Theater der Zeit

Thema

Der rettende Zweifel

Der Autor und Regisseur Nuran David Calis sucht den Dialog zwischen den Religionen – auch mit Extremisten

von Gunnar Decker

Erschienen in: Theater der Zeit: Der Knick im Kopf – Theater und Migration (12/2017)

Assoziationen: Regie Akteure Nuran David Çalis

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Wie entsteht Unruhe? Wenn man selbst sich zu einer Verabredung verspätet (es ist Sonntag, da nimmt es die S-Bahn mit ihrem Fahrplan nicht so genau) und der Erwartete sich als abwesend erweist. Ist er noch nicht da oder schon wieder weg? Hier mischen sich Glauben und Zweifel auf schreckhafte Weise.

Das Zimt und Zucker am Schiffbauerdamm ist übervoll: Sonntagsbrunch mit Touristen. Ich schaue den hinter ihren Milchkaffees Sitzenden ins Gesicht, ob einer vielleicht dem Foto ähnelt, das ich von Nuran David Calis kenne. Wenn er doch wenigstens ans Handy gehen würde! Also bleibt nur, draußen vor der Tür im leichten Nieselregen zu warten. Und da kommt er, winkt schon von Weitem, beginnt sogar schneller zu laufen. Nuran David Calis ist ein höflicher Mensch. Ihm sind die Widersprüche, die er auf der Bühne forciert, ins Gesicht geschrieben. Es besitzt einen weichen Zug, den man nicht mit Milde verwechseln sollte. Entschlossen wirkt er, aber keinesfalls brutal. Dabei war er schon nah dran, es zu werden. Als Boxer und als Türsteher. Ein weiter, ein umwegreicher Weg.

Über die Unruhe wollen wir reden, jene metaphysische, die wir, wenn wir es zulassen, in uns spüren. Was macht sie aus uns? Sind wir Gottsucher oder Selbstperformer? Kann man mit Unbedingtheit an etwas glauben, ohne zum Fanatiker zu werden? Das zu besprechen, brauchen wir einen ruhigen Platz. Das Vaporetto direkt an der S-Bahn-Station Friedrichstraße ist so leer, wie das Zimt und Zucker voll. Warum drängen die Menschen immer dorthin, wo schon so viele andere sind? Mit Nuran David Calis, das ist schnell klar, kann man die grundsätzlichen Dinge des Lebens besprechen.

Wo fängt man an, beim Glauben oder beim Zweifel? Für Calis ist beides nicht voneinander zu trennen. Wer glaubt, ohne an seinem Glauben zu zweifeln, ist am Ende ein stumpfes fanatisches Vieh, das andere Menschen nicht mitdenken kann. Wer zweifelt, ohne im Zweifel seine Unerlöstheit zu spüren, ohne den selbstquälerischen Impuls, eigentlich glauben zu wollen, aber es nicht zu können, der bleibt ein allzu nüchterner Verstandeskopf, der vieles vermag, aber eines nicht: sich in andere Menschen einzufühlen. Das sind die zwei Seiten jenes drängenden Widerspruchs, den Nuran David Calis gut kennt, den er sogar in den Mittelpunkt seiner Arbeit als Regisseur stellt. Wie wird man, der man ist?

Ich weiß, dass ich nichts weiß

Calis wirkt in allem, was er sagt, überaus direkt und zugleich reflektiert. Er ist niemand, der bloß Meinungen von sich gibt. Aber auch nicht der Typus Akademiker, der, etwas bedenkend, es so lange hin und her wendet, bis es seine scharfen Kanten verliert. Calis denkt die Dinge zu Ende, indem er sie ihrer inneren Logik nach auf die Spitze treibt. Er will nicht die Demagogen entlarven, das sollen diese schon selbst tun. Also lässt er sie reden. Auch auf der Bühne. Was er verachtet, ist der Typ Moderator, der alles Gegensätzliche in Watte packt, sodass sich niemand mehr daran stoßen kann. Er sucht den Schmerz, treibt Fragen ins Extrem. In diesem Punkt ist er denen nah, die er auf die Bühne holt. Nur, dass seine Unbedingtheit aus den Fragen kommt, nicht aus den Antworten. Er will keine Gefolgsleute rekrutieren, niemandem den Weg ins Heil zeigen. Calis hat etwas Sokratisches an sich, aber das mit Inbrunst: Die großen Bescheidwisser, die er etwa in „Glaubenskämpfer“ am Schauspiel Köln auf die Bühne bringt, bleiben armselige Figuren. Sie wissen nicht, wovon sie reden.

