Theater der Zeit

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Die Jenaer Wunderblüte

Laudatio zum Martin-Linzer-Theaterpreis 2022 an das Kollektiv Wunderbaum

von Michael Helbing

Erschienen in: Theater der Zeit: Der Untergang des russischen Theaters (10/2022)

Assoziationen: Thüringen Performance Akteure Wunderbaum Theaterhaus Jena

„Urlaub in Deutschland“ von Wunderbaum, 2020. Foto Joachim Dette
„Urlaub in Deutschland“ von Wunderbaum, 2020.Foto: Joachim Dette

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Geschrieben steht: Gott der Herr ließ eine Staude wachsen; die wuchs über Jena, dass sie Schatten gäbe seinem Haupt und ihm hülfe von seinem Unmut. Und Jena freute sich sehr über die Staude.

So geht die biblische Geschichte vom Wunderbaum, auch Rizinusbaum oder Christuspalme genannt, botanisch-lateinisch Ricinus communis, 2018 zur Giftpflanze des Jahres erklärt. Beim geringsten Verdacht einer Vergiftung, warnen Experten, solle man sich unverzüglich in ärztliche Behandlung begeben.

Im Neuen Testament ist sie schon am nächsten Morgen wieder verdorrt, tritt ansonsten zumindest in den Tropen aber als mehrjährige Pflanze auf – und zuletzt im thüringischen Jena als vierjährige. Sie hinterlässt dort einen vielversprechenden Ableger.

Womit wir dort angelangt wären, wo hier die Musik spielt: hart an der Grenze zwischen Realität und Fiktion. Dort schlägt das höchst informative und gesellschaftlich relevante, sinnige und sinnliche, stets unterhaltsame Recherchetheater des niederländisch-flämischen Kollektivs Wunderbaum regelmäßig seine Zelte auf.

Zugegeben: Jene Staude in der Bibel wuchs nicht über Jena, sondern über Jona, den zuvor ein Fisch verschluckte und bald darauf wieder ausspuckte. In Jena, an der Saale hellem Strande, spuckte kein Fisch, eher schon ein Kreuzfahrtschiff die Wunderbaum-Crew wieder aus.

Auf Deck 16 der „AIDAprima“, im Nachtclub Nightfly, war sie eines Abends vor 300 auf Nordsee-Tour befindlichen Deutschen aufgetreten, begleitet von der etwas hilflosen Ansage: „Was sie machen, ist eigentlich schwer zu beschreiben.“ Noch vor der Halbzeit der Show waren dann vierzig Prozent der Gäste verschwunden.

Ein Abend mit philosophischer Tiefe sei nicht eben das, was man im Urlaub erwartet, ließ der Senior Manager für Entertainment Operations später schriftlich wissen. Er selbst habe es gemocht. Doch für diese Umgebung sei das möglicherweise zu viel Theater gewesen.

Wir konnten das später mit- und nachlesen, im Abend „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“, mit und nach der gleichnamigen Reportage von David Foster Wallace über eine Karibik-Kreuzfahrt. Die Figuren daraus hielten nun dessen Buch in Händen und distanzierten sich mehr oder weniger davon.

Fünf griechische Kapitäne von der Insel Lesbos, die am Einlass Ouzo kredenzten, entpuppten sich als arbeitslose Schauspieler und Musiker. Unter Deck und an der Reling ging es um Einsamkeit, Tod und Vergänglichkeit, während das Schiffshorn tutete und eine tiefenentspannte Durchsage wiederholt einflüsterte: „Einfach die Seele baumeln lassen. Entspannung wird Ihnen zur zweiten Natur.“

Ein heiter-melancholisches Stück epischen Theaters, das seine Mittel und Instrumente zeigt, uraufgeführt im Juni 2017 beim Festival Theater der Welt in Hamburg.

Einen Monat später wurde bekannt: Das Wunderbaum-Kollektiv, das mit dem Theater Rotterdam und dem Mare Culturale Urbano in Mailand kooperiert, übernimmt im nächsten Jahr die künstlerische Leitung des Theaterhauses Jena, ausgewählt aus 63 Bewerbungen.

Das ist seit 1991 kein Dampfer, eher das Schnellboot in der Thüringer Theaterlandschaft, ausgestattet mit Hybrid-Motor: ein öffentlich finanziertes Privattheater mit der ästhetischen An­mutung einer freien Gruppe sowie kollektiver Leitungsstruktur.

Umgehend kam die Frage auf: „Kann eine kleine Gruppe wie Wunderbaum Theater für Jena machen und dort präsent sein, wenn sie gleichzeitig eine Spielstätte in Mailand und eine in Rotterdam bespielen und dazu international touren?“ So kommentierte ein Nutzer des Internetportals nachtkritik.de die Meldung. Und fügte hinzu: „Man kann das bezweifeln und die Frage stellen, ob das im Sinne der Bürger von Jena ist.“

Nach vier Jahren des Wirkens sind solche Zweifel jedenfalls beseitigt. Wunderbaum hat nicht nur ganz im Sinne Jenas gearbeitet, im Sinne der Stadt ebenso wie ihres Theaters. Walter Bart, Wine Dierickx, Matijs Jansen, Maartje Remmers, Marleen Scholten und Maarten van Otterdijk, die sich als ein Körper mit sechs Köpfen oder als ein Kopf mit sechs Stimmen begreifen, haben mit ihrem interessierten und auch verwunderten Blick von außen den Begriff des Stadttheaters pars pro toto auseinandergenommen und neu zusammengesetzt.

