Auftritt
Schauspielhaus Bochum: Die Hoffnung auf Heilung
„Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ von Edward Albee – Regie Guy Clemens, Bühne und Kostüme Dorothee Curio
von Stefan Keim
Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Schauspielhaus Bochum

Die Bühne zeigt eine aufgerissene Hauswand. Als hätte eine Bombe eingeschlagen. Die Wohnung dahinter ist intakt, die Menschen sind es nicht. Martha und George sind seit über 20 Jahren verheiratet. Er ist Geschichtsprofessor, ihr Vater der Dekan der Universität. Es ist schon weit nach Mitternacht, sie kommen von einer Party.
George ist müde, Martha hat noch ein junges Paar eingeladen, den neuen jungen Biologieprofessor Nick mit seiner Frau Honey. Dass es sich dabei um mehr als einen kleinen Absacker handelt, ist gleich klar. Martha vibriert vor Energie. Der erste Akt des Stücks „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ trägt den Titel „Gesellschaftsspiele“. Martha und George haben ihren eigenen Stil entwickelt, um ihre Ehe in Schwung zu halten. Sie holen sich Publikum in ihre Wohnung, um sich lustvoll zu quälen und zu demütigen. Die Gäste werden Teil des Spiels. Und schnell stellt sich heraus, dass auch Nick und Honey keine einfache Beziehung haben.
Seit der Uraufführung des Stücks sind die Gesellschaftsspiele ausgefeilter und persönlicher geworden. Bei „Wahrheit oder Pflicht“ und manchen Rollenspielen geht es manchmal an die Grenzen der Teilnehmenden, und eben darin liegt der Reiz. Doch auch aus heutiger Sicht ist Edward Albees Stück kein bisschen veraltet. Martha und George ziehen sich derart extrem die sprichwörtliche Haut von den Knochen, dass es beim Zusehen immer noch schockiert und schmerzt.
„Ich hab das alles doch nur für dich getan“, sagt George einmal, und dieser Satz ist kein Zynismus. George verfolgt wahrhaftig ein positives Ziel. Er will das Spiel an seine Grenzen bringen und es damit zerstören. „Austreibung“ hat Albee über den letzten Akt geschrieben. Konstantin Bühler spielt die meiste Zeit leise und beherrscht, ein eiskalter Intellektueller, der sich nie in die Karten schauen lässt. Einer wie der Vicomte de Valmont aus dem Roman „Gefährliche Liebschaften“ oder sogar ein Nachfahre des Marquis de Sade. Während Jele Brückner ihm an Geistesgegenwart keinesfalls nachsteht, aber leidenschaftlicher, manchmal sogar animalisch agiert.
Die Bochumer Aufführung ist ein Schauspielerfest, in dem auch Anne Rietmeyer und Victor Ijdens als junges Paar begeistern. Doch Regisseur Guy Clemens begnügt sich nicht damit. Er führt den Gedanken des Spiels im Spiel weiter und setzt im Lauf des Abends immer deutlichere surreale Akzente. Das Ensemble wechselt öfter die Kostüme. Nick erscheint plötzlich im Glitzerrock, hinter den Öffnungen in der Wand befinden sich immer neue Gegenstände und Räume. Es gibt viele produktive Irritationen, die Assoziationen ermöglichen, aber dem psychologischen Spiel nicht die Grundlage nehmen, Im Gegenteil.
Am Ende langanhaltender Jubel für das großartige Ensemble. Man spürt, wie sehr sich das Publikum nach sinnlichem Schauspielertheater sehnt. Doch weil Ausstatterin Dorothee Curio immer wieder den Realismus unterläuft und kleine verstörende Akzente setzt, bekommt die Inszenierung eine größere Dimension. „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ ist in Bochum nicht nur ein Psychodrama. Sondern das Porträt einer zutiefst verstörten Gesellschaft, die einen langen und schmerzhaften Weg vor sich hat, um wieder funktionieren zu können. Martha und George halten sich nach allen Qualen immerhin an den Händen, wenn das Licht ausgeht.
Erschienen am 5.2.2023