„Ich weiß, dass ich nichts weiß“, das ist seit Sokrates der Anstoß für alle Aufklärung. Etwas herausfinden, es entdecken wollen. Wohin bringt uns das? Mit Immanuel Kant immerhin dahin, wo die „selbstverschuldete Unmündigkeit“ endet. Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! Damit kommt man weit, aber auch weit genug? Jedenfalls nicht über jenen Punkt hinaus, da das Verstehen im rationalen Sinne aufhört. Wo man ergriffen wird und der Faszination erliegt. Ein großes Gefühl, weiß Calis, das man nicht denunzieren darf. Im Gegenteil, wenn das Theater eine Zukunft haben will, dann muss es in diese Bereiche des Unbedingten vorstoßen, die großen Fragen neu stellen, die uns sterbliche Menschen quälen. „Vordergründige Aufklärung interessiert mich nicht“, sagt Calis, man muss die Religion als elementare lebensverändernde Kraft gespürt haben, will man sie – was immer nottut – kritisieren. Doch das Problem, wie er es in seiner Beschäftigung mit dem Glaubensthema erfahren hat, ist: „Du magst dich hundertprozentig dem Licht zugewandt haben, aber damit erleuchtest du das Dunkel keinen Millimeter weit.“ Glauben und Wissen sind nun mal verschiedene Sphären des Lebens. Nur in ekstatischen Augenblicken fallen für den Mystiker, ob christlich oder muslimisch, beide zusammen. Und auch dieser Satz gilt: „Der Glaube versetzt Berge.“ Manchmal sind diese Berge auch bloß Phantasmagorien. Fest steht, wie auch die Liebe kann man den Glauben nicht mit der Vernunft widerlegen. Aber was folgt aus dieser Tatsache?

Calis trägt zu viele gegensätzliche Erfahrungswelten in sich, um sich je einfachen Botschaften unterordnen zu können. Sein Vater war ein armenischer Gießereiarbeiter, seine Mutter eine jüdische Putzfrau. Sie lernten sich in Istanbul kennen und gingen Anfang der siebziger Jahre nach Bielefeld, wo bereits die Großeltern Gastarbeiter waren. Ein Jahr nach Nuran David Calis’ Geburt 1976 kehrten sie wieder zurück nach Istanbul, Bielefeld war ihnen fremd geblieben. Dann kam der Militärputsch von 1980, dessen Vorboten besonders die Armenier in der Türkei alarmiert hatten: Die Anfeindungen nahmen zu. Der Familie gelang kurz vor dem Putsch die Flucht nach Deutschland, in das ungeliebte kalte, aber sichere Land. Sie waren arm, lebten in einer winzigen Sozialwohnung ohne Bad in Bielefeld-Baumheide. Der Vater verlor seinen Lebensmut, begann zu trinken, und wenn er trank, erwachte eine ungeheure Wut auf dieses Leben in ihm. Mutter und Sohn gingen dann in Deckung vor seinen gewaltsamen Ausbrüchen.

Der Junge besuchte eine evangelische Schule, da waren fast nur Deutsche. Ein Glücksfall, denn dort lernte er die Sprache so gut, dass er später damit arbeiten konnte. Aber er kam aus dem sozialen Abseits, schien stigmatisiert. Nicht das Theater lag für ihn nahe, sondern die Boxhalle. Hier war er erfolgreich, konnte hart zuschlagen. Doch Boxen ist das Gegenteil von sich prügeln, es erfordert Disziplin. Sein erstes eigenes Geld begann er in der Türsteherszene zu verdienen.

Dann traf er ein Mädchen, das Schauspielerin werden wollte. Sie gingen zusammen ins Theater, und Calis eröffnete sich eine Welt. Er begann ein Regiestudium an der Otto Falckenberg Schule in München, arbeitete als Assistent bei Peter Zadek und bekam bereits mit dreißig Jahren den Nestroy-Preis für seine ersten Regiearbeiten. Er schrieb einen Roman, Theaterstücke und Drehbücher für Kinofilme. Mit Fatih Akin verbindet ihn nicht nur eine Freundschaft, sondern auch gemeinsame Filmprojekte, über die man natürlich nicht laut spricht. Vor allem das dramatische Leben seines väterlichen Freundes, des Schriftstellers Doğan Akhanlı, beschäftigt ihn. Mit ihm hatte er in diesem Frühjahr am Schauspiel Köln bei „Istanbul“ zusammengearbeitet, einem Stück, das verschiedene Perspektiven auf die Türkei von heute durchspielt. Akhanlı übernahm darin den kritischen Part. Im Sommer wurde er während eines Spanien-Urlaubs mit einem aus der Türkei kommenden internationalen Haftbefehl festgesetzt. Nach sechswöchiger Prüfung des Falls durfte er Spanien wieder verlassen. Auf dem Flughafen in Köln wurde er dann auf Türkisch mit dem Ruf empfangen: „Glaub nicht, dass dich dieses Land vor der Kugel schützen wird, die dir gilt!“ Jetzt steht er rund um die Uhr unter Polizeischutz.

Calis’ Theater kreist um ein sehr grundsätzliches Thema: Wie wird aus einem starken Gefühl für eine Sache – der Religion! – plötzlich mörderischer Hass? Er sagt, als er siebzehn Jahre alt war, hatte er viele muslimische Freunde und überlegte ernsthaft, ob er zum Islam übertreten sollte. Er tat es nicht. Wahrscheinlich, weil er als Mystiker den einfachen Wahrheiten misstraute und begann, den Zweifel zu lieben. Nur der Zweifler ist in seinem Glauben wirklich frei.

