ACUD-Theater Berlin: Die Kulisse für einen Traum
„Von Wölfen und Menschen“ von Przemysław Wojcieszek – Regie Andreas Visser, Assistenz Karina Krawczyk, Kostüm nach Entwürfen von Anna Molga
Assoziationen: Theaterkritiken Berlin ACUD Theater

Es erklingt ein sanftes Schlaflied, dazwischen die Töne einer volksliedähnlichen Melodie. „Wo sind wir?“, fragt eine der drei Frauen und eröffnet die Inszenierung von Przemysław Wojcieszeks Stück „Von Wölfen und Menschen“ im ACUD-Theater am Berliner Weinbergspark. Die Antwort auf diese Frage ist nicht eindeutig: Eine Probebühne. Ein Wald. Oder doch ein Traum – das bleibt bis zum Ende des Abends in einer spannungsvollen Gleichzeitigkeit, die den Zuschauenden kleine Schlupflöcher der Fantasie offenhält. Das Bühnenbild ist schlicht gehalten: ein paar Stühle, drei Rucksäcke und ein einfacher Holztisch mit einer Topfpflanze und drei ausgedruckten Fassungen ihres Stückes – von dort spielen sich Fine Belger, Celina Muza und Kati Thiemer Schritt für Schritt in den Wald hinein. Das Motiv des Walds changiert dabei zwischen Niemandsland und Sehnsuchtsort, an dem die Frauen wohl oder übel um ihr Überleben bangen müssen.
Nachdem sie ihre Heimat als Flüchtende verlassen mussten, bildet der Wald für die Frauen nun eine Art Transitzone, die sich von zwei Seiten begrenzt sieht: Auf der einen Seite stehen Soldaten, die sie von dort verjagten, wo sie herkamen; auf der anderen Seite Soldaten, die jenen Ort abschirmen, an den die drei gelangen wollen. Eingekeilt in dieser Kriegsrealität warten die Frauen auf ihren Schlepper, der einfach nicht kommen will. Montag. Dienstag. Mittwoch. Donnerstag. Die Tage vergehen und die Frauen versuchen, im Traum zueinander zu finden. Sie träumen gemeinsame Träume, denn nur im Traum können sie einander wirklich begegnen. Ihre Vorstellungen davon, wie ihre Befreiung sich gestalten wird, divergieren: Die eine verharrt im Glauben an Gott und seinen guten Willen im Warten auf den Schlepper, der sie und ihren acht Jahre alten Sohn wieder zusammenführen wird. Die andere wurde in der Suche nach einem Poeten, dessen Erkenntnisse die Soldaten bekehren würden, enttäuscht. Nun erkennt sie in den Wölfen ihre Rettung und versucht, mit ihnen und dem Wald eins zu werden: „Ich begann, ihre Bewegungen zu imitieren … Ich begann, ihre Stimmen zu imitieren … Ich wurde zum Wolf … Und wenn du ein Wolf wirst, wird alles viel einfacher“, verkündet sie und begleitet die Zuschauenden in ein Nachdenken über die Grenzen von Kultur und Natur – von Mensch und Tier. Die dritte spielt, getrieben von ihren Emotionen und der Sehnsucht nach Erlösung, mit dem Gedanken, ihre persönliche Freiheit nur im Tod finden zu können.
Auf den ersten Blick erscheint die Inszenierung streckenweise ein wenig dialoglastig, es stellt sich der Wunsch nach starken Bildern ein. Auf den Einsatz von Video wird gänzlich verzichten; auch die Verwendung von Licht und Sound ist deutlich reduziert. Doch hier lohnt sich ein zweiter Blick: So wie der Traum die letzte Kulisse dieser Frauen zu seien scheint, so dient in dieser Inszenierung der Text als Kulisse des Träumens. Die Bilder transportieren sich weniger über das szenische Bild und mehr über das gesprochene Wort. Eine der Frauen erzählt von dem Stacheldraht, den sie im Wald entdeckt: „Tausende Rasierklingen aufgefädelt auf Kletterpflanzen aus Stahl, funkelnd im Licht von Halogenlampen. Ich komme näher und näher, und es beginnt meine Kleider zu zerschneiden, schlitzt meine Haut auf, öffnet mich bis zum Herzen. Es erinnerte mich daran, dass mein Leben nur pulsierendes Fleisch ist … Meine Träume, meine Überzeugungen, meine Poesie … Ich bin nur pulsierendes Fleisch aus dem Blut entweicht. Wenn das Pulsieren aufhört, verschwindet alles andere.“ Diese explizite Sprache überrumpelt das Publikum, schneidet tief, zeigt Wirkung. Die Zuschauenden sehen sich aufgefordert, den Wörtern zu folgen, ihren Wegweisungen ins Träumen Folge zu leisten – anderenfalls bleiben sie im Saal zurück.
Erschienen am 4.5.2023