Theater der Zeit

Anreise oder Der lange Weg zu Fritz

von Michael Laages und Wolfgang Behrens

Erschienen in: Fritz Marquardt: Wahrhaftigkeit und Zorn (07/2008)

Assoziationen: Sprechtheater Theatergeschichte Fritz Marquardt Berliner Ensemble

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Die letzten zwei Kilometer sind stets ein Abenteuer der speziellen Art. Die Federbeine ächzen, die Ölwanne fürchtet sich, die ganze High-Tech-Kiste schaukelt wie früher die Mistkarren, die womöglich über dieses unsortierte Katzenkopfsteinpflaster gezogen worden sein mögen; von Pferden, an deren Hufen später der Schmied seine Freude gehabt haben dürfte. Fritz sagt, dass das Stückchen »Straße« von Wolfshagen her nach Amalienhof vor allem gelitten habe unter den Ketten der Panzer, die hier bei nächtlichen Übungen durch die Felder lärmten. Aber der Reihe nach.

Wie oft hat er uns die Wege erklärt, die hierher führen - zum Beispiel so: bei Gramzow runter von der Autobahn, dann durch Prenzlau hindurch und beim alten Stadttor (die alte Mauer ist auch noch zu sehen) links, auf der 198 bleiben. Dann kommt auf dem Weg Richtung Woldegk als größere Gemeinde vor Wolfshagen nur noch Dedelow; und auf die finale Rüttelstrecke geht's rechts ab in Wolfshagen - staunenswerte Attraktionen: die Kirche, die so hell beige gestrichen ist, dass sie schon kilometerweit vorher über die Hügel der Uckermark leuchtet, und ein Fischerhaus mit halbrundem Dach. Alternative: auf der Autobahn bleiben, die Stadtdurchfahrt Prenzlau meiden, am neuen Kreuz Uckermark Richtung Neubrandenburg, Rostock und letztlich Lübeck; und dann bei Strasburg Richtung Woldegk, auf halber Strecke wiederum links ab Richtung Amalienhof. Aber hier sind die letzten Kilometer das noch weit größere Abenteuer. Und es sind mehr. Erheblich mehr.

 Dann das Ziel, in Amalienhof und am Dorfstraßenschild: hier geht's rein. Geschafft. Vielleicht steht Fritz am Tor, vielleicht schneidet er auch gerade ein bisschen an der Hecke rum. »Beschäftigungstherapie«, sagt er. Weit weg ist er hier von allem. Eines Tages hat er für den Besuch aus der Stadt in seinem Atelierzimmer oben im Haus ein Arrangement aus Fund- und Kunst-Stücken vorbereitet: eine Wurzel darunter, glatt und schön gewachsen wie Ebenholz. Er hat sie kaum bearbeiten müssen. Er arbeitet viel in und nach der Natur. Unter dem Fenster nach Südwesten, für die Sonne mittags und nachmittags, stehen die Figuren aus Ton und Erde, liegt das Kunsthandwerkerbesteck, mit dem er für sich die Natur und ihre einfachen Schätze bearbeitet. Hier hängen auch die Erinnerungsfotos aus mehreren Jahrzehnten Theater. An den Wänden die Bilder des Malers Marquardt, die es nur hier, nur bei ihm zu Hause zu sehen gibt. 

Beschäftigungstherapie? Viel mehr als das - dies sind die anderen und ebenso künstlerischen Seiten eines Einzelgängers, dessen Fundus ja nie nur das Theater war. Auch das lernen wir in den Tagen bei Fritz. Wir: zwei Wessis, Herausgeber eines Buches über einen, der unter Ossis: korrekt unter Theatermenschen aus den neuen Bundesländern (und zum Teil auch darüber hinaus), einen ganz außerordentlichen Ruf genießt; einen, den seine Zeitgenossen und Weggefährten, immerhin die Meister und Größen des Theaters in der DDR und alle im Weltmaßstab viel berühmter als er, als unanpassbar und unbestechlich erfahren haben, als nicht vereinnehmbar für Spielchen und Strategien mit der Macht oder gegen sie, als Findling im politischen Strom der Zeit, in dem andere wie kleine Kiesel mal hierhin, mal dorthin gespült und schließlich ganz rund geschliffen worden sind. Wo er diesen unbeirrbaren Eigensinn her hat? Gewiss, das lernen wir, aus einer Biographie, die niemals hingeführt hätte zur Kunst, ins Theater, wenn nicht der Krieg und der utopienreiche Beginn der DDR sie unabwaschbar gezeichnet hätten.

