Theater der Zeit

Auftritt

Staatstheater Braunschweig: FCK Lieferando-Kapitalismus

„Der Weg der Arbeitenden Klasse ins Paradies“ nach dem Film „La classe operaia va in Paradiso“ von Elio Petri und Ugo Pirro (UA) – Regie Daniele Szeredy, Rauminstallation Florian Barth, Kostüme Alena Nienstedt

von Lina Wölfel

Assoziationen: Theaterkritiken Niedersachsen Staatstheater Braunschweig

Ana Yoffe und Naima Laube in „Der Weg der Arbeitenden Klasse ins Paradies“ in der Regie von Daniele Szeredy am Staatstheater Braunschweig. Foto Joseph Ruben
Ana Yoffe und Naima Laube in „Der Weg der Arbeitenden Klasse ins Paradies“ in der Regie von Daniele Szeredy am Staatstheater BraunschweigFoto: Joseph Ruben

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Sie drängen sich zuhauf an den eisblauen Stahltüren vor der Fabrik. Junge Männer in hellgrauen Anzügen, Frauen mittleren Alters in langen braunen Mänteln, alte Männer, die kaum noch gehen können, mit blauen Mützen auf den Köpfen, sogar Kinder. Es ist kalt, die Schultern hochgezogen, stecken ihre Hände in den Jackentaschen, während ihre Münder warme Luft ausatmen, die zu dichten weißen Schwaden wird, sobald sie an die kalte Morgenluft gerät. Zwischen der wartenden Masse verteilt ein Mann Flyer, ruft mit Mikrofon zum Streik auf und wird dabei wenig beachtet. Seine Zettel von den Arbeiter:innen unbeachtet weggeworfen.

Dieses Bild von der arbeitenden Klasse, wie es der italienische Regisseur Elio Petri in seinem Politfilm „La classe operaia va in Paradiso“ aus dem Jahr 1971 zeichnet, überschreibt Newcomer-Regisseur Daniele Szeredy am Staatstheater Braunschweig auf moderne, wenn auch manchmal etwas brave Weise.

Seit 16 Jahren arbeitet Lulù daran, zum Vorbild für effektive Arbeitsweise in seiner Firma zu werden. Er hechelt immer höheren Produktionszahlen für immer geringere Prämien hinterher – unter immer höherer Kraftanstrengung und immer längeren Arbeitszeiten – alles für den Traum vom Aufstieg, für den Traum, Teil des Fortschritts zu werden, für den er arbeitet. Er beklagt sich wenig und weist jedwede Streikaufforderung ab. Nach einem Arbeitsunfall erkennt er jedoch seine entfremdete Lage. Er politisiert sich und verliert dadurch den Arbeitsplatz. Durch organisierten gewerkschaftlichen Druck wird er zu leicht verbesserten Bedingungen wiedereingestellt. Fünfzig Jahre später findet sich die arbeitende Klasse nicht mehr nur vor Fabriktoren und in Bergwerken. Sie sitzt in petrolblau-lächelnden Lieferwagen, begrüßt einen mit „Herzlich willkommen bei xyz, was kann ich heute für Sie tun?“ am Telefon, schiebt einem Wattestäbchen in Nase und Rachen, bis man weint oder sorgt dafür, dass wir am Sonntag halb elf ein Dinkel-Körner-Brötchen brunchen können. Auf der von Florian Barth eingerichteten Bühne stehen deshalb, neben der Lochermaschine von Lulù auch ein grünes Fahrrad mit einer großen quadratischen Styroporbox auf dem Gepäckträger und ein überfüllter Schreibtisch mit stetig klingelndem Telefon und sich stapelnden Akten.

