Auftritt
Landestheater Eisenach: Kammerspiel mit Musical
„Cabaret“ von John Kander und Fred Ebb – Regie Jule Kracht, Ausstattung Ursula Bergmann, Musikalische Leitung Eva Gerlach-Kling und Stefan Kling, Choreografie Luches Huddleston Jr.
von Michael Helbing
Erschienen in: Theater der Zeit: Tarife & Theater – Warum wir das Theater brauchen (02/2023)
Assoziationen: Musiktheater Thüringen Theaterkritiken John Kander Fred Ebb Jule Kracht Landestheater Eisenach

Kein Gin im Haus? Dann eben Prärieauster! Aber auch nur die ganz einfache, zudem alkoholfreie Variante: rohes Ei, Worcestershire-Sauce. Fertig!
Das kommt in jeder „Cabaret“-Inszenierung vor. Steht ja so im Text: wenn sich die britische Nachtclubsängerin Sally Bowles im Sturm einen Platz im engen Berliner Pensionszimmer des amerikanischen Schriftstellers Clifford Bradshaw erobert – sowie in dessen Herzen. Nur, dass nicht alle „Cabaret“-Inszenierungen nach Prärieauster schmecken, einige gar zum Champagner tendieren.
Anders im Landestheater Eisenach: Dass sie dort dieses unverwüstliche Musical wagen, bedeutet subjektiv eine außergewöhnlich große Eigenproduktion für das Haus; objektiv ist es eine vergleichsweise kleine. Sie nehmen dafür, was zur Hand ist, machen aus der Not eine Tugend.
Die Besetzung verlangt im Kern drei Damen und vier Herren, dabei sind sie im Jungen Schauspiel, einer von noch zwei hauseigenen Sparten, nur zu sechst. Also engagieren sie einen Gast hinzu. Was die Nebendarsteller dies- und jenseits des Kit Kat Clubs betrifft, sind acht Ballettkollegen mit von der Partie, auch singenderweise. Und es gibt keine Band. Die fusionierte Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach war für den Abend wohl indisponibel. Stattdessen zwei Konzertflügel auf der Vorbühne: daran links Stefan Kling (L’art de passage), rechts Eva Gerlach-Kling. Sie sorgen mit der heutzutage üblichen reduzierten Orchesterfassung Chris Walkers, die sie sozusagen noch mal reduzierten, für transparenten und pointierten Klang.
Kein Orchestergraben muss überwunden werden, was schonmal für eine besonders nahbare Aufführung sorgt. Spartenchefin Jule Kracht macht aus ihr das Gegenteil der großen Show, wie sie zum Beispiel gerade André Kaczmarczyk aus Eisenach als Regisseur und Conférencier in Düsseldorf nachgesagt wird. Sie macht daraus: konzentriertes Kammerspiel mit Kammermusik. Das funktioniert alles in allem sehr gut.
Der Kit Kat Club ist ja schließlich kein Revuetheater. Und Berlin kennt, zumal zu Beginn der 1930er Jahre, nicht nur Prachtboulevards. Schon insofern kommt die Inszenierung gewissermaßen schäbig auf die angemessene Weise daher; sie hätten durchaus noch heftiger am Lack kratzen können.
Über allem prangt der Schriftzug „Cabaret“, nicht „Kit Kat Klub“ (so wie übrigens auch in Nurkan Erpulats Weimarer Inszenierung). Das ist hier besonders sinnfällig, übersetzen sie uns darunter doch das Musical-Motto „Life is a Cabaret“ in eine Theater-auf-dem-Theater-Bühne, hinter deren Vorhang sich das Leben abspielt, mit Wänden, die sich zu Türen aufdrehen lassen. Hier haben sie Fräulein Schneiders Pension verortet, in der das Private gegen seinen Willen allmählich nicht mehr umhinkommt, politisch zu werden.
Sally Bowles sträubt sich bis zuletzt dagegen, singt aber „Mein Herr“ im Soldatenmantel mit Hakenkreuzbinde: neben „Maybe this time“ die stärkste Nummer von Linda Ghandour, die im Liza-Minelli-Look auftritt, ohne eine Sally von der Stange zu sein, deren kraftvolle Jazzstimme sich nur vereinzelt in eine klassische Kopfstimme retten muss und die spielerisch eine breite Stimmungspalette bedient, allerdings noch etwas mehr ausflippen könnte.
Der Conférencier spaziert mit der sprichwörtlich weißen Westen auf nacktem Oberkörper über den sinnbildlichen Rinnstein der braun und immer brauner werdenden Stadt. In der Vorstellung, die der Kritiker sah, sprang für den erkrankten Ole Riebesell Nick Körber mit exzentrischen Entertainerqualitäten ein; er war mit der Rolle in Annaberg-Buchholz erfolgreich gewesen.
Dass Lisa Störr aus dem jungen Ensemble ungebrochen die alte Jungfer und Pensionswirtin Schneider spielen muss, noch dazu am Gehstock, irritiert ein wenig. Sie könnte diese Travestie mehr als solche ausspielen, nimmt indes die Rolle aber wie selbstverständlich an und füllt sie aus. Ihr zur Seite ein tatsächlich älterer Herr: Fritz Peter Schmidle, der Gast, markiert den jüdischen Obsthändler Schultz als komischen Kauz.
Aus der Not eine Tugend machen, heißt für die Kinder- und Jugendsparte Eisenachs auch, dem regulären Abendspielplan Schauspiel zuzuarbeiten, den der Rudolstädter Kooperationspartner mit im Schnitt vier mal sechs Aufführungen pro Saison nicht vollständig bedienen kann. Daraus ist im Fall von „Cabaret“, mit konzeptionellem Verstand und heißem Herzen, ein bemerkenswertes Kleinod aus ganz eigenem Recht erwachsen.