Auftritt
Volkstheater Wien: Komplexes Welt-Ich-Verhältnis am Telefon
„Malina“ von Ingeborg Bachmann in einer Fassung von Claudia Bauer und Matthias Seier – Regie Claudia Bauer, Bühne Patricia Talacko, Kostüm Andreas Auerbach, Gesangs-Kompositionen, Soundscapes & Musikalische Leitung Peer Baierlein, Soundscapes Igor Gross
von Theresa Luise Gindlstrasser
Erschienen in: Theater der Zeit: Theater in Slowenien – Karin Beier: Antike als große Geste (10/2023)
Assoziationen: Theaterkritiken Österreich Claudia Bauer Volkstheater Wien
Mit blonder Perücke, gemustertem Hemd und opulentem Rock kunstvoll zu einer Ingeborg Bachmann zwischen Sekretärin und Kaiserin zurechtgemacht, eröffnet die Schauspielerin Bettina Lieder den Theaterabend vor einem geschlossenen roten Vorhang stehend. Sie stellt die Figuren vor: Neben dem Ich gibt’s den Ivan – er ist das zukünftige Love Interest der Protagonistin –, seine zwei Kinder und den titelgebenden „Malina“. 1971 veröffentlicht, bekommt dieser Roman in einer Fassung von Regisseurin Claudia Bauer und Dramaturg Matthias Seier zur Spielzeiteröffnung am Volkstheater Wien die ganz große Bühne. Heißt: Nach dem megalo-wow-wow Erfolg des Ernst-Jandl-Abends „humanistäää!“ im vergangenen Jahr sind die Erwartungen hoch. Heißt auch: Abgesehen von einer Handvoll Zitate aus der Literaturkritik in Reaktion auf „Malina“, ist hier aus dem Text Bachmanns zu hören, zweieinviertel Stunden lang.So sehr der Prolog zuerst die Figuren, den Ort und die Zeit der Handlung als dingfest-machbare Identitäten fixiert, so schnell ist es damit auch schon wieder vorbei – Vorhang auf für das „Ungarngassenland“, wo Zeiten, Realitäten, Albträume, Telefongespräche und Briefe in brüchigen Beziehungen zueinanderstehen und Bauer das eine Ich in viele auffächert. Auch Evi Kehrstephan, Nick Romeo Reimann, Uwe Rohbeck, Christoph Schüchner, Friederike Tiefenbacher und Johanna Zachhuber tragen Perücke, Hemd und Rock. Mithin gibt es hier nicht nur einen Doppelgänger Malina, der dem Ich als Mitbewohner und oder als ein in die Außenwelt projizierter Persönlichkeitsanteil gegenübersteht, sondern Malina und Ich werden zu einem Chor der insgesamt sieben Alter Egos.
Das Ensemble wechselt einander ab und trotzt dem Staffellauf individuelle Momente des kunstfertigen Sprechens ab, dann wieder vereinen sie die Stimmen, immer präzise artikuliert die Laute, es wird zur Melodie, sie singen, schief, atemlos, zur Live-Musik von Igor Gross, von Alexander Znamenskiy dirigiert. Sowie im Text die Beziehung zwischen Ich und Ivan in Fragmenten erscheint, so taumelt der Abend dank der Kompositionen Peer Baierleins von einer Stimmung zur nächsten. Bald verhüllt von Nebel, dienen die drei Holzkuben, von der Bühnenbildnerin Patricia Talacko wie beleidigt voneinander abgewandt, doch nah an nah platziert, doch vor allem als Projektionsflächen. Zu Grün oder zu Rot oder jedenfalls unverhältnismäßig extrem, so geistern Bilder über diese Wände. Unverhältnismäßig auch die Diskrepanz zwischen dem sonst leeren schwarzen Bühnenschlund und der klaustrophobischen Enge innerhalb der Kuben. Das unruhige 70er Jahre Tapeten-Interieur entzieht sich trotz der voyeuristischen Live-Kamera-Bilder dem verstehenwollenden Blick. Lauter Horror und Irrwitz gleichzeitig. Zum Beispiel: Jemand (in einem menschgroßen Telefonkostüm steckend) versucht verzweifelt auf sich aufmerksam zu machen und präsentiert (Bedrohlich? Errettend? Verführerisch? Verwirrend?) die Hörmuschel als wär’s ein Genital. Eine Verbindung herzustellen, mit Ivan, mit der Welt – es ist komplex.
Samouil Stoyanov, der schon bei „humanistäää!“ mit einer Verausgabung sondergleichen beeindruckte und in Folge sowohl den Alfred-Kerr-Darstellerpreis als auch den Nestroy als Bester Schauspieler erhielt, lässt den Ivan als einzig klar vom Alter Ego Chor unterschiedene Figur schillern. Mit weit offenstehendem Flatterhemd und einer Fear and Loathing in Las Vegas-Brille erklärt er die Bücher im Regal der Protagonistin kurzerhand zum eigentlichen Problem: „Dieses Elend auf den Markt tragen, es noch vermehren auf der Welt, das ist doch widerlich“. Ganz brutal degradierend und ganz lieb helfen wollend fordert er das Ich zum „Weniger denken, mehr lachen!“ auf. „Es macht Ivan nie etwas aus“, heißt es irgendwann. Wie Stoyanov das fiebrige Wollen des Chors ins Leere laufen lässt und die eigene Exzentrik als allernormalste Normalität positioniert, das ist schon wieder: ziemlich großartig.
Während die Inszenierung für den zweiten Teil des Romans (Schlüsselerinnerungen und oder Albtraumabfolgen von Vater, Vergewaltigung und Gaskammer) zum frontalen Vortrag gefriert und den Inhalten eher auszuweichen scheint, wartet sie für das Fanal der Dreiecksbeziehung mit einer Happy End-Pointe auf: Bei Bauer verabschiedet sich das Ich mit keinem „Es war Mord“ von Malina und in die Wohnungswand. Am Ende wie am Anfang steht Lieder allein vor dem geschlossenen roten Vorhang. Jemand – Ivan – ruft an und sie antwortet: „Ich sage doch, hier war nie jemand dieses Namens. Mein Name? Malina.“ Da ist der Selbstverlust plötzlich die Selbstbehauptung (und zwar jenseits einer Ersetzung des „Weiblichen“ durchs „Männliche“). Rückwirkend erklärt sich so, was vorher auch zu Verständnisschwierigkeiten führen kann: Die Nicht-Auseinander-Differenzierbarkeit von Malina und Ich. Es ist jedenfalls komplex!