Szeredy verortet seine Interpretation im Hier und Jetzt, verwebt Lulùs Geschichte mit denen einer Studentin (Ana Yoffe), die, um sich ihr Studium finanzieren zu können, für Lieferdienste arbeitet, und der einer Assistentin im Großunternehmen (Naima Laube). Beide durchlaufen ähnliche Etappen, wie Lulù, optimieren ihren Alltag – fünf Sekunden zum Augen öffnen, 4 Sekunden um auf dem Bett aufzustehen, sechs Sekunden um die Füße an den kalten Boden zu gewöhnen, fünfundsiebzig bis achtzig Sekunden fürs Frühstück und ein kurzes Nachrichten-Update am Telefon, fünfundvierzig Sekunden für den Weg zum Bus – und die Arbeitsabläufe. Oder: 11 Minuten, um eine verspätete Essenslieferung im Regen durch den Berufsverkehr einmal quer durch die Stadt zu fahren und um 7:42 Uhr die erste Nahtod-Erfahrung mit einem SUV zu haben, nur um vor der Tür einer Studentin zu stehen, die gerade vom Feiern nach Hause gekommen ist und einem mit „Oh sorry, ich hab leider grade kein Bargeld in der Tasche, naja aber beim nächsten Mal“ die Tür vor der Nase zuknallt. Vereinzelt, scheinbar allein, kämpfen sie für ihr individuelles Wohl: Aufstieg, eine Prämie oder schlicht den Job behalten, weil man sich ansonsten das Leben, das Studium, die Wohnung, die Dosen-Ravioli oder das Bier am Kiosk nicht leisten könnte. Denn Sprüche, wie „Einhundert Euro für dich bedeutet 100.000 Euro für die Firma“ muss man sich auch erstmal leisten können.

Schließlich lässt Szeredy seine Figuren sich politisieren. Sie finden Gewerkschaften oder Messenger-Gruppen, in denen sie sich verbünden, nicht nur Schichten, sondern auch Wissen tauschen. Er gesteht ihnen Epiphanie-Momente zu, die sie aus ihrer eigenen Ohnmacht wachrütteln – „Andere lernen in acht Stunden, was ich in sechzehn Jahren Berufserfahrung gelernt habe. Ihr Job ist nicht zwei Tasten zu drücken, sondern meinen Lohn“ – und schließlich in einem Streik-Monolog resultieren, der erstaunlich präzise, die Logik von Vereinzelung, Kapitalismus, individueller Verantwortung und Medienrhetorik miteinander verbindet. Die Arbeiter:innen des Abends treten als geschlossene Front ihren Manager:innen gegenüber: „Wir sind keine Opfer, wir sind Würde, wir sind der Wiederstand“. Dazu sprüht Luca Füchtenkordt im Hintergrund „______ aller Länder _____ euch <3“ an die Wand. Man hätte sich gewünscht, solche Momente wären noch radikaler gewesen, die Worte unverblümter einem entgegengeschmettert und die Anliegen der Arbeiter:innenklasse vor einem überwiegend akademischen Publikum mit noch mehr Nachdruck und weniger Mitleid proklamiert. Denn am Ende bleibt doch wieder die Resignation. Für den Streik wurde viel riskiert und wenig daraus gewonnen.

Luca Füchtenkordt, Naima Laube und Ana Yoffe leisten in der Inszenierung Beachtliches. Alle drei spielen ihre Figuren vielschichtig, ohne in Klischees zu verfallen und technisch präzise aus. So entstehen Momente, die sowohl berührend, zum Schreien komisch als auch ernüchternd gleichzeitig sind. Wie etwa als Laube und Yoffe auf ein erstes Tinder-Date in ein schickes Restaurant gehen, das sich beide nicht wirklich leisten können, und überlegen, wie sie den Fisch – ohne Beilage – auf ihrem Teller filetiert bekommen, die Zeche prellen und sich ein Bier am Kiosk holen. Oder auch als sich Yoffe auf dem Fahrrad abstrampelnd im Fenster der Bühne spiegelt, und ihre Reflektion durch das ungemütliche Wetter draußen ergänzt zum Symbolbild wird.

Die Inszenierung wirft den Blick mitten in den Motorraum unserer Gesellschaft, deren Personal bestenfalls noch übersehen wird und dem im schlechteren auch noch geraten wird, die „Arbeitssorgen“ mit Rosmarinöl, Gedankenreisen und Duftkerzen doch einfach wegzuräuchern. Das Paradies der Arbeiter:innenklasse kommt an diesem Abend in vielerlei Gestalt daher, als Make-Up-Tutorial auf YouTube, Hunde-Reel, How-To-Be-An-Ally-Slide, Zeitunglesen auf dem Sofa, Bier am Kiosk nach einem ersten Date oder „Nur noch eine Folge“ auf Netflix. Vor allem aber in den Begegnungen, der Verbündung, in gemeinschaftlichen und gemeinschaftsstiftenden Momenten.

Erschienen am 26.1.2023

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