Theater der Zeit

Report

Estland: „Lasst die Geschichte in Ruhe und alles, was mit Russlands früheren Siegen zu tun hat!“

Demografie-Performance von Rimini Protokoll „100 % Narva“ an der östlichsten Grenze der EU

von Madli Pesti

Erschienen in: Theater der Zeit: Tarife & Theater – Warum wir das Theater brauchen (02/2023)

Assoziationen: Performance Europa Rimini Protokoll

Foto: Ilia Smirnov

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Das Format „100 % City“ von Rimini Protokoll hat die 41. Stadt seiner Aufführungsgeschichte erreicht – Narva in Estland an der Außengrenze der EU zu Russland. „100 % Narva“ bewegt mich immer noch. Die Äußerungen meiner Landsleute in der Performance bleiben verstörend. Bei der Fahrt im Bus, im Kino, beim Mittagessen, beim Fernsehen. Ich kann es nicht fassen, dass meine Mitbürger sich abwenden bei der Frage, ob sie die „Spezialoperation“ in der Ukraine unterstützen. Oder dass jemand erwiderte: „Hände weg von sowjetischen Denkmalen, lasst die Geschichte in Ruhe und alles, was mit Russlands früheren Siegen zu tun hat!“

Narva hat 53.000 Einwohner und ist die drittgrößte Stadt ­Estlands. Die Grenzstadt liegt zwischen zwei Zivilisationen. Nur ein großer Fluss – die Narva – mit seinen Windungen trennt Estland von Russland, an seinen Ufern liegen sich zwei mittelalterliche Festungen gegenüber. Narva hat eine besondere soziopolitische Bedeutung: Einst berühmt für seine europäische Barockarchitektur wurde die Stadt fast vollständig bei einem ­sowjetischen Luftangriff im Zweiten Weltkrieg 1944 zerstört. Nach dem Krieg wurden Sowjetbürger angesiedelt und heute, fast achtzig Jahre später, sind nur fünf Prozent der Einwohner Esten.

In der schon lange vor dem 24. Februar 2022 geplanten Aufführung sind etwa hundert Leute aus Narva auf der Bühne, ausgewählt nach Geschlecht (55 % Frauen), Alter (8 % unter zehn Jahren), ethnischer Zugehörigkeit (5 % Esten) und Staatsangehörigkeit (35 % Russen, 13 % ohne Staatsbürgerschaft). Bekanntlich sieht das Format ein visualisiertes Frage-Antwort-Spiel vor. Alle Teilnehmer stellen sich kurz vor und antworten dann auf Fragen, die entweder vom Inszenierungsteam vorgegeben oder von ihnen selbst vorgeschlagen wurden.

„100 %“ ist der Idealfall eines politischen community theater. Zu den Zielen von politischem Theater gehört, unterschiedliche Meinungen im Publikum hervortreten zu lassen, die Grenzen des allgemeinen Konsenses aufzuzeigen und sich mit wichtigen kul­turellen, sozialen und politischen Konflikten zu beschäftigen. „100 % Narva“ schafft all das. Wenn zum Beispiel das Publikum die Frage stellt, „Unterstützen Sie die Spezialoperation in der Ukraine?“, wenden die meisten Mitspieler auf der Bühne dem Publikum den Rücken zu, was heißt: „Darauf möchte ich nicht antworten.“ Bei der Frage „Finden Sie Gewalt akzeptabel zum Erreichen politischer Ziele?“ antwortet die Mehrheit der Mitspieler mit Nein.

Die Leute auf der Bühne müssen ziemlich viele Fragen zu Politik und Gesellschaft beantworten. „Wo diskutieren Sie über Politik?” (in der Küche), „Wo sollte der Staat mehr Unterstützung gewähren?” (Bildung und Gesundheit), „Wer von Ihnen gehört einer Partei an?” (nur einer von hundert). Der Wechsel der Fragen und Antworten erzeugt eine Dynamik, die das Publikum aktiviert und zum Nachdenken bringt.

