Aus der Praxis
Programmieren auf der Probe?
Über die Zusammenarbeit mit Digitalexpert*innen
von Marco Aulbach
Erschienen in: IXYPSILONZETT Jahrbuch 2023: laut & denken (01/2023)
Assoziationen: Dossier: Zukunft des Kinder- und Jugendtheaters Dossier: Digitales Theater Grips Theater

Ist von Theater und Digitalität die Rede, so denken viele vermutlich zunächst an das Streamen von Aufführungen, wie es in den letzten zweieinhalb Jahren gezwungenermaßen oft stattfinden musste. Intensiv wurden Theater-Streams dabei bald auch auf ihre künstlerischen Potenziale hin ausgelotet, wenn beispielsweise die Rolle der Kamera als Gestaltungsmittel erforscht wurde oder wenn im Rahmen von Zoom-Performances Interaktionsmöglichkeiten für die Spielenden und ihr verstreutes Publikum entstanden. Doch so spannend diese Ansätze sind – letztlich kratzen sie nur an der Oberfläche dessen, was Digitaltheater alles sein kann. Zumeist wird hier nämlich auf bereits vorhandene Video- oder Kommunikations- Plattformen zurückgegriffen, die dann künstlerisch bespielt werden. Dafür aber müssen die Inszenierungen zwangsläufig den Möglichkeiten und Grenzen von Computerprogrammen angepasst werden, die oft für ganz andere Zwecke entwickelt wurden. Sicherlich lassen sich derartige Beschränkungen bis zu einem gewissen Grad auch als kreative Herausforderung begreifen. Zu gestalterischen Mitteln, die einen ähnlichen Stellenwert und eine ähnliche Aussagekraft wie etwa das Bühnen- oder Kostümbild einer Produktion haben können, werden digitale Elemente aber erst dann in vollem Umfang, wenn in der Theaterarbeit eigens auf das Konzept einer Inszenierung zugeschnittene Soft- oder gar Hardware zur Verfügung steht.
So ambitioniert dies zunächst klingen mag – erste Schritte in diese Richtung wurden längst gewagt und dies auch schon vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie. Um jedoch bei der Erforschung der Potenziale von Digitalität derart weit gehen zu können, braucht es spezifische Fachkenntnisse, die sich bei Menschen aus den klassischen Theaterberufen so kaum finden lassen. Es ist daher sicherlich kein Zufall, dass es in erster Linie freie Gruppen sind, die nun schon seit über zehn Jahren Pionier*innenarbeit auf diesem Gebiet leisten. Denn die beeindruckenden, oft geradezu revolutionären Theaterarbeiten von Kollektiven wie Rimini Protokoll, machina ex, CyberRäuber oder Prinzip Gonzo wurden nicht zuletzt dadurch möglich, dass es ihnen gelungen ist, ihre künstlerische Praxis für neue Formen von Expert*innenschaft zu öffnen.
Damit etwa Robert Lehninger und die CyberRäuber in ihrer verschachtelten Hänsel und Gretel-Überschreibung Verirrten sich im Wald... am Jungen DT die Grenzen zwischen verschiedenen Realitätsebenen mittels Augmented und Virtual Reality verwischen lassen konnten, brauchte es nicht nur die nötige Hard- und Software. Es mussten auch jene dreidimensionalen Welten überhaupt erst geschaffen werden, durch die sich der Bühnenraum in einen geheimnisvollen Wald verwandeln ließ, wenn er in entsprechenden Momenten durch Tablets betrachtet wurde oder die Zuschauer*innen eine VR-Brille aufsetzten. Wenn in der Rimini Protokoll-Inszenierung Bubble Jam am Berliner GRIPS Theater das jugendliche Publikum mit Smartphones ausgestattet wird und selbst die Bühne betritt, um dort durch eine Kette von Interaktionen im digitalen und physischen Raum Schwarmphänomene oder die Bildung von Filterblasen nachzuerleben, ist dies nur dank eines hochkomplexen, eigens für die Produktion programmierten Systems möglich.
