung nicht zu seinen Aufgaben. Dies sei nur erwähnt, weil die Oper mit ihren Extrawünschen den Bau eben auch verteuerte. Wer sollte Einhalt bieten? Ein Planänderungsstopp existiert bis heute nicht.
Barenboim wäre allerdings glücklich gewesen, wenn der Sieger des Architekten-Wettbewerbs 2008, Klaus Roth, die moderne Variante eines Zuschauerraums in die Oper hätte einbauen dürfen, für einen Festbetrag. Aber der Senat kippte das Ergebnis seiner eigenen schwammigen Ausschreibung nach monatelangen Diskussionen – das Bildungsbürgertum wollte den alten Neorokoko-Saal behalten. In einer zerstörungswütigen Stadt wie Berlin ein verständliches Anliegen. Wobei es nicht um den Erhalt der Knobelsdorff-Oper von 1743 ging, sondern um den Bau von 1953. Damals hatte Richard Paulick das zerbombte Haus mit kargem DDR-Nachkriegsmaterial in nur zwei Jahren wieder errichten lassen. Was für eine Leistung! Mehr als ein halbes Jahrhundert hielt es durch.
Den Wettbewerbsabbruch begründete der Senat frech mit der Behauptung, die Architekten hätten den Auftrag falsch verstanden und den Denkmalschutz nicht beachtet. Den Denkmalschutz! Immer war klar, dass nur eins geht, die Wahrung des Denkmalschutzes oder eine bessere Sicht und Akustik. Ein Denkmal ist ein Denkmal, weil es bleibt, wie es ist. Wer aber wie der Senat das Raumvolumen eines Saales um ein Drittel vergrößert, die Saaldecke um vier Meter anhebt, also abreißt und neu baut, muss Denkmalschützer aussperren.
So passierte es. Mit dem Ausschreibungsabbruch ging auch der Generalauftragnehmer für die Sanierung verloren, nun musste Berlin selbst bauen. Die Schrecken der letzten Projekte in Berliner Eigenregie waren noch gegenwärtig: Die Akademie der Künste, die Topographie des Terrors, das Tempodrom – alles irrwitzig überteuerte und terminlich aus dem Ruder gelaufene Bauten.
Und es gab kein Anzeichen, dass auf der neuen Baustelle mehr Sorgfalt walten würde, im Gegenteil. Trotz monatelanger Verzögerung durch die Ausschreibung durfte sich der Baubeginn um keinen Tag verschieben. Vor dem Ausschuss erklärt Baudirektorin Regula Lüscher jetzt, dass sie auf einen einjährigen Aufschub gedrängt, Wowereit aber stattdessen „kreative Lösungen“ verlangt habe. Und dann? Sagte die Verantwortliche „nein!“? Dass sie den Bau keinesfalls ungeahnten Risiken aussetzen und erst die Untersuchung des schwierigen Baugrundes abschließen werde, in den sie einen bis zu 17 Meter tiefen Tunnel treiben soll? Alarmierte sie Öffentlichkeit oder Parlament über die Folgen solcher Hast für Kosten und Termine? Dass sie gesetzliche Bauvorschriften ignorieren müsse? Mit keinem Wort. Der Auftrag kam doch vom Regierenden.
Klaus Wowereit dagegen erklärt dem Ausschuss, er habe Fragen gestellt und Wünsche geäußert, sonst nichts. So läuft die Kommunikation unter Chefs. Wie könnte es in deren Verwaltungen präziser zugehen?
Die Dinge nahmen ihren Lauf. Mitarbeiter von Baustelle und Oper erhielten einen Maulkorb. Die Bauarbeiter legten los, als die Planung noch im Gange, der Baugrund nur oberflächlich untersucht war. Beim ersten Baustopp – ein Tresor und Holzpfähle in der Tiefe behinderten die Tunnel-Arbeiten – präsentierte Regula Lüscher aufgeräumt den Winter und die Funde als unvorhersehbare Ereignisse. Klar, wenn man es vor Baubeginn nicht mal ins Landesarchiv schafft, das die Funde verzeichnet, wenn man alte Fachleute von der Baustelle aussperrt, weil sie dringend von dem Tunnel abraten, dann musste alles unvorhersehbar wirken. Und wer versäumt zu prüfen, ob die Nachkriegsmauern unter einem tonnenschweren neuen Dach zusammenbrechen können, ja, den überrascht, wenn er plötzlich zusätzliche Mauern hochziehen muss.
