Theater der Zeit

Auftritt

Berlin: Wenn der Freitag sein Kleid in die Wolken schlägt

Theater Thikwa: „Vertigo“ von Max Edgar Freitag und Frank Schulz. Regie Gerd Hartmann; Rambazamba Theater: „Superforecast“. Idee und Fassung Steffen Sünkel. Regie Jacob Höhne

von Dorte Lena Eilers

Erschienen in: Theater der Zeit: Vorwärts immer, rückwärts nimmer – Schwerpunkt Klassismus (02/2021)

Assoziationen: Theater Thikwa RambaZamba Theater

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„Alles Gute kommt von unten“, sagt Max ­Edgar Freitag. Und schon steht die Welt kopf. Vertigo nennen Mediziner den Zustand, wenn das Bild vor dem eigenen Auge plötzlich kippt, Räume sich anfangen zu drehen und Böden in rasender Geschwindigkeit auf einen zustürzen. Wer lange genug auf die an der Bühnenrückwand kreisende schwarz-weiße Spirale starrt, die an die optische Kunst der italienischen Op-Art-Künstlerin Marina Apollonio erinnert (Design Dirk Lebahn, Bühne Isolde Wittke), dreht sich förmlich mit. Auch der Bühnenboden ist mit schwarz-weißen Kreisen überzogen. Ein Labyrinth, dessen Zentrum in eine Tiefe verweist, die auch John Ferguson, den Polizisten aus Alfred Hitchcocks gleichnamigem Psychothriller, magisch anzog. Gedanken an eine Flucht? Zwecklos. Damit könnte die Geschichte, die die beiden Performer des Theaters Thikwa, Max Edgar Freitag und Frank Schulz, gemeinsam mit den Thikwa-Musikern Alexander Maulwurf und Louis Edler erzählen, bitter enden. Autismus heißt der Begriff, mit dem Mediziner die vermeintliche Disposition beschreiben, um die es in „Vertigo“ in der Regie von Gerd Hartmann geht. Ein endloses Kreisen im eigenen Körper, Schwierigkeiten bei sozialen Kontakten samt Handlungsstereotypien. Stempel drauf. Fertig. Doch wer definiert hier eigentlich die Kategorien?

Gut und böse. Gott und Teufel. Klare Kontraste sind für unkomplizierte Denker immer bequem. Der Mensch hat offenbar ein Bedürfnis nach Ordnung, denn warum sonst würden, huch!, ja auch Nicht-Autisten stundenlang an einem bunten Zauberwürfel drehen, um das Farbenwirrwarr – endlich! – zu entwirren? Was in diesem Fall jedoch Spiel ist, wird gesellschaftlich und politisch zum Problem. Wenngleich die bunten Quader auf der Bühne eher putzig (und damit leider gänzlich antipsychedelisch) wirken, liefern sie doch in ihrer Geometrie Reminiszenzen an die Ordnungswut des Bauhauses, das in seiner Formstrenge immer auch etwas Aufgeräumtes, Reines, gar Autoritäres besaß. Was aber, wenn der Teufel gar nicht der bad guy ist? „Ist nicht eigentlich Gott der Böse und der Teufel der Gute“, weil Letzterer die Verstoßenen bei sich aufnehme, fragt Max Edgar Freitag.

So sind die Abende des Theaters ­Thikwa auch Lektionen in wildem Denken. „Es ist nicht immer leicht“, heißt es zu Beginn, „in einem Körper zu stecken, der ja sagt, aber auch vielleicht.“ Mit dieser bewussten Unschärfe rücken die Performer einem allzu normierten Weltbild zu Leibe. Mal beatboxend, mal sich gegenseitig befragend, mal schlicht berichtend schildern sie Szenen aus ihrem Alltag. Momente, in denen Gefühle in ihrem Inneren ummantelt sind wie Reaktoren in einem Atomkraftwerk, bis sie sich plötzlich, wenn sie einen Freund treffen, entfalten wie ein Bonbonpapier. „Vertigo“ wurde kurz vor Weihnachten via Live-Stream übertragen, was nicht nur dank einer beweglichen Kameraführung und eines dynamischen Filmschnitts erstaunlich gut gelang. Denn selbst durch die Kamera entwickeln die Spieler vom Theater Thikwa eine irre Präsenz, fesselnd und Schwindel erzeugend wie in den besten Szenen von Hitchcock. Als Video-on-Demand ist das Stück vom 10. bis 14. Februar dann erneut über die Website des Theaters abrufbar.

Ein konspiratives Grüppchen hat sich auch in den Katakomben von Berlin eingefunden. Wäre dieser Kurzfilm in Schwarz-Weiß gedreht, könnte sein Setting an den düsteren Untergrund in Fritz Langs „Metropolis“ erinnern. Eine geheimbündlerische Verschwörung scheint hier im Gange. 13 Gestalten ziehen, jede mit einer dicken Wachskerze in der Hand, das Gesicht hinter grotesken Totenmasken verborgen, durch ein mit Fackeln erleuchtetes Gewölbe. Ihr Ziel: eine Feuerschale, an der sie nacheinander eine rätselhafte Losung rezitieren. „Wenn der Freitag sein Kleid in die Wolken schlägt …“

„Superforecast“ heißt die kleine Web­serie, die das zweite Inklusionstheater Berlins, das RambaZamba Theater, während des Lockdowns gedreht hat: Supervorhersage, ein Titel, der sich wunderbar quer zur derzeitigen Unplanbarkeit positioniert. Unter Jacob Höhne, der 2017 die Leitung des Theaters von seiner Mutter Gisela Höhne übernahm und hier ­Regie führt, hat das Ensemble einen großen Schritt in die Avantgardekunst gewagt. Pate für die Serie stehen der Dada-Dichter Konrad Bayer sowie Martin Kippenberger. In Pelzmäntel und elegante Abendkleider gehüllt, demnach kostümiert, durch viel nackte Haut letztlich aber ungeschminkt (Beatrix Brandler), erreichen die Spieler selbst in diesen Clips einen ganz neuen Ausdruck, dessen Kraft sich zwar noch deutlich aus der Ästhetik Frank Castorfs und Christoph Schlingensiefs speist, aber große Lust auf eine Fortsetzung macht. Am Ende, nachdem in Folge drei noch die Fäuste flogen und Blut aus Nasen troff, besteigt die Gruppe in Folge fünf einen alten Kahn, der sodann sanft tuckernd im Nebel verschwindet. Auf in das Reich von Chaos und Kunst. //

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