Theater der Zeit

Auftritt

Magdeburg: Die Wehmut in den Straßen

Theater Magdeburg: „Die Stadt der Fahrraddiebe“ (UA) von Hakan Savas Mican. Regie Hakan Savas Mican, Bühne Sylvia Rieger, Kostüme Miriam Marto

von Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Wie es euch gefällt – Christian Friedel vertont Shakespeare (12/2016)

Assoziationen: Theater Magdeburg

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Der am Berliner Maxim Gorki Theater arbeitende Regisseur und Autor Hakan Savas Mican hat ein Stück über Magdeburg geschrieben und dafür das sozio-ästhetische Know-how von seinem Stammhaus sowie dem davor, dem Ballhaus Naunynstraße, mitgebracht. Das betrifft sowohl die Arbeitsweise, sich über persönliche Geschichten der Darsteller und eigene Recherche dem Gegenstand zu nähern, als auch die Form: eine recht lockere Collage mit Musik und einer Videoebene zu verbinden, die weitgehend Magdeburger Stadtlandschaften zeigt. Mican ist ausgebildeter Filmregisseur.

Das Erstaunliche bei dieser Arbeit ist, wie das etablierte Genre Stadtporträt, oft als knackige Revue inszeniert, zu einem poetischen Gebilde aus Stimmungen und Mentalitätslagen umgeformt wird, das zwar keine richtige Geschichte und auch nicht die Geschichte der Stadt erzählt, aber doch so etwas wie einem roten Faden durch die Gegenwart folgt. Dem Regisseur ist die vielleicht unbekannteste Landeshauptstadt Deutschlands – die sich derzeit dennoch als Europäische Kulturhauptstadt ins Spiel bringt – offenbar nicht vertraut. Er nimmt zunächst das Motiv der Leere auf, ein Vakuum in dieser seit dem Zweiten Weltkrieg mehrfach umbrochenen Stadt, das zugleich auch an jenes Vakuum der Halbkugeln Otto von Guerickes erinnert, der als Physiker und Ikone Magdeburgs weithin bekannt ist. Auf der Bühne muss dieser leere „Raum“, durch den die Elbe fließt, gefüllt werden. Mit der Personifizierung des Flusses (Susi Wirth), die einem traurigen Entertainer (Cornelius Gebert) den Selbstmord verwehrt, wird auf Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ angespielt und so ein Grundton gesetzt. Diese Stadt kennt außer einer in sie eingesunkenen Wehmut auch krasse soziale Geschichten, die nun mit der auf die Bühne gezogenen Schauspieler-Band erzählt werden sollen.

Der Titel bezieht sich auf Magdeburg als Stadt mit den pro Kopf meisten geklauten Fahrrädern. Ein Polizist (Timo Hastenpflug) gibt aber auch Auskunft, dass hier die Aufklärungsquote besonders hoch sei – jedes fünfte Fahrrad findet zu seinem Besitzer zurück. Diese Bemerkung ist gleichsam der statistische Mehrwert einer kleinen Geschichte, in der ein von Marie Ulbricht wunderbar gespielter Hassan (Syrer, seit einem Jahr in der Stadt) den Diebstahl seines Fahrrads anzeigen will, während eine forsch-lebenslustige junge Frau (Pia-Micaela Barucki) von dem cowboyhaften Polizisten träumt, vor allem, weil sie aus der Stadt weg will – überall dorthin, wo nicht Magdeburg ist. Die sechs Spieler legen sich in dem Geflecht ihrer dahindriftenden Figuren mächtig ins Zeug. Es gibt einen beeindruckenden Wut-auf-alles-undalle-Monolog von Hassan; ein irritierendes Familienbild eines arabischen Mannes und einer deutschen Frau, dargestellt von zwei Schauspielerinnen, sodass es zugleich mit der Gender-Thematik spielt. Dazu noch den deutschen Mann (Amadeus Köhli) als biedere statistische Summe von Größe, Gewicht, Vorlieben und in seinem Alter schon so und so vielen erschlafften Erektionen. Das Neubaugebiet Olvenstedt und die neue Mitte, hier der Hasselbachplatz, sind die Gegensätze, aus denen Mican sein Geflecht webt.

Die Bühne von Sylvia Rieger besteht im Wesentlichen aus feinem Nebel und einer fahrbaren Insel für die Band, zu der sich die Schauspieler zeitweise formieren. Fast transparente weiße Tücher dienen den Videoprojektionen von Guillaume Cailleau, auf denen eine zumeist leer wirkende Stadt zu sehen ist, in der nur die parkenden Autos von ihrer Bewohnung zeugen.

Am Ende wird die Elbe als in der Zukunft vertrockneter Morast beschworen – eine Art Klima-Entropie Magdeburgs, um im physikalischen Bild der Halbkugeln zu bleiben. Das ist für ein Stadtporträt doch recht ungewöhnlich, und man nimmt von Micans Inszenierung mit, dass hier eine Stadtuntersuchung im größeren Format versucht wurde, auch wenn vieles nur angerissen und wie gebremst wirkt. //

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