Auftritt
Deutsches Theater Berlin: Mit flottem Engelsflügelschlag
„Halt’s Maul, Kassandra!“ nach Texten von Thomas Brasch – Regie Tom Kühnel und Jürgen Kuttner, Bühne Jo Schramm, Kostüme Daniela Selig, Musik Matthias Trippner, Video Meika Dresenkamp
von Thomas Irmer
Assoziationen: Berlin Theaterkritiken Thomas Brasch Jürgen Kuttner Tom Kühnel
Der deftige Titel ist Thomas Braschs zweitem Buch nach dem Wechsel in den Westen entnommen. „Kargo“ (1977) mixt Gedichte, Prosa und Postdramatisches avant la lettre mit Fotos in einer ziemlich losen Anordnung, als ob er die Struktur für einen dieser text- und videoverspielten Kühnel-Kuttner-Abende vorweggenommen hätte. Ursprünglich für die Kammerspiele konzipiert landete „Halt’s Maul, Kassandra!“ wegen eines Produktionsausfalls auf der großen Bühne des Deutschen Theaters – wo es, wie man nach der Premiere ohne weiteres sagen kann, auch hingehört.
Denn Braschs Texte, die meisten jedenfalls, haben eine schlagartige Präsenz mit bohrenden Fragen ins Hier und Jetzt. Einige seiner Gedichte wirken, als wären sie gerade erst für diese Revue geschrieben. Im Februar würde Thomas Brasch seinen 80. Geburtstag feiern, wäre er nicht schon so früh mit nur 56 Jahren gestorben, was wohl auch der Anlass für diese Inszenierung war.
Die vielleicht doch drohende Gefahr von pathetischem Ernst wird allein schon mit Hilfe der schönen, farbenfrohen Zirkuskostüme von Daniela Selig abgewendet. So erscheinen selbst Kuttners Moderationserläuterungen auf einer Spielebene, zu der ein sich drehender konstruktivistischer Monsterbau von Jo Schramm beiträgt, der immer wieder andere Auftritte ermöglicht und auch als Projektionsfläche gut dient.
Da sieht man zum Beispiel die legendäre Szene von der Verleihung des bayrischen Filmpreises für „Engel aus Eisen“, bei der Brasch nicht etwa den Preisgebern dankt, sondern unter Buhrufen der Filmhochschule der DDR, während der bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauß feist grinsend daneben steht, denn er wird gleich darauf Brasch für dessen wunderbares „Demonstrationsobjekt“ bayrischer Liberalität danken. Ein anderes Dokument der TV-Geschichte, Georg Stefan Trollers „Personenbeschreibung“ von Thomas Brasch, wird mit O-Ton reenacted. Trollers distanziert ironische Art, den gerade im Westen angekommenen Autor zu porträtieren, wird so in grelle Komik verwandelt, wenn Felix Goeser sich als Troller abmüht, während Mareike Beykirch als Brasch und Anja Schneider als Katharina Thalbach auf einer Matratze lümmeln und die Neugier des österreichischen Fernsehmanns auf ostdeutsches Dissidententum abprallen lassen.
Der Abend handelt natürlich auch davon, wie Brasch von der DDR nie wegkam und woanders nie ankam. Kuttner lässt da kurz mal aufblitzen, dass bei dem Thema uns auch kein Oschmann und kein Kowalczuk weiterhelfen würden. Und dann tritt die DDR ja sogar noch selbst auf in Gestalt von Jörg Pose mit Engelsflügeln: „Wieder hast du die Fenster verriegelt, damit du dich im Dämmerlicht von der Gegenwart ausschließen und ungestört einschlafen kannst.“ Dieser Geist aus Braschs Farce „Herr Geiler“ ist ein grandioser Auftritt in dieser insgesamt gelungenen Brasch-Revue. Ebenso die passend jazzrockige Musik des Trios von Matthias Trippner.
Erschienen am 28.11.2024