So einen, und so etwas, hatten wir nicht drüben, zwischen den Kortners, den Zurückgekehrten, und den Käutners, den Dagebliebenen. Wir beide, die Herausgeber, haben ihn fremd und eigenwillig kennen (kennen!) gelernt: Wolfgang erlebte Fritz Marquardt anno 1990 in Frankfurt am Main bei dem Festival »Experimenta 6«, das ganz auf das Werk Heiner Müllers fokussiert war und wo Germania Tod in Berlin in Marquardts Regie gastierte. Bei einer Podiumsdiskussion trat Fritz als lautstarker und wild auf den Tisch schlagender Müller-Kritiker in Erscheinung, der dem theaterlebenslangen Freund vehement vorwarf, die eigene DDR-Biographie wegleugnen zu wollen; eine Idee, auf die Fritz nie gekommen wäre. Michael hat nur die späten Inszenierungen am Berliner Ensemble gesehen - Eyolf aber vor allem; und zwar ganz vorne auf der Sesselkante sitzend. Danach hat er sofort einen Freund angerufen, der gerade in Kalifornien zum engeren Kreise der Müller-Berater gehörte und mit für dessen Rolle als alleinverantwortlicher BE-Intendant plante. »Macht nichts ohne Fritz«, hat Michael dem Freund in der Fremde gesagt. Später hat Müller den Auftrag erteilt, Widder im Dornbusch, Marquardts einziges Stück (großer) Literatur, für die Bühne zu bearbeiten; und für die Uraufführung durch Fritz selbst. Die Bearbeitung gibt's, die Uraufführung durch den Autor gab es schon nicht mehr.

Aber so weit sind wir noch gar nicht. Jetzt sind wir erstmal da. Angekommen. Artus, der ungestüm kommunikative Dalmatiner, soll gefälligst die Fremden nicht anspringen (tut er aber gelegentlich doch, und das ist auch gar nicht so schlimm), Fritz führt uns zielstrebig hinauf unters Dach, Dorit hat sofort Kaffee parat und wird später jeweils fabelhaftes Mittagessen auftischen, teilweise mit Zutaten aus dem eigenen Garten, mal auch Hering, wie Fritz ihn macht. Dann erzählt Fritz, vermutlich so viel wie selten zuvor; immer in Sorge, dass er sich doch eigentlich an gar nichts erinnern könne, schon gar nicht an Namen - dann aber mit staunenswerter Genauigkeit en gros und en detail. Wobei die natürlich weder garantiert werden kann noch selbstverständlich ist - wir befinden uns im Steinbruch der Erinnerung, und also bewegen wir uns immer auch auf unsicherem, bröckelndem Grund. Aber wir sprechen ja auch nicht für die Wissenschaft, wir sprechen über ein Leben, das in außerordentlicher Konsequenz und Geradlinigkeit vorangegangen ist; Umwege und Irrtümer inklusive. Abweichende Meinungen und Ansichten über die Dinge selbstverständlich auch - und wenn Fritz etwas nur vermutet, setzt er gern ein »wahrscheinlich« dazu. Das klingt zuweilen gefährlich ironisch.

Was unsere Arbeit nachher war? Vor allem: eine Geschichte zu bewahren, eine Lebens-, Theater-, Kulturgeschichte, wie sie sich in einem fast vergessenen Land abgespielt hat, der Deutschen Demokratischen Republik. Fritz Marquardt ist ein Teil von ihr, sogar ein wichtiger - im Einverständnis wie im Widerspruch. Ansonsten haben wir organisiert - wer Fritz schon vorher kannte, weiß, dass er generell nicht viel sagt; und wenn, dann gern auch fragmentarisch. Wir haben nach den Gesprächen mit ihm und den Abschriften folgend zusammengefügt, was zusammengehörte, ergänzt, was offenkundig gemeint war, wir haben lesbar gemacht, was zuvor nur hörbar war. Wie übrigens auch bei vielen der Weggefährten, die über Marquardt Auskunft geben mochten - einige haben selber geschrieben, andere haben uns ihre Gedanken im Gespräch anvertraut; und also: vertraut. 

Dafür danken wir. Es ist für Fritz. Wir stehen am Beginn eines Lebens.

Die Herausgeber, im Juli 2008

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