III. Arbeitsfelder
Spielen um zu leben – Leben, um zu spielen
Ein Gespräch mit Gisela Höhne, Mitbegründerin und künstlerische Leiterin des „total verrückten Theaters Ramba Zamba“
von Dietmar Sachser, Marianne Streisand und Gisela Höhne
Erschienen in: Lektionen 5: Theaterpädagogik (10/2012)
Assoziationen: Berlin Theaterpädagogik Akteure RambaZamba Theater
Dietmar Sachser: Frau Höhne, Sie arbeiten seit nunmehr über zwanzig Jahren mit ganz besonderen Schauspielern. Können Sie Ihr Kunstverständnis beschreiben?
Gisela Höhne: Kunst ist immer schon Reflexion über die Gesellschaft. Für mich bedeutet Kunst auch die Freiheit des Ausprobierens, der Entwürfe, der Projektionen. Wolfgang Heise sagte, dass Theater „immer Laboratorium der sozialen Phantasie“ sei. Das heißt, gefahrenfreies Ausprobieren und Vorstellen von Möglichkeiten, die auf der Sehnsucht nach Verbesserung des Zusammenlebens, des Lebens überhaupt basieren, auch auf Utopien. Natürlich auch als Selbstverständigung. Ich wähle die Kunst, um mit etwas, das ich verstehen möchte, besser umgehen zu können. Insofern ist der Kunstbegriff für mich sehr weit gefasst. Und hinzukommt – mit das Wichtigste – eine Form von Reflektiertheit; sonst könnte man ja sagen, in einem ganz weiten Sinn ist alles Kunst. Oder um mit Beuys zu sprechen: „Jeder ist ein Künstler.“ Für mich gehört zum Kunstverständnis, dass der gestaltende Vorgang bewusst stattfindet. Das bedeutet nicht, dass der Gestaltende eine Ausbildung haben muss, denn es kann ja durchaus sein, dass man auch ohne jede Ausbildung einen Entwurf, eine Projektion herstellt, die künstlerischer Natur ist. In der Auseinandersetzung damit, worin die Unterschiede bestehen, stellt sich die Frage: Wann sind unsere Schauspieler Schauspieler und wann stellt man Behinderte auf der Bühne aus? Das ist eine ganz wichtige Frage, sie stellt sich immer wieder, wenn man gültige Kriterien sucht. Beim letzten Festival „No Limits“ – ein integratives Theaterfestival, das alle zwei Jahre in Berlin stattfindet – gab es ein wichtiges Symposium, bei dem es um den Schauspieler ging. Wir haben den Begriff der schauspielerischen Kompetenz hinterfragt. Es ging dabei um das bewusste Spielen.
Marianne Streisand: Also das „Kunstwollen“?
GH: Ja, eine Ansage wie „pass mal auf, wenn die Tür aufgeht, gehst du dahin und wirfst einen Ball“ und deren Ausführung hat in der Regel noch nichts mit schauspielerischer Kompetenz zu tun.
DS: Sie legen großen Wert auf die Ausbildung Ihrer Schauspieler, insbesondere auch auf Sprecherziehung. Wie bilden Sie diese Kompetenzen aus?
GH: Es war ja ein fortwährender Prozess, ein Wachsen mit den Leuten, die kamen, und von denen ich anfangs noch nicht wusste, was sie können. Ich habe mit Körperarbeit begonnen. Nicht mit der Stimme, sondern mit dem Körper. Monatelang. Später habe ich ein bisschen spielerisch improvisiert, Szenen, dies und jenes, immer neugieriger werdend. Aber zunächst standen Fragen im Vordergrund wie: Wer bin ich, was macht mein Körper, wo ist diese Seite, wo ist die andere Seite? Wie fühlt es sich an, wenn ich gerannt bin; wie fühlt es sich an, wenn ich den anderen berühre? Es gab etliche Schauspieler, die wollten sich überhaupt nicht berühren lassen. Dieses ganze Grundtraining habe ich relativ lange gemacht, auch immer aufs Neue wiederholt. Inzwischen nimmt es nur noch einen kleinen Teil der Arbeit in Anspruch, weil wir mittlerweile einfach so viel produzieren. Aber die Grundlage ist da.
Es war natürlich völlig klar, dass wir kein dialogzentriertes Theater machen können. Bei unserem ersten Stück, Ein Winternachtstraum, habe ich darauf geachtet, dass man Passagen versteht, und einige Schauspieler konnten ja auch sprechen, aber es war anfangs noch nicht so, dass man an der Sprache professionell gearbeitet hat. Ich habe vielmehr den Gestus mit ihnen erarbeitet, und so ist es auch ein sehr poetisches, schönes Stück geworden. Es wurde damals ein großer Erfolg bei einem Gastspiel am Deutschen Theater Berlin.