Gerade hat er den Ludwig-Mülheims-Theaterpreis erhalten, vor allem für seine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Religion. Im vergangenen Jahr kam in Köln „Glaubenskämpfer. Religionssuche zwischen Kloster, Moschee und Synagoge“ zur Premiere, wo er viele verschiedene Stimmen zum Glauben versammelte, darunter überaus extreme. Der Salafisten-Aussteiger Dominic „Musa“ Schmitz ist im Moment gerade unauffindbar, Calis erreicht ihn nicht und befürchtet dessen Ausstieg aus dem Ausstieg. Schmitz hatte auf der Bühne berichtet, wie er über den Kontakt zu einem Marokkaner, den er vom gemeinsamen Kiffen her kannte, zum Islam kam. Eines Tages stand dieser glückselig lächelnd vor ihm und schwärmte von seiner neuen Berufung: dem Islam! Dienen und kämpfen, das sind Schlüsselworte, die besonders junge Männer ansprechen. Schließlich begann er den Koran buchstabengetreu zu befolgen, warf seine Zahnbürste weg und reinigte sich mit einem Stück Holz die Zähne, wie es schon der Prophet Mohammed im siebenten Jahrhundert getan hatte. Archaische Lebensvorschriften und Hightech, das ist die bizarre Mischung, auf die die Salafisten setzen. Denn die Propagandavideos für den IS funktionieren wie Computerspiele. Action im Namen Allahs!

Junge Männer wie Dominic „Musa“ Schmitz wurden für Calis auch zum Prototyp von Hakan in „Kuffar. Die Gottesleugner“ am Deutschen Theater in Berlin. Dieser nennt sich von einem zum anderen Tag Abu Ibrahim und predigt blanken Hass. In der Kölner „Glaubenskämpfer“-Inszenierung trafen muslimische Hassprediger wie Bernhard Falk von al-Qaida Deutschland oder Pierre Vogel auf Melanie Dittmer und Ester Seitz. Diese vertreten extrem rechte Positionen, die sich für christlich ausgeben. Es herrscht Glaubenskrieg auf der Bühne.

Haben wir es denn tatsächlich mit einer so gewaltigen Welle des Fundamentalismus verschiedenster Couleur zu tun, oder sind dies bloß anachronistische Rückzugsgefechte radikaler Minderheiten inmitten einer zunehmenden Säkularisierung? Calis warnt davor, den Salafismus nur als Randphänomen aufzufassen. Wenn sich der Islam nicht bald einer Religionskritik aussetzt, vergleichbar mit der historischen Bibelkritik im Christentum, dann wird er sich weiter radikalisieren, vermutet er. Nun sind die in Deutschland lebenden Muslime gefordert, sich als Einzelne denkend mit dem Koran – und den Salafisten! – auseinanderzusetzen. Das von Predigern geforderte „Dienen“ dagegen, die bloße Unterordnung, ist fatal.

Islamische Reformation

Doch man darf angesichts von Fundamentalisten, die bewusst Angst verbreiten wollen, nicht wie das Kaninchen auf die Schlage blicken, so Calis. Und kommen nicht viele muslimische Flüchtlinge aus Syrien zu uns, die den Terror des IS nur knapp überlebt haben? Das wäre doch ein Ansatzpunkt für eine islamische Reformation? Auch sind es noch keine hundert Jahre her, dass in Dayton/Tennessee der „Affenprozess“ stattfand, in dem die Schöpfungsgeschichte der Bibel gegen Darwins Evolutionstheorie ins Feld geführt wurde.

Man fragt sich, wo bleibt heute die Aufklärung, also die permanente Religionskritik, die in Europa mühsam erstrittene Trennung von Staat und Kirche, die Glauben oder Nichtglauben zur Privatsache erklärte? Autonome Moral, die sich auf Gewissensentscheidungen gründet, wäre doch mal eine Position, an die sich in all dem Streit um Glaubensradikalisierungen zu erinnern lohnt! Calis jedenfalls setzt beharrlich auf Dialog, auch mit denen, die eigentlich mit niemandem mehr reden wollen. Natürlich, das weiß er sehr wohl, benutzen sie dann die Bühne zur Selbstdarstellung. Aber im Theater sitzen eben nicht nur Gefolgsleute, sondern mehrheitlich ein selbst denkendes und urteilendes Publikum.

Die großen Themen gehören ins Theater. Und was wäre grundsätzlicher als die Zehn Gebote, die uns das Alte Testament hinterließ! Mit den Bildern von Krzysztof Kieślowskis „Dekalog“ im Kopf, zehn Filme, zehn Stunden Dauer, ging er zu Joachim Klement, dem neuen Intendanten des Staatsschauspiels Dresden. Nicht, dass dieser, als er von den zehn Stunden hörte, sofort vom Stuhl gefallen wäre, aber eine spielplantechnische Praktikabilität mahnte er dann doch vorsichtig an. Calis versteht das, das ist der Job eines Intendanten – seiner jedoch ist ein anderer. Gerade sucht Calis für „Die 10 Gebote“ im kommenden Frühjahr an der Dresdner Bürgerbühne noch Mitspieler. Wen er für das erste Gebot, „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“, braucht, weiß er schon: einen IS-Aussteiger. //

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