Frei nach dem Motto: Global denken, international agieren, lokal spielen. Die Staude wuchs, sie verdorrte weder am nächsten Morgen noch bis zum heutigen Tag und half Jena, jeden Unmut fröhlich zu artikulieren, ohne unmutig zu werden.

Dabei hatten sie Residenz an einem Haus genommen, und Verantwortung dafür übernommen, von dem man nicht sicher sein kann, dass die Einwohner von dessen Existenz überhaupt wissen. Gar nicht so unwahrscheinlich, dass, wer auf Jenas Straßen nach dem Theater fragte, nach Weimar verwiesen wurde, nach Rudolstadt oder Gera. Dort stehen, schon architektonisch, „richtige Theater“, mit allem, was Jena nicht zu bieten hat: Zuschauerhaus, Orchestergraben, Maskenabteilung, Souffleusen, Pausen mit Sektglas, Garderobenmarken, Applausordnung. Und: Texte im klassischen Versmaß.

„Wo ist das Theater?“, fragte Wunderbaum deshalb sich und sein Publikum im Prolog seiner zweiten Saison. Darin lieferten sie eine überfällige Standortbestimmung für das Haus, das 1991 neu gegründet worden war und dem die deutsche Theaterszene bis heute Modellcharakter nachsagt.

Das Zuschauerhaus des alten Stadttheaters war 1987 abgerissen worden, in Erwartung eines ambitionierten Um- und Neubaus. Doch war erst kein Geld da und dann die DDR weg. Dem Regisseur Alexander Lang vom Deutschen Theater Berlin hatte man Jena Mitte der Achtziger vergeblich als Experimentierbühne angeboten. Ab 1991 aber wurde sie es. Den Zuschauern wies man räumlich wie inhaltlich einen neuen Platz zu. Sie wurden gleichsam Beteiligte.

An diese Tradition einstigen Neubeginns wusste Wunderbaum erfolgreicher anzuknüpfen, als Generationen zuvor. Sie ­haben das Modell Theaterhaus so gelebt und verinnerlicht, dass die Zuschauer es annehmen konnten. Deren Erwartungen trafen sich mit dem künstlerischen Anspruch auf wundersame Weise – obwohl ihnen allen eine Pandemie dazwischenkam.

Seit bald zwei Jahrzehnten unterwegs, nach Anfängen unter der Mentorenschaft von Johan Simons in Eindhoven, besetzte Wunderbaum nun erstmals einen festen Ort für seine internationale Arbeitsweise. Und arbeitete erstmals mit einem Ensemble, mit dem man sie teilen, an die man sie weitergeben kann. Ein Ensemble der Selbstermächtigung, das nicht aus Schauspielern, Regisseuren, Ausstattern besteht, sondern ausschließlich aus Theatermachern in wechselnden, immer mitdenkenden Rollen. Sie wurden engagiert, um sich zu engagieren.

Schnell bestätigte sich der Verdacht einer produktiven Vergiftung, die, holländisch-flämisch akzentuiert, zugleich Medizin und ­Therapie fürs deutschsprachige Theater bedeuten konnte.

So haben sie einer Stadt mit empathischer Respektlosigkeit ­deren eigene Geschichten erzählt, wie sie es selbst kaum vermocht hätte. Zum Beispiel trugen sie den Tresen einer rustikalen Eckkneipe auf die Bühne, nachdem deren Wirt sie aufgab. „Zur Wartburg“ hieß sie. Und so heißt auch das Stück zu den Erinnerungen an einen sozialen Treffpunkt, das gute alte Zeiten heraufbeschwört, nur um ihnen zu erklären, dass sie keine Zukunft haben. Daraus werden kein Reenactment und keine Illusion, daraus wird ein Theater der zärtlich lachenden Desillusionierung, wie es Wunderbaum zu eigen ist.

Zum Finale haben sie derart das Bundeskleingartengesetz inszeniert, nachdem sich ein Neonazi anschickte, in Jenas Südstadt den Vorstand eines Kleingartenvereins zu übernehmen. Davon erzählten sie jüngst im Open-Air-Spektakel „Miniathüringen“ in Szenen und Liedern, in denen sie als frustrierte Gartenzwerge auftraten. Diese Keramikfiguren stehen als 150-jährige Tradition aus dem Dörfchen Gräfenroda inzwischen auf der Thüringer Liste für immaterielles Kulturerbe, als einer von bislang elf Einträgen.

Der zwölfte sollte dem aus Rotterdam eingewanderten Wunderbaum gelten, für das Brauchtum unverbrauchten lokalen Welttheaters: in der Stadt, für die Stadt, mit der Stadt. Diesen Brauch haben sie jetzt, für die nächsten zwei Jahre, an ihr Jenaer Ensemble ab- und weitergegeben. Sie haben die Bühnenerde fruchtbar gemacht, auf dass darauf eine neue Staude wachse. Und nicht nur Jena freut sich sehr darauf. //

Amsterdam, 10. September 2022

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