Dies mag für viele zunächst einmal abschreckend klingen. Zu komplex und undurchschaubar scheinen die technischen Vorgänge – spätestens dann, wenn davon die Rede ist, dass Programm-Code geschrieben werden muss. Mir selbst ging es nicht anders, als ich vor eineinhalb Jahren gemeinsam mit meiner Kolleg*in Laura Mirjam Walter am GRIPS Theater die Produktion LEVEL FEAR. Ein Augmented Reality Buch entwickelte. Ziel dieser Inszenierung war es, in Zeiten des Lockdowns eine Geschichte nicht nur als Video-Stream zu den Menschen nach Hause zu bringen, sondern als plastisches 3D-Geschehen, das via Smartphone-App von allen Seiten betrachtet werden kann. Um diese Idee tatsächlich umsetzen zu können, war es notwendig, mit Menschen aus dem Bereich Computerspieleentwicklung zusammenzuarbeiten.
Dies bedeutete für uns zunächst eine Art ‚Kulturschock‘. Nicht nur waren wir plötzlich mit völlig neuen Arbeitsabläufen und Produktionsrhythmen konfrontiert – sogar die Sprache unserer 3D-Designer*innen und unseres Programmierers schien eine andere zu sein. Zu der Überforderung angesichts der Flut an unbekannten Wörtern, die nun tagtäglich auf uns hereinprasselte, gesellte sich zudem eine große Unsicherheit, was die Einschätzbarkeit verschiedenster Dinge angeht. Was ist wie aufwändig und wo liegen die Grenzen dessen, was realistisch machbar ist? Was ist in welcher Phase des Entstehungsprozesses jeweils relevant? Wann müssen bestimmte Entscheidungen spätestens getroffen werden? Welche Änderungen lassen sich zu welchem Zeitpunkt noch ohne Schwierigkeiten vornehmen und welche nicht mehr?
All diese Fragen sind nun keineswegs nur bei der Zusammenarbeit mit Digitalexpert*innen von Bedeutung. Sie stellen sich vielmehr im Umgang mit sämtlichen Beteiligten an einer Theaterproduktion von den Bereichen Bühne und Kostüm über Ton und Musik bis hin zu Licht und Video. Nur haben sich dort überall längst Arbeits- und Kommunikationsabläufe eingespielt, dank derer die verschiedenen Akteur*innen fruchtbar zusammenarbeiten können, obwohl sie ihre Expertise in unterschiedlichen Gebieten haben. Wenn es aber hier möglich war, bis zu diesem Punkt zu gelangen – warum sollte dies im Falle von Theater und Digitalität nicht ähnlich sein? Immerhin geht es nicht darum, selbst Expert*in in 3D-Design oder Programming zu werden. Nötig ist es schlicht, ein Gefühl für die Funktionsweise dieser Bereiche zu entwickeln und eine Form der gemeinsamen Kommunikation zu finden.
Zudem gilt es, eine derartige Zusammenarbeit nicht nur als technische Notwendigkeit zu begreifen, sondern als Chance für einen umfassenden und fruchtbaren künstlerischen Austausch. Im Kontext der bereits erwähnten Stückentwicklung LEVEL FEAR kamen die Game Design-Expert*innen leider erst zu einem verhältnismäßig späten Zeitpunkt mit ins Boot, als nicht nur eine mehr oder weniger vollständige Textfassung, sondern auch schon sehr klare konzeptionelle Vorstellungen von der finalen Theater-App vorlagen. Schnell wurde uns bewusst, wie traurig dies war, da sich die Vielzahl an Anregungen und Ideen, die wir nun plötzlich bekamen, nur noch sehr bedingt in die Inszenierung integrieren ließ. Eben deshalb entsteht gerade in ähnlicher Konstellation ein Nachfolgeprojekt, bei dem die Game Designer*innen von Anfang an mit an Bord sind, sodass ihre Expertise die inhaltliche, dramaturgische und ästhetische Entwicklung der Produktion von Anfang an entscheidend prägen kann.
