Theater der Zeit

Auftritt

Bremen: Stalin am Telefon

Theater Bremen: „Leben und Schicksal“ nach dem Roman von Wassili Grossman. Bearbeitung und Regie Armin Petras, Bühne Peta Schickart, Kostüme Cinzia Fossati

von Peter Helling

Erschienen in: Theater der Zeit: Barbara Mundel – Stürzende Gegenwart (12/2022)

Assoziationen: Bremen Theater Bremen

Alexander Swoboda, Julischka Eichel und Robert Kuchenbuch in „Leben und Schicksal“ nach Wassili Grossman in der Regie von Armin Petras am Theater Bremen.
Alexander Swoboda, Julischka Eichel und Robert Kuchenbuch in „Leben und Schicksal“ nach Wassili Grossman in der Regie von Armin Petras am Theater Bremen.Foto: Jörg Landsberg

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„Die Ukraine ist besetzt“, sagt Abartschuk, politischer Häftling in einem sibirischen Lager. „Von den Deutschen“, setzt er nach kurzem Luftholen nach. Sätze wie diese – und an diesem Abend fallen viele davon – werfen grelle Schlaglichter auf unsere Gegenwart. Auch wenn sie schon 1960 geschrieben wurden und eine andere Zeit meinen, sind die Orte heute omnipräsent. Wassili Grossman hat in seinem Roman die Jahre 1941 bis 1943 in der Sowjetunion in eine große, packende Erzählung verwandelt. „Leben und Schicksal“, was nicht zufällig nach Tolstois „Krieg und Frieden“ klingt: Das Buch wurde erst 1988 in der Sowjetunion zugelassen, weil es Parallelen zieht zwischen Stalins und Hitlers Terror. Armin Petras hat ­daraus einen wuchtigen Theaterabend gemacht, ein Stück mit drei Hauptsträngen. Abartschuks Lageralltag, die Schlacht von Stalingrad aus der Perspektive russischer Partisanen und die Geschichte des fiktiven jüdischen Nuklear­forschers Viktor Strum. Strums Arbeit in Moskau läuft Verdacht, Stalins Ideologie zu widersprechen. Die Inhaftierung ist nur eine Frage der Zeit.

Der Tod, die Angst sind allgegenwärtig, immer wieder lacht man darüber hinweg, kocht sich Wurst oder zündet sich eine Kippe an. Jederzeit könnte ein Lebensfaden reißen, es herrschen Verrat und Missgunst. Und so inszeniert Armin Petras ein beinahe vierstündiges Ensemblestück, das die Balance zwischen Abgrund und Erlösung spielerisch halten kann. Eingerahmt wird es von einem Brief von Viktor Strums Mutter aus einem ukrainischen Ghetto, kurz vor ihrer Erschießung. Sie, eine Jüdin, wird Opfer des „Holocaust durch Kugeln“ und spricht die Sätze ins Parkett. Eine Parallele zu Wassili Grossmans Biografie.

Szene für Szene ziehen die Spieler:in­nen einen roten Samtvorhang auf und wieder zu, tragen Möbel herein und wieder hinaus; so entsteht das Stück aus dem Prozess heraus, nicht als effektheischendes Illusions­theater. Alexander Swoboda spielt Viktor ­Strum als großen Jungen, der mit kindlicher Begeisterung an seine Forschungsarbeit geht, die Orden klimpern an seiner Brust. Seine Frau Ljudmila: Fania Sorel macht aus ihr das nervöse Zentrum des Theaterabends, eine russische Grande Dame, deren Welt zerbricht. Auch wenn sie immer wieder wegknickt, als verlöre sie den Boden unter den Füßen, ist sie Viktors Halt, während ihr erster Ehemann, eben jener Abartschuk, im Lager versauert. Ferdinand Lehmann spielt ihn als fast hiob­mäßig Gepeinigten mit entstelltem Gesicht, körperlich und kraftvoll.

Die Familiengeschichte blättert sich vor einem modernen Haus auf Stelzen auf, einem von allen Seiten einsehbaren Gebilde, durch das es zieht (Bühne: Peta Schickart). Es dreht sich, Nebel kommt von der Seite, gelbes Licht suggeriert Feuer, mit heftigen Detonationsgeräuschen wird der Krieg an diesem Abend zum Hauptdarsteller: als Zitat, nie als naturalistische Behauptung. Die fiebrigen, per Live-Videos auf das Haus projizierten Szenen der Partisanen in Stalingrad, die umstellt sind vom deutschen Heer, sind so dicht, dass es schmerzt. Und so lösen sich die Erzählstränge ab, verweben sich und kulminieren schließlich in einer Szene kurz vor der Pause: Ljudmila Strum fantasiert ihren im Krieg gefallenen Sohn Tolja herbei, „du hast selig gegrunzt, nachdem ich dich gestillt hatte“, und dieser tritt nackt und blutüberströmt neben sie. Diese Szene vor einer nüchternen weißen Wand prägt sich ein.

Im Kostümbild von Cinzia Fossati haben die Figuren etwas Sepiafarben-Historisches, aber nur angedeutet. Die Figuren sind in jedem Moment von heute. In fast dokumentarischer Klarheit sieht man Generalfeldmarschall Paulus kurz vor dem Angriff auf Stalingrad in den Stuhlreihen im Parkett. Karin Enzler spielt ihn als bürokratischen Befehlsempfänger, in Schwarz, ohne einen Hauch „teuflischer Nazi“. Überhaupt ist dem Abend hoch anzurechnen, dass er weder Nazi-­Embleme, Stiefelgetöse noch ähnlichen historischen Mumpitz auffährt. Stattdessen wird in zerfetzten Schwarz-Weiß-Comics das Elend der Schlacht zur gespenstischen Bleistift­skizze. Mehr braucht es nicht.

Wie die Handlung sich bis ins Jahr 1943 hin verdichtet, wie Stalin und Hitler als unsichtbare Schatten den Abend überragen, ist ein Ereignis. Die darunter sich windenden menschlichen Kreaturen – wobei, eine Katze gibt es auch – halten sich an kleinsten Hoffnungen fest. Und wenn Stalin höchstpersönlich am Telefon ist, ist das so, als bekäme man einen Anruf von Gott. Viktor Strum macht daraus eine todkomische chaplineske Nummer. Auch Ljudmilas Schwester Genia, wiederum gespielt von Karin Enzler, ist hier unbedingt zu erwähnen, eine quicklebendige moderne Frau, die an einer zweifachen Liebe scheitert: zwei hohe Offiziere, der eine geächtet, der andere hochdekoriert. Das Ensemble spielt erstklassig, hochpräsent. Miles Perkin und Johannes Haase an Geige und Kontrabass erzeugen dazu ein zittriges Klangfeld, verhaucht, zart, kratzend, wieder brachial.

Das Stück wirkt heutig, weil es das Heute auslässt. Man darf es sich denken, man empfindet es ganz automatisch. Nach der Pause geht der Inszenierung leider der Atem aus. Wie oft bei Romanadaptionen wird hier noch der kürzeste Erzählstrang zu Ende erzählt. Leider. Dieser erzählerische Fleiß läuft der – bei aller Schwere des Themas – großen Leichtigkeit des Abends zuwider: Ein Walzer von Viktor und Ljudmila nach Stalins Anruf genügt, um das Stück zu einem Tanz der toten Seelen zu machen. Die sich ihre Freiheit ertrotzen. //

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