Unter den Fragen an die Einwohner von Narva stechen diejenigen zur estnischen Sprache besonders hervor. Estnisch ist eine kleine finno-ugrische Sprache, die eine große Bedeutung für die estnische Identität hat. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat Estland den Anteil des Estnischen in den Schulen weiter verstärkt. Denn 31 Jahre nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit unterrichten viele Schulen die russischsprachige Bevölkerung auf Russisch. Jetzt wird aber immer mehr verlangt, das Estnische in der gesamten Schulbildung durchzusetzen, was insbesonders in Narva (und im östlichen Teil Estlands) Spannungen auslöst. Das Bild, das die Teilnehmer auf der Bühne verbreiten, zeugt davon, dass Sprache nicht der Schlüssel zur Kultur ist, sondern eine Privatangelegenheit, auf der nicht herumgetrampelt werden sollte. Ein Großteil der Leute auf der Bühne sieht das Estnische als ein Instrument der Unterdrückung. Die Aufführung gewährt indes die Möglichkeit, dass alle ihre Muttersprache sprechen, die absolute Mehrheit also Russisch. Die Übertitel laufen sogar dreisprachig, mit Englisch als zusätzlicher Sprache.

Eine weitere Behauptung, auf die beteiligte russische Muttersprachler in ihrem Abstimmungsverhalten reagieren, lautet, dass die Regierung Estlands die russische Kultur diskriminiere. Die Hälfte der Teilnehmenden auf der Bühne fühlt sich noch dazu vom politischen System als Bürger zweiter Klasse behandelt. Aber warum sprechen sie nicht Estnisch? Die einfache Antwort von fast allen: „Weil jeder andere Russisch spricht. Im Programmheft sagt eine 69-jährige Frau: „Ich kenne gar keine Esten.“ Die Antwort auf die Frage, wofür die Regierung mehr Geld ausgeben sollte, passt da gut rein: das Bildungs- und Gesundheitswesen.

Die Statistiken

Die Narva-Version macht eines sehr deutlich: Die Leute dort wollen nicht über Politik sprechen. Einige Fragen kann Rimini Protokoll gar nicht oder nur in abgemilderter Form stellen, ansonsten hätten sich Teilnehmende geweigert und die ganze Sache wäre ausgefallen. So wurde zum Beispiel die direkte Frage nach dem Angriff auf die Ukraine ersetzt durch die bereits erwähnte Frage, ob politische Ziele mit Gewalt erreicht werden sollten.

Die Bedeutung des community theater besteht darin, dass Leuten eine Bühne geboten wird, die sonst dort nicht repräsentiert werden. In „100 % Narva” konnten auch Ex-Junkies und Menschen mit verbüßten Gefängnisstrafen mitmachen, aber die meisten der hundert Teilnehmenden waren aktive und kreative Menschen – etwa Musiker und Mitglieder von Laientheatergruppen. Diese Art des Theaters bezieht häufig Menschen aus Randlagen ein, geografisch wie sozial. Beide kamen in Narva zusammen – mit der Möglichkeit, den Problemen dieser speziellen Stadt zu Aufmerksamkeit zu verhelfen. Und ihren Bürgern mit dem community theater einen soziokulturellen und künstlerischen Ausdruck zu verschaffen. Genau das ist in Narva gelungen. Das war auch deshalb möglich, weil Rimini Protokoll mit Vaba Lava/Open Space zusammenarbeitete, einem in Narva ansässigen Zentrum für Performancekunst. Dies alles hat zu einem Prozess von mehr Gemeinschaft und Austausch beigetragen, ungeachtet der Schwierigkeiten und Kontroversen, die es dabei auch gab.

Statistik ist ein wichtiger, aber nicht der einzige Aspekt des 100-%-Konzepts. Helgard Haug von Rimini Protokoll meint dazu: „Sie ist ein Schlüssel zum Ganzen, aber wie man damit aus der eigenen Bubble rauskommt, das kann schmerzhaft sein.“ Rimini Protokoll hat sich wohl auch gar nicht so streng an alle Statistiken gehalten. Während fünf Prozent von Narvas Einwohnern Esten sind, sprachen hier nur ein paar junge Leute aus bilingualen Familien in einigen Momenten Estnisch. Auch eine Repräsentation von Menschen mit Behinderung gab es auf der Bühne nicht. Und die Sache wird noch komplizierter, wenn einige sich als Russisch sprechende Esten erklären – eine Kategorie, die es zumindest offiziell gar nicht gibt. Aber genau hier kommt die Kunst ins Spiel. Aus den Statistiken treten Menschen hervor, die ihre ganz eigenen Probleme, Werte und Ansichten haben: Verschuldete, unbekannte Lebensretter, Suizidgefährdete, Hinterbliebene, dazu nicht wenige Nostalgiker, die lieber in der estnischen Sowjetrepublik leben würden, und auch einige Anhänger der Todesstrafe.

