Theater der Zeit

Auftritt

Kiel: Hinter dem Firnis der westlichen Zivilisation

Theater Kiel: „Amsterdam“ von Maya Arad Yasur. Regie Josua Rösing, Ausstattung Michael Lindner

von Jens Fischer

Erschienen in: Theater der Zeit: Lilith Stangenberg: Kunst ist Bekenntnis (12/2019)

Assoziationen: Sprechtheater Schleswig-Holstein Theaterkritiken Josua Rösing Theater Kiel

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Treffen sich drei, sagen wir mal, Drehbuch­autoren auf der Studiobühne des Kieler Schauspielhauses und platzen geradezu vor Einfällen, ein Stück zu schreiben. In Amsterdam soll es spielen, so viel steht fest. Ist die Grachtenmetropole doch, trotz des Erfolgs der rechtspopulistischen Partei von Geert ­Wilders, ein Symbol für Weltoffenheit und lobt sich selbst im Stadtwappen für die Widerstandsverdienste im Zweiten Weltkrieg mit den Worten „Heldhaftig, Vastberaden, Barmhartig“ – also heldenhaft, entschlossen, barmherzig. Gerade diese Stadt müsste ja ein prima Kontrastmittel abgeben für ein Schauspiel über die Folgen ererbter Traumata nach dem Holocaust und der Kollaboration mit den Natio­nalsozialisten. Mehr noch: Sie böte damit den perfekten Ort, um über jüdische Identität in Europa sowie die Gegenwart von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit nachzu­denken. So fantasiert das namenlose Trio eine jüdisch-israelische Geigerin hochschwanger in einen schnieken Loft an der Keizersgracht. Vermuten soll sie, dass es auch in den Hirnen und Herzen der Amsterdamer Bürger von Gefühlen des Mistrauens gegenüber Ausländern nur so wimmelt und Ressentiments unaus­gesprochen wuchern. Ihrem Gynäkologen könnte sie Antisemitismus andichten, einer Künstlerin Islamophobie, den Beamten empathielose Vorschriftentreue und dem ungedul­digen Typ da hinter ihr in der Supermarktschlange ­xenophobe Gedanken. Ja, der halte sie aufgrund ihres Äußeren bestimmt für eine Migrantin, die Niederländern den Platz in der Schlange ­wegnehme und im Bauch einen Schmarotzer trage, der bald Steuergelder verschwenden werde.

Aber das könne nur der Anfang sein, sich fremd unter Fremden zu fühlen, denken die drei, sagen wir mal, Drehbuchautoren. Viel tiefere Abgründe des Menschenhasses müssten sich noch öffnen. Es könnte jemand der Hauptfigur eine Rechnung unter der Tür durchschieben: 1700 Euro! Ausgerechnet sie, die Jüdin, soll für Gas zahlen, das Nazis in der jetzt von ihr genutzten Mietwohnung in den 1940er Jahren verbraucht hätten, nachdem dort wohnende Widerständler ins KZ ­deportiert worden seien. Drei Viertel aller ­niederländischen Juden sind während des Zweiten Weltkriegs ermordet worden. All das müssten Recherchen der Musikerin ergeben, auch könnte sie Hohlraumverstecke in ihrer Wohnung entdecken, wie man es aus den ­Tagebüchern der Anne Frank kennt, meint das Autorenkollektiv. Dessen Lust auf Krimi­dramaturgie ist aktiviert. Was könnte damals alles passiert sein? Die Last der Geschichte steht im Fokus, die nicht bezahlte, nicht zu tilgende Schuld. Und ihr Widerhall in der ­Gegenwart.

Jennifer Böhm, Rudi Hindenburg und Almuth Schmidt geben höchst viril die Kreateure beim Brainstorming ihrer Storyline. Tanzen artikulatorisch mit dem Text. Tun dabei so, als würden sie improvisieren, und das Ende ihrer Performance wäre offen. Spielen aber wortgetreu musikalisch die dicht verzahnte, rhythmisch fein nuancierte Sprachkomposition „Amsterdam“ der Israelin Maya Arad Yasur vom Blatt. Wie ein dreistimmiger Chor, der Aussagen rasant weiterreicht. Um sie zu wiederholen, zu ergänzen, zu hinter­fragen, zu kommentieren, zu ironisieren, ihnen zu widersprechen. Oder um neu anzusetzen. Gegenseitig treiben sich die Darsteller an, die Erzählung auszudifferenzieren. Der Trialog beleuchtet dabei aus mehreren Perspektiven die Handlungsideen und die dunkle Geschichte der Nazi-Okkupation. Fix fallen Entscheidungen, den roten Faden mal vorwärts, mal rückwärts auf dem Zeitstrahl fortzuspinnen. Der Zuschauer wohnt der allmählichen Verfertigung eines möglichen Dramas beim Reden darüber bei – eine trickreiche Konstruktion ist dieses Gedankenblitze-Ping-Pong. Regisseur Josua Rösing lässt sich konzen­triert darauf ein. Die Darsteller schlüpfen meist nur sehr kurz in die gerade erfundenen Rollen. Spielbestimmend ist der Drehbuch-Workshop-Gestus vor einer quer über die Bühne verlaufenden Holzwand. Beim Eintreffen der Gasrechnung wird sie erstmals durch­brochen, Planken werden sanft entfernt oder später brutal herausgeschlagen. Die Mauer des Vergessens, die Sichtblende vor der Vergangenheit wird löchrig, der Raum hinter dem Firnis der toleranten westlichen Zivilisation einsehbar. Die anspielungsreiche Uneindeutigkeit des Textes, das gute Timing der Regie und die nie nachlassende Erzählspannung des Sprachkonzerts sind die Trümpfe der ­Inszenierung, die den ernsten aktuellen ­Themen sogar Humor abgewinnt. Theaterhandwerk vom Feinsten. //

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