Protagonisten
Die Unnützen und die Gekränkten
Straßenszenen aus dem Lockdown
Erschienen in: Theater der Zeit: Der Lieblingsfeind steht links – Über Theater und Polizei (12/2020)
Assoziationen: Akteure
Sonntagabend, kurz vor dem Lockdown, findet in Berlin ein paradoxes Schauspiel statt. Trotz steigender Corona-Zahlen ist die Stimmung auf der Straße prächtig. Die ganze Stadt scheint auf den Beinen, und auch wir sind unterwegs, um noch einmal ins Kino zu gehen, bevor alles schließt. Auf dem Weg dorthin passieren wir etliche Clubs, aus deren provisorisch aufgestellten Zelten laute Elektromusik wummert, dem Gegröle nach zu urteilen begeistert gefeiert von einer nicht gerade kleinen Masse Mensch. Ich denke noch: Tu es nicht! Und doch sehe ich, wie mein Arm emporschießt und empört auf die jubelnde Menge deutet: How dare they? Wie können sie nur? Schon ist es geschehen.
Für Bertolt Brecht bildete die Straßenszene das Grundmodell epischen Theaters. Eine Person beobachtet einen Unfall und berichtet später hinzugestoßenen Passanten davon. Allein den Vorgang konkret zu beschreiben, ist in der Regel kompliziert genug. Doch bei diesem Unfall namens Corona sind wir immer auch Teil des Straßengeschehens. Das Virus, sagt der bildende Künstler Mark Lammert in dem aktuellen Journal der Akademie der Künste, stelle eine „globale Gleichzeitigkeit“ her, die uns „letztendlich in eine gemeinsame soziale Erfahrung“ zwingt. Ohne Probenzeit werden wir so zu Protagonisten eines Theaterstücks, dessen Regisseur, welch Kränkung der Menschheit, ein pathogener RNA-Haufen...