Theater der Zeit

Sprache als Zeichensystem – Sprechen als Handlung

Warum und wozu sprechen wir?

von Viola Schmidt

Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)

Assoziationen: Schauspiel

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Wenn der Weg zum anderen der einzige Weg zu sich selbst ist, wenn der Mensch nur über das Du zum Ich gelangt, wie Watzlawick andeutet, sprechen Menschen dann, um sich im anderen zu erhalten? Sprechen wir, um unser Sein zu bestätigen? Ich spreche, also bin ich? Manchmal hat es den Anschein, als ob das Sprechen nur um des Sprechens willen geschieht. Da wird geschnattert und getratscht. Sprechen erscheint dann mehr als Tätigkeit denn als bewusste Handlung. Beobachten wir menschliche Begrüßungsrituale wie das Winken aus großer Entfernung verbunden mit einem zugerufenen Hallo, den förmlichen oder freundschaftlichen Händedruck oder die Umarmung mit den jeweils begleitenden Worten, finden wir zwar soziokulturelle Unterschiede, im Grunde geht es aber in allen Kulturen, Klassen und Schichten darum, soziale Beziehungen aufzubauen, zu erhalten und zu erneuern. Der amerikanische Verhaltensforscher Desmond Morris bezeichnete dieses Phänomen als „grooming talk“.6 Der Austausch von sprachlichen Floskeln und ritualisierten Gesten sei ein Äquivalent zur Körperpflege der Tiere und diene hier wie dort der Stabilisierung sozialer Systeme. Putzgespräche sind ein gegenseitiges Lausen auf Abstand; Gesten und Sprechen stellen soziale Ersatzhandlungen dar. Man könnte auch sagen, Menschen berühren einander mit gesprochener Sprache. Kontaktaufnahme ist also die Antwort auf die Frage, warum wir sprechen. Wir wollen mit anderen in eine Beziehung treten. Das ist unser Motiv. Es bleibt die Frage nach unserer Absicht. Wozu sprechen wir? Ich behaupte, wir sprechen, um andere in Teilen ihres Verhaltens zu verändern. Wir möchten, dass sie uns zuhören, dass sie ihre Position im Raum verändern, dass sie uns helfen, uns bestätigen usw. Die sich daraus ergebende Frage, was dadurch verändert werden soll, lässt sich in der Alltagskommunikation nicht immer sofort beantworten, für die Kommunikation auf der Bühne erscheint sie mir unerlässlich und zieht weitere Fragen nach sich. Was soll durch das Sprechen ausgelöst werden, welche weiteren Handlungen werden in Gang gesetzt, wie geht es mit der Beziehung weiter, welche schauspielerischen Vorgänge lassen sich aus der Beziehung entwickeln, und wie wird das Sprechen Teil dieser Vorgänge? Welche Motive und Absichten führen uns zum Sprechhandeln, und wie unterscheidet sich ein stark motiviertes und intendiertes Sprechen von weniger stark motivierten und intendierten Äußerungen? Wie hoch muss der Erregungszustand des Zentralnervensystems als unabdingbare Voraussetzung zum Handeln sein, damit eine Handlung in Gang gesetzt werden kann? Wann löst diese Erregung eine gesamtkörperliche Handlungsbereitschaft aus, die sich im veränderten Körperverhalten zeigt? Wann wird der Blick gesucht, wann und wie steigt der Muskeltonus, richtet sich der Körper dem anderen entgegen, wie wird eine Sprechspannung aufgebaut? Das gestische Sprechen kann diese Fragen beantworten und nutzt und entwickelt die Fähigkeiten, über die wir als biologische und soziale Wesen verfügen. Auch wenn sich im konkreten Ausdruck individuelle und soziokulturelle Unterschiede zeigen, können wir von einer wesenhaften Strukturgleichheit des Sprechens in allen Sprachen ausgehen.

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