Den stärksten Eindruck bei den wirklich schwierigen Fragen hinterließ die Bühne, wenn sie im Dunkeln lag und die Antworten nur mit dem Licht einer Taschenlampe gegeben wurden. „Wurden Steuern hinterzogen?”, „Wer hat häusliche Gewalt erlebt?” Dann auch: „Diskriminiert die Regierung russische Kultur?”, „Ist es falsch, sowjetische Denkmale abzubauen?” Viele Taschenlampen leuchten. Auch bei der Frage, ob das eigentlich verbotene russische Propaganda-Fernsehen geschaut wird. Die meisten würden sich sonst in der Öffentlichkeit aus Angst vor den Konsequenzen nicht so bekennen. Aber hier gibt es sogar Applaus aus dem Publikum dafür. Es sitzen viele Familienangehörige der Teilnehmenden in den Reihen, eine fast geschlossene Gesellschaft der Zustimmung zu diesen Fragen. Aber eben auch: community-building. Ich fühle mich als theaterenthusiastische Besucherin aus Tallinn beinahe ausgeschlossen. Da kommt die nächste Frage: „Woher beziehen Sie Ihre Nachrichten?” Fast alle lesen Nachrichten nur noch in sozialen Medien. Die natürlich Bubble-bildend sind.

Der Narva-Graben zwischen Einheimischen und dem Rest des Landes wird so überdeutlich. Im Programmheft bekundet eine 61-jährige Frau aus Narva: „Für mich ist die Nation der Esten wie ein fünfjähriges Kind. Sie ist noch ganz klein. Da fallen mir die Ohren ab, wenn ich an meine Mutter denke. Aber so ist die Regierung hier.“ Einige Teilnehmende der performten Bühnendemoskopie sehen sich ausschließlich als Lokalpatrioten Narvas und haben für das Land sonst nicht viel übrig. Aber es gibt vereinzelt auch andere Stimmen wie die einer 68-Jährigen im Programmheft, das als kleines Taschenbuch zum ganzen Projekt gehört: „Ich liebe Estland, habe dem Land viel zu verdanken.“

Als die Frage nach dem Jahr 2022 und wie es das Leben verändert hat gestellt wird, antworten die meisten, dass sie sich nicht länger sicher fühlen – wenngleich in widersprüchlicher Reaktion, weshalb. Wird die Zukunft ganz anders? Nur eine Person sagt: „Ich möchte, dass es bleibt, wie es ist.“ Zehn der Beteiligten, da-runter Kinder, bejahen die Angst vor der nahen Zukunft. So geht es auch mir mit dieser Inszenierung: Ich empfinde sie als aufrüttelnd, verstörend. Dieses „100 % Narva“ hat eine großartige Dramaturgie für intensive Gefühle. Die Zusammenarbeit von Rimini Protokoll und Vaba Lava hat einmal mehr gezeigt, wie dieses besondere Konzept gesellschaftliche und persönliche Stimmungen erforschen und in einer künstlerischen Form zur Aufführung bringen kann. Die hier vielleicht sogar eine intensivere Erweiterung des Bisherigen von „100 % City“ werden konnte – oder auch musste.

Ausblick

Die Produktion kam in Estland zur absolut richtigen Zeit heraus, wenn man sich anschaut, welche Entwicklungen das dokumentarische Theater hier genommen hat. Ein Trend war ohnehin, dass sich sowohl Theatermacher als auch das Publikum für reale Geschichten von Menschen interessierten. Das hat sicher damit zu tun, dass man sich unmittelbar in der Wirklichkeit mit Personen verankern will, mit ihren Problemen, ihrem Leben. Aber es gibt im Theater hier eben auch Impulse von außen, so wie Rimini Protokoll seine spezielle Methode mit besonderer Sensibilität auf einen problematischen Ort in Estland anwendet. „100 % Narva“ geht mit einer Entwicklung in Estland zusammen, da sich das Theater besonders mit den Belangen von Gemeinschaften und ihren individuellen Geschichten beschäftigt. Eben Formen von community theater, die es in den vergangenen Jahren auch in Narva gegeben hat. Fast alle Projekte wurden von dem wirbligen Großakteur Vaba Lava produziert, etwa die Klassismus-kritische Besichtigung von Wohnungen bei „People and Numbers“ von Birgit Landberg oder der Parcours von den Chrustschowka-Plattenbau-Ruinen der 1960er zum Pool am Townhouse der Immer-oben-Schwimmenden.

Insofern ist Rimini Protokoll mit „100 % Narva“ in seinem forschenden, aktivistischen Moment ein Theater der Zeiten­wende – in einem Theaterland mit offenen Grenzen und russland-distanzierter Zukunft.

 

Aus dem Englischen von Thomas Irmer

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