Das Körpertraining haben wir in der Ausbildung beibehalten, doch zunehmend haben wir dann Sprechübungen hinzugenommen, immer verbunden mit konkreten Produktionen. Die Sprache abstrakt zu beginnen, hätte nichts gebracht. Erst, als sie schon zwei, drei Stücke gespielt haben, da wussten sie, ich muss schreien können, ohne dass die Stimme kaputt geht, ich muss flüstern können, damit ich den Inhalt des Textes treffe.
Ich organisiere vor jeder Vorstellung ein Warm-up mit den Akteuren, leite eine volle Probe an, und bei diesen Gelegenheiten habe ich mehr und mehr die Sprecherziehung, die ich aus meiner Schauspielausbildung kannte, einbezogen.
DS: Was ist denn das Spezifische an der Arbeit mit den Menschen, mit denen Sie arbeiten? Der Regisseur Sebastian Schlösser hat ein wunderbares Buch über seine manisch-depressive Erkrankung geschrieben, Lieber Matz, Dein Papa hat ’ne Meise. Er spricht nicht nur von seiner bipolaren Störung, sondern auch von einer bipolaren Begabung. Gibt es da ein Äquivalent? Das Up-and-down-Syndrom?
GH: Es ist sehr schwer, diese Begriffe genau zu fassen, weil das stets auch eine Reduzierung darstellt. Die einen sagen, das sind „emotionally advanced people“, die anderen sagen „people with special needs“, und wieder andere, sie haben auch „special needs“. Und es ist auch nicht jeder der Menschen mit geistiger, psychischer oder ähnlicher Behinderung „emotionally advanced“. Es kommt immer wieder ein Begriff auf, der auch angefochten wird, den man aber einmal beleuchten sollte: Authentizität. Was ich damit verbinde, ist die große Fähigkeit der Schauspieler mit Down-Syndrom, wirklich ganz in diesem Moment in der Geschichte zu sein. Es kommt ganz selten vor, dass sie spielen und dabei an etwas anderes denken, schon gar nicht, wenn sie etwas entwickeln. Die spielen mit völliger Hingabe! Und gleichzeitig haben sie die Fähigkeit, leicht auszusteigen. Das ist doch eine schauspielerische Kompetenz! Sie können dann auch an beliebigen Stellen unterbrechen und sagen: „Nimm doch mal das Löwenfell hier weg, das lag doch hier nie.“ Dann spielen sie mit der gleichen Intensität weiter.
MS: Wie ist das Verhältnis zwischen alten und neu hinzukommenden Schauspielern bei Ramba Zamba?
GH: Im ganzen Theater sind im Moment etwa ein Drittel neue Schauspieler. Wenn ich von meiner Gruppe ausgehe, dann sind hier alle ganz aufgeschlossen. Ich habe allerdings auch eine relativ homogene Gruppe, in der überwiegend Menschen mit geistiger Behinderung sind. Das ist in anderen Gruppen schon ein bisschen schwieriger. Aber sie sind alle sehr offen. Diejenigen, die schon länger hier sind, zeigen und erklären den anderen vieles. Dadurch, dass sie Vorbild sein können, weil sie schon so lange Theater spielen, lernen die Neuen immer ganz schnell.
MS: Ich kenne noch die Zeit, in der darum gekämpft wurde, dass eine Anerkennung als „Werkstatt“ möglich wird. Wie kam es dazu?
GH: Das „Ur-Ei“ war ja damals der Zirkus. Es war mein letztes Studienjahr; ich hatte gerade ein bisschen Zeit und ein Angebot gemacht, mit den Kindern der Förderstätte, in der mein Sohn war, ein bisschen Theater zu spielen. Und zwar Zirkus – also das war mir schon klar! Ich war so entsetzlich unzufrieden mit der Förderung. Dann kam alles schnell ins Rollen: Wir haben zusammen Zirkus gespielt, sind balanciert, haben Löwenstall gerochen, wilde Rollen auf die Matte gelegt und eine komplexe Ballnummer einstudiert. Das hat durch die große Konzentriertheit der Kinder auf ihre ganz einfachen Kunststückchen gut funktioniert. Das war es eigentlich, diese große Hingabe an eine so einfache Sache, die aber für sie sehr schwer war. Irgendwann ist Klaus Erforth dazugekommen und hat noch ein paar Kostüme und Scheinwerfer vom Deutschen Theater mitgebracht, so hat er noch etwas mehr Glanz in den Zirkus gebracht.
