Auftritt
Staatstheater Nürnberg: Globaler Zelluntergang
„Frontières Extérieures“ (UA) – Text, Regie, Bühne, Kostüme, Video- und Sounddesign Luis August Krawen
von Sabine Leucht
Assoziationen: Bayern Theaterkritiken Luis August Krawen Staatstheater Nürnberg
Gelegentlich denkt man beim Blick über den Atlantik, dass es die Amerikaner:innen den Feinden der Demokratie allzu leicht machen. Wer sich seiner demokratischen Verfasstheit und seiner westlichen Werte rühmt und es dann schon zum zweiten Mal zu einem Donald Trump bringt, der sitzt nicht nur im Glashaus, sondern sogar in einem besonders fragilen. Doch auch wir Europäer:innen sollten nicht mit Steinen werfen. Besorgt um unsere Freiheit, Sicherheit und Menschenwürde, jagen wir die Freiheit, Sicherheit und Menschenwürde Anderer an den europäischen Außengrenzen zum Teufel. 1720 Flüchtende sind 2024 bereits im Mittelmeer ertrunken. Gestern, vorgestern, vorvorgestern – täglich kommen welche hinzu. Aydın Aydın zählt sie auf, während er auf der Bühne des XRT sitzt. Das ist die kleinste Spielstätte des Staatstheater Nürnberg, die technischen Experimenten und virtuellen Realitäten vorbehalten ist. Luis August Krawen ist deshalb genau der richtige für diesen Ort. Der Regisseur und Medienkünstler hatte sein Bühnendebüt an den Münchner Kammerspielen und bestückt und flankiert seither Inszenierungen unter anderem von Alexander Giesche, Ersan Mondtag oder Kay Voges mit Videos und KI-generierten Bildern. In „Frontières Extérieures“ zeichnet er für Text, Regie, Bühne, Kostüme, Video- und Sounddesign verantwortlich. Wobei sich die Textsammlung, die Aydın Aydın und Adeline Schebesch in knapp 75 Minuten auf die karge Bühne bringen, aus Internet-Fundstücken, Veröffentlichungen des Kulturanthropologen Bernd Kasparek und Gesprächen mit dem Team zusammensetzt. Das Thema ist die Agentur Frontex und ihr umstrittenes Wirken im Auftrag der EU. Es wirkt in der Vorweihnachtszeit zwar etwas deplatziert, kommt aber gerade recht, haben doch die aktuellen Kriege und anderen politischen Verwerfungen die Erinnerungen an das Foto des ertrunkenen Jungen Alan Kurdi am Strand von Bodrum sehr blass werden lassen. Der Nürnberger Abend ruft sie nun wieder wach. Richtig farbig werden sie allerdings nicht, dafür wird zu viel referiert und zu wenig gespielt. Die Geschichte der EU-Grenzschutzagentur zum Beispiel, die nach der Gründung 2004 lange fast geräuschlos verlief, ehe deren ehemaliger Direktor Fabrice Leggeri im April 2022 nach illegalen Pushbacks mit vielen Todesopfern zurücktreten musste.
In Nürnberg telefoniert Aydın als Cem in türkischer Sprache mit einem Griechen namens Nikos. Fragt ruhig, geschäftsmäßig, aber nicht unempathisch nach dem Gesundheitszustand und der Anzahl der Menschen an Bord eines von Griechenland wieder zurückgeschickten Bootes, das gesucht wird, vom Radar verschwindet, bis die letzte erschütternde Frage lautet: „Kein Rettungspotential mehr?“ Der stärkste Erzählfaden des Abends aber handelt von einem jungen Spieleentwickler, dem „Developer“, der 2025 in einer unbenannten europäischen Großstadt lebt, deren Sprache er nicht spricht. Er soll im Auftrag von Frontex eine Trainingssoftware für angehende Grenzschützer programmieren und bekommt die Simulation der bulgarischen Grenze deshalb so gut hin, weil er viele Arte-Dokus gesehen hat, aus denen er auch weiß: „Mit Frontex will man nicht assoziiert sein“.
Projektionen zeigen das Spiel „Frontnite“, das er dennoch auf den Weg bringt. Es erinnert auch in seiner Vintage-Grafik an das Ballerspiel „Fortnite“ (Game-Design: Sebastian Heckner): Muskulöse Männer in Uniform schweben mit kantigen Moves weit über dem realistisch wogendem Gras. Der Clou liegt in den Details. Vermummte mit Schlagstöcken, bunte Wellblechhütten, in denen PoCs gefangen gehalten werden: Kleine Easter Eggs, Akte des stillen Widerstandes eines aus wirtschaftlichen Gründen Angepassten, die der Auftraggeber ihm zur Nachbesserung zurückschickt. Am Ende tippt der Abend auch noch kurz unsere westliche Ignoranz an: Urlaubspläne, wo soll es hingehen? Vielleicht nach Italien? „Ans Mittelmeer wär doch gut, darauf konnten sich alle einigen. Hauptsache nicht so kalt.“
Das Kalkül hinter diesem letzten Wortwechsel der beiden Performer:innen ist allzu klar. Im Gedächtnis bleiben eher die Szenen, in denen sie abwechselnd aus alten Ausgaben des Spiegel lesen und den Zuschauenden (wieder) klar wird, dass man hierzulande schon in den Achtzigern von „Scheinasylanten“ sprach, denen man das Arbeitsrecht entzog - und 1991 vom „Ansturm auf die Wohlstandsfeste“ . Auch „der Developer“ wundert sich. Er hat die fremdenfeindliche Rhetorik für ein Post-2015-Gewächs gehalten. Dabei hat das Internet nur ihre Reichweite enorm vergrößert. Noch stärker an die Nieren aber geht der gleich zweimal minutiös geschilderte Ablauf des Todes durch Ertrinken, vom ersten Aufbäumen gegen das Untergehen über die Inspiration (das Einatmen von Luft), die Aspiration (das Einatmen von Wasser) und weiter. Spätestens vor dem Wort „Stimmritzenkrampf“, der Ertrinkende am Schreien hindert, möchte man sofort die Ohren verschließen, vor dem nächsten Begriffsungetüm „globaler Zelluntergang“ erst recht. Als Mitmensch begreift man sich immer noch am unmittelbarsten über den Körper und die Schilderungen körperlicher Vorgänge. Auch diese Erkenntnis bleibt von diesem verdienstvollen, aber insgesamt eher körperlosen Abend.
Erschienen am 16.12.2024