Insbesondere sollte die Vielfalt an Formen nicht unterschätzt werden, die digitale Interaktion annehmen kann. Denn so, wie ein Kostüm nicht bloß ein Kleidungsstück ist, das Darsteller*innen tragen, um nicht nackt auftreten zu müssen, oder wie Lichtdesign weit mehr bedeutet, als nur die Sichtbarkeit des Bühnengeschehens zu gewährleisten, verhält es sich auch mit den Mechanismen digitaler Interaktion. Die Art und Weise, wie Zuschauer*innen technische Geräte bedienen, bietet einen immensen Gestaltungsraum, in dem sich unterschiedlichste Formen des ästhetischen Erlebens erzielen lassen. Um sich dieses Potenzials jedoch überhaupt erst bewusst zu werden, braucht es den umfassenden Dialog mit Digitalexpert*innen. Anstatt sie bloß als Ausführende vorgefertigter Ideen zu betrachten, gilt es, sie mit ihrer spezifischen fachlichen Perspektive, ihren Erfahrungen und ihrem Wissen als unverzichtbares kreatives Gegenüber zu begreifen.
Bei den beiden erwähnten Produktionen, im Zuge derer wir all diese Erfahrungen sammeln durften, handelt es sich zudem um partizipative, gemeinsam mit jungen Menschen erarbeitete Produktionen. Dies bedeutet zweierlei. Einerseits kommt hier noch eine weitere Form von digitaler Expert*innenschaft dazu. Als Digital Natives bringen Kinder und Jugendliche einen absolut intuitiven Umgang mit modernen Medientechnologien mit, der zudem ihre Gewohnheiten, Erwartungen und Ansprüche in Bezug auf das Erzählen von Geschichten auf eine sehr spezifi sche Weise prägt. Entsprechend unverzichtbar sind sie als Partner*innen, wenn es um die Suche nach neuen theatralen Formen geht. Zu diesem inhaltlich motivierten Punkt kommt noch ein ganz praktischer Vorteil partizipativer Projekte. Da sie organisatorisch weitgehend losgelöst vom regulären Theaterbetrieb sind, bieten sie – alleine schon zeitlich – ganz andere Freiräume für Experimente.
Dies bedeutet aber nicht, dass die Zusammenarbeit mit Digitalexpert*innen im Theateralltag keinen Platz haben kann. Welchen Raum sie dort eines Tages einnehmen wird und was es braucht um diesen zu schaffen, gilt es zwar noch herauszufi nden. Doch gibt es in dieser Hinsicht zunehmend Bewegung, wenn es etwa an Häusern wie dem Theater der Jungen Welt in Leipzig inzwischen eigene Digitaldramaturg*innen gibt oder wenn ein Theater wie das Staatstheater Augsburg die als Experiment begonnene Arbeit mit Virtual Reality zur eigenen Sparte ausbaut. Auch am GRIPS soll kommende Spielzeit im Rahmen eines Forschungsprojekts erprobt werden, wie sich unsere Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Game Designer*innen auf den alltäglichen Betrieb eines Ensemble- und Repertoiretheaters übertragen lassen.
Als Digital Natives bringen Kinder und Jugendliche einen absolut intuitiven Umgang mit modernen Medientechnologien mit.
Noch gibt es eine Vielzahl offener Fragen, die sich in diesem Kontext stellen. Doch wer weiß – vielleicht agieren Informatiker*innen, 3D-Designer*innen und Spieleentwickler*innen eines Tages genau so selbstverständlich an Theatern, wie all die anderen Expert*innen aus den unterschiedlichsten Bereichen, die dort bereits zusammenkommen.