Mit der Wende haben wir dann erst einmal den Verein „Sonnenuhr“ als „Haus der Begegnung“ gegründet. Kunst gehörte von Anfang an als Zentrum dazu. Zeitgleich haben wir die „Lebenshilfe Ost“ gegründet. Sehr schnell haben wir gemerkt, dass alle unsere in „Sonnenuhr“ geplanten Angebote, also Begegnung, Reiten, Schwimmen, die Elternsprechstunde etc., von der Lebenshilfe sehr gut abgedeckt wurden. Und so konzentrierten wir uns auf das Feld der Kunst. Hier lag die größte Brache, in Ost wie West. Es ging um das Recht begabter behinderter Menschen auf Ausübung ihrer Kunst ohne therapeutischen Rechtfertigungszwang. Vor diesem Hintergrund habe ich mit der Theatergruppe 1991 angefangen und im selben Jahr ist das erste Stück entstanden. Über den großen Erfolg im ausverkauften Deutschen Theater Berlin, auch in den Medien, war ich total überrascht. Einmalig, dachte ich. Danach habe ich mich mit den Schauspielern getroffen und mit ihnen Kaffee getrunken – sie haben sich sofort beschwert und gesagt, dass sie aber nicht Kaffee trinken, sondern proben wollen! Erst zu diesem Zeitpunkt bin ich dazu gekommen, darüber nachzudenken, dass hieraus auch etwas Langfristiges entstehen könnte. Und dann, ja dann ging das immer so weiter. Das zweite Stück war Ein Winternachtstraum. Auch das war wieder ein großer Erfolg, sodass wir noch ein Drittes gemacht haben, Kaffee Leben und Tod. Das war schließlich der Durchbruch mit über fünfzehn Gastspielen und ständig ausverkauftem Haus. 1993 haben wir das jetzige Theater auf dem Gelände der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg bekommen. Das war aber nur ein leerer Pferdestall, den wir sukzessive ausgestattet haben. Jetzt ist es ein richtiges kleines Theater mit Scheinwerfern, Boxen, Pulten und sogar Rauchklappen.
Am Anfang kamen die Schauspieler immer nur in der Freizeit an einem festen Termin pro Woche. Dann, je näher die Premiere kam, mussten wir öfter proben, in den letzten acht Wochen jeden Tag. Wir haben um Freistellung der Schauspieler gekämpft, das waren immer unglaublich anstrengende Auseinandersetzungen mit den Werkstätten. Sie haben in der Werkstatt sieben Stunden gearbeitet, fuhren dann eine Stunde durch Berlin, dann drei Stunden Probe und fuhren schließlich glücklich nach Hause. Es wurden immer mehr Stücke, hinzukamen zweimal im Monat Vorstellungen am Wochenende. Und von den Urlauben haben sie nie die vollen sechs Wochen genommen, sondern waren immer zwei, drei Wochen im Theater zu Endproben.
2000/01 haben wir die erste Förderung vom Berliner Senat bekommen und sind seither auch das einzige Theater in ganz Deutschland, das eine institutionelle Förderung durch die Kulturverwaltung erhält. Diese ist zwar überhaupt nicht ausreichend, aber trotzdem einmalig! Dann wurde uns gesagt: Schließt euch einer Werkstatt an, die bereit ist, künstlerische Arbeitsplätze einzurichten, damit die Schauspieler aus der Doppelbelastung herauskommen. Diese Werkstatt wurde auch gefunden und es wurden zunächst zwanzig, dann dreißig und inzwischen sechsunddreißig Arbeitsplätze für die Kunst durch die Senatsverwaltung für Soziales eingerichtet. Unsere Schauspieler dürfen also nicht irgendwelche Schrauben drehen, sondern erarbeiten sich ihr Entgelt mit künstlerischer Arbeit. Das ist ein großer Vorteil für die Schauspieler, weil sie nicht mehr in zwei verschiedenen Jobs arbeiten müssen.
MS: Wie entstehen Bühnenbild und Kostüme bei Ramba Zamba – und wie gestaltet sich die Themenfindung?
GH: Bühnenbild und Kostüme, das sind zwei verschiedene Bereiche, aber sie entstehen auf ähnliche Weise. Wir fangen an, miteinander zu reden; ich habe seit fünfzehn Jahren dieselben Mitarbeiter. Das ist zum Beispiel Angelika Dubufe, die früher auch in Karl-Marx-Stadt und in Potsdam Bühnenbildnerin war. Sie hat seit 1995 die Bühnenbilder für alle meine Stücke gemacht.
Die Themen kommen nicht direkt von unseren Spielern. Das habe ich noch nie erlebt, dass sie sagen, komm, wir machen das und das. Ich kann hier natürlich auch nicht auf einem sehr hohen intellektuellen oder ästhetischen Niveau anknüpfen. Viele haben die Seifenopern, die sie sehen, oder irgendetwas Vergleichbares im Sinn. Harry Potter würden sie sofort machen oder Herr der Ringe, so etwas würde von ihnen kommen. Ich will einmal die Nibelungen mit ihnen machen, das ist dann ja so ähnlich. Irgendwer sagte einmal: „Ein Thema liegt auf der Erde.“ Es ist im Raum.