Das 21. Jahrhundert versetzt Fachleute in die Lage, für solche Wagnisse vorab Berechnungen anzustellen. Die gehören zur Wirtschaftlichkeitsprüfung, zum Bedarfsprogramm eines solchen Opern-Umbaus überhaupt. Es wäre abzuwägen gewesen, wie viele zig Millionen Euro der Staat für 0,5 Sekunden mehr Nachhall ausgeben will. Zumal Akustik eine wirklich schwer berechenbare Größe bleibt, die oft künstliche Verstärkung braucht. Der Reisekonzern TUI lässt in neue Kreuzfahrtschiffe Konzertsäle einbauen, deren Akustik Musikern Glückstränen in die Augen treibt. Der rein elektronisch erzeugte Nachhall klingt je nach Bedarf wie ein Kammermusiksaal oder eine Kathedrale. Die Kosten liegen bei 250 Millionen Euro, allerdings gehört dann das komplett ausgerüstete Schiff für 2500 Passagiere dazu, um mal eine Vergleichsgröße zu nennen. In einem solchen Saal hätten Politiker mit Daniel Barenboim über Nachhall-Varianten debattieren können, bevor die Bauarbeiter anrückten.
Verzichtbarer als mehr natürlicher Nachhall bleibt das irrsinnige Tunnelbauwerk. Ursprünglich sollte es den Kulissentransport vom Magazin zur Oper ermöglichen. Doch das Magazin existiert nicht mehr, das Gebäude wurde zur Barenboim-Said-Akademie. Der Tunnelplan blieb. Er dient nur Transporten vom Probesaal zur Bühne. Berlin ließ sich die luxuriöse Bequemlichkeit viel kosten. Und um welche Summen steigen damit künftig die Betriebskosten der Oper? Der Tunnel ist klimatisiert. Die Kulissen werden nun ständig in Lastwagen aus entfernten Lagern herangekarrt. Ha, dieser Frage widmete sich vor dem Ausschuss ausgerechnet Klaus Wowereit, der das Magazin zweckentfremden ließ. Ob die Bauverwaltung nicht die Wirtschaftlichkeit hätte prüfen müssen. Na klar! Nur den Auftrag dazu hätte die Kulturverwaltung auslösen müssen, der Bedarfsträger eben, Wowereit.
Kostenexplosionen bei Großbauten sind nicht gottgegeben. Der deutsche Projektmanager Klaus Grewe koordinierte die Olympiabauten in London von 2012. Die Planer wurden mit allem vier Monate vorfristig fertig und gaben von neun Milliarden eine Milliarde Pfund weniger aus, die Rücklagen. Sie ließen Kosten und Planungen im Internet mitverfolgen. Zu Grewes Arbeitsweise zählt Baukostenehrlichkeit, Transparenz, präzise Risikoberechnung, ausreichende Finanzpuffer und Planungszeit. Berlin praktizierte von allem exakt das Gegenteil. Es verheimlichte Risiken selbst dem Parlament, als ginge es den Steuerzahler nichts an, wo sein Geld bleibt.
Heute diskutiert das Abgeordnetenhaus über den Untersuchungsbericht Staatsoper. Will die Politik endlich aus Fehlern lernen? Der Bericht zeigt das deutlich. Die Regierungsparteien SPD und CDU setzen im Entwurf über 100 Änderungswünsche durch, die zentrale Aussagen „extrem veränderten und verfälschten“, wie die Grünen wütend feststellen. Die Oppositionsparteien Grüne, Linke und Piraten setzen daher eigene Voten dagegen. Damit nicht der Eindruck entsteht, Überraschungsfunde im Baugrund und marode Opernmauern seien Schuld an der absurden Verschwendung. Das haben Berliner Spitzenpolitiker mit Planlosigkeit, Wurstigkeit und Desinteresse ganz allein hinbekommen.
Außerdem erörtert das Parlament am selben Tag das Ergebnis des Flughafen-Untersuchungsausschusses. Wen werden ein paar hundert Millionen Euro in Wallung bringen, wenn es beim Flughafen um Mehrkosten von sechs Milliarden geht? Dabei fänden ein paar hundert Millionen Euro für die dringende Sanierung und den Bau von ein paar hundert Schulen durchaus Verwendung.
Zuerst erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Donnerstag, 23. Juni 2016, Nr. 144, S. 13