MS: Das Thema ergibt sich also verstärkt aus dem Interesse der Spielleiter und bildet sich dann in den Improvisationen der Gruppe heraus. Wie aber gestaltet sich das Fixieren mit Blick auf die Aufführungen?
GH: Das geht ganz gut. Wir schreiben ja immer mit. Inzwischen sprechen die Schauspieler bei uns so viel, dass es gar nicht immer möglich ist, alles festzuhalten, aber so gewinnen wir das ganze Material und irgendwann mache ich ein Stück daraus. Das wird dann erarbeitet, also sozusagen zusammengenäht. Ein Problem ist, dass unsere Spieler vieles irgendwann gar nicht mehr wiederholen können. Dann ist es plötzlich nicht mehr möglich, Sätze zu sagen, die sie aus der Situation heraus spontan, deutlich klar und verständlich gesagt haben. Man versucht dann, die Situation neu zu schaffen, und manchmal sagen sie diesen gleichen, tollen, witzigen Satz noch einmal. Man muss auch mal auf etwas Schönes verzichten, bekommt dann aber wiederum Neues und Anderes. Manche Schauspieler können sehr gut fixieren, andere wiederum können sich die Abläufe sehr gut merken. Aber um diese Qualität immer wieder herzustellen, muss man jedes Mal wieder neu „zünden“. Das ist ja klar, denn jeder Schauspieler ist einmal besser, einmal schlechter drauf.
DS: Wie wirkt sich diese Art künstlerischer Arbeit auf den Alltag der Menschen aus, mit denen Sie arbeiten?
GH: Man kann auf jeden Fall zuverlässig sagen, dass sie selbstständiger werden, tatsächlich auch reflektierter und selbstbewusster. Auch vermeintlich banale Dinge werden anders eingefordert, zum Beispiel, dass das Abendbrot dann gemacht wird, wenn sie nach Hause kommen. Oder dass es eine vernünftige Tasche mit Rollen gibt und nicht einen schweren Rucksack, wenn sie zu einem Gastspiel reisen. Sie sind auch stolz, weil sie wissen, dass sie Schauspieler sind. Eine sehr interessante Beobachtung ist außerdem, dass sie in partnerschaftlichen Verhältnissen offenbar viel besser zurechtkommen. Ich kenne eine Wohngemeinschaft, die fast ausschließlich aus Leuten von uns besteht. Die Lebenshilfe hat gesagt, dass sie so etwas noch nicht erlebt hat. So klar und gut organisiert.
MS: In einem Gespräch mit Studierenden haben Sie einmal gesagt, dass Ihr Theater nichts mit Therapie zu tun hat. Sehen Sie das immer noch so?
GS: Ja, nach wie vor. Ein Beispiel: Eine Schauspielerin, die sich beißt, wenn ihr etwas nicht passt, macht das nach wie vor. Deshalb kann sie aber trotzdem Schauspielerin bei uns sein. Wobei jeder künstlerische Prozess therapeutische Nebeneffekte mit sich bringt. Und das gibt es bei uns natürlich auch. Ich freue mich über jeden positiven Nebeneffekt, aber es geht uns wirklich um Theater. Wenn es anders wäre, hätte ich mich zur Therapeutin ausbilden lassen. Aber ich wollte gerne Theater machen. Ich wollte diesen Verein, diesen Zirkus und dann das Theater Ramba Zamba. Es war am Anfang nicht klar, wohin die Reise gehen würde, sondern der Weg hat sich nach und nach herausgebildet und weiterentwickelt. Und das finde ich auch ganz schön, es ist jetzt immer noch so. Ich bin jetzt verstärkt auf der Suche nach einer Form, wie es weitergehen kann, wenn ich mich in einigen Jahren mehr und mehr aus dieser Arbeit zurückziehen werde. Ich bin jetzt 63 Jahre alt und könnte noch lange arbeiten. Aber man muss auch daran arbeiten, dass man entbehrlich wird.
DS: Frank Castorf sagte einmal, Ramba Zamba sei „das einzige Theater, das ohne Sinnkrise auskommt“. Ist das so?
GH: Ja, wir fragen uns nie, warum wir spielen und wofür. Sie spielen alle um ihr Leben. Sie leben, um zu spielen.
Dr. Gisela Höhne, Jahrgang 1949, ist Schauspielerin, Theaterwissenschaftlerin und Regisseurin. Sie ist künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin am Theater RambaZamba in Berlin, das sie 1991 mitgegründet hat. Mit ihrer ganz eigenen Ästhetik setzte sie mit ihrem Ensemble in Deutschland einen Maßstab für die Theaterarbeit mit und von Menschen mit Behinderung.