Auftritt
studioNAXOS Frankfurt: Queerness zwischen Widerstand und Utopie
„BABYLON“ von Jäckie Rydz – Konzept/ Text/ Bühnenbild Jäckie Rydz, Performance Martix Navrot, Jäckie Rydz, Nikolas Stäudte, Musik Martix Navrot, Kostüm Nikolas Stäudte
von Leonard Kaiser
Erschienen in: Theater der Zeit: Queeres Theater – Romeo Castellucci — Die Mysterien von Eleusis (09/2023)
Assoziationen: Theaterkritiken Performance Hessen Dossier: Queeres Theater Jäckie Rydz Studio Naxos Frankfurt

Was wäre, wenn in der Kirche ein Spielplatz wäre? Oder ein Rave?
Was wäre, wenn nur noch queere Menschen die Welt bevölkern? Perversion? Ein Ende der Reproduktion?
BABYLON ist eine neue Welt, die queere Identitäten - Liebe, Lust und Familie – neu entwirft und lebt. BABYLON entsteht im Widerstand gegen die alte Welt kapitalistischer Reproduktionslogiken und religiöser Ideale von Sexualität und Partner:innenschaft.
In BABYLON erforschen die drei Trans-Performer:innen, Jäckie Rydz, Martix Navrot und Nikolas Stäudte, Möglichkeiten queerer Reproduktion entgegen den einverleibten Narrativen des Kapitalismus’, Religion und Kultur. Die Arbeit entstand im kollektiven Prozess mit deutschen, polnischen und englischen Textelementen und wurde erstmals im April 2023 am Nowy Teatr in Warschau gezeigt, jetzt als Teil der Academy Week des Internationalen Theaterinstituts im Rahmenprogramm von Theater der Welt 2023 in Frankfurt.
Die fiktive Messe BABYLON findet im immersiven, diesigen Kirchentheaterraum statt, auf dessen kargen Bänken wir Platz nehmen. Doch statt einem Altar ist diese Kirche mit Schaukel und Wippe ausgestattet, statt Pfarrer sitzt uns herausfordernd dämonisch das Dreigespann der Performer:innen gegenüber, faucht und streckt ihre Zungen heraus, abwechselnd sprechend:
Es ist das Rätsel der Sphinx: Who is tender and gentle? Who can be loving and tough? […] Who would you kill for? Who would you die for? Your mother, your whore or your bride?
Die Antwortmöglichkeiten sind die drei hegemonialen Figuren, die dem Abend seine Struktur geben. Das christliche Ideal der Mutterschaft ist die jungfräuliche Maria – Reproduktion ohne Sex –, die Figur der „Hure“ bildet die Kontrastfolie – Sex ohne Reproduktion – und die Braut – die institutionelle Verschränkung und Festsetzung von Partner:innenschaft, Sexualität, Besitz und Familie. Die spielerische Erprobung und Aneignung der drei Figuren durch die queeren Körper stellen ihre materiellen und symbolischen Realitäten zur Disposition. Mal ironisch, mal spielerisch, mal poetisch nehmen die Performer:innen Haltung zu den Rollen ein und entwerfen subversive Gegenbilder, die die Perversion und Dämonisierung zurückfordern, die queeren Menschen zugeschrieben wird. Die biblische Rezeption des historischen Babylons als Stadt der Sünde und des Exzesses dient in dieser queeren Neudeutung als Spielfläche für einen neuen widerständigen Welt- und Lebensentwurfs – so z.B. durch die gebetsartige Sprache, in der BABYLON als Ort der Perversion zu einem Zuhause umgedeutet wird:
[B]eyond perversion there is BABYLON. […] Perversion seeks me and I seek perversion, I admit.
Rydz’ poetischer Text bildet dabei ein dichtes Netz an Referenzen, das seine Fäden zwischen alten und neuen Welten spannt. Darin verfangen sich Bibelverse, kapitalismuskritische Theorie, Volksliteratur, fabulative Gebete und Formulierungen der Utopie BABYLONs. In Momenten der Textimprovisation – wie zum Thema: Ich liebe meine Mutter … – tritt allerdings auch der persönliche Zugang der Performer:innen selbst zu dem Thema in den Vordergrund. Auszüge und Referenzen aus Hubert Fichtes „Die Geschichte der Empfindsamkeit“ erzählen schlaglichthaft von den Konflikten und Begegnungen des schwulen Autors Jäcki und Wolli, deren Leben mit der deutschen Nazi-Vergangenheit verwoben sind, und verweise dabei auch auf einer Meta-Ebene auf ein queeres Erleben und Festschreiben von Vergangenheit.
Vor dieser komplexen Textfläche liegen die spielerischen Bühnenhandlungen wie eine opake Folie. Bei Ball-, Fangenspielen und Seilspringen werden Liebesbekundungen an ihre Mütter atemlos und das gemeinsame Rezitieren aus bereitgestellten Gesangsbüchern schluckt die Worte mit der schieren Wirkungskraft des Kollektivs, was bei einer Rave-artigen Tanzsequenz auch akustisch passiert. Ästhetisch erweist sich die Arbeit durch die Subversion tradierter Symboliken als widerständig: Stäudtes Kostümteile verfremden Maria zur dreiköpfigen Kreatur und im Max Ernst-inspierten Engelsgewand triumphiert in der Tat der Surrealismus. Und auch im Soundtrack von Navrot bilden Orgeltöne nur eine Referenz des sonst unheimlichen Techno-Kolorits.
In BABYLON wird die Frage nach Reproduktion zu einer Suche nach queerer Identität zwischen Widerstand und Utopie. Statt Eindeutigkeit und Klarheit bietet dieser Entwurf von einer komplexen Weitsicht darauf, wie individuelle Identitäten mit kulturellen Narrativen und hegemonialen Strukturen verwoben und einverleibt sind. Der Rückblick einerseits auf die bis heute anhaltenden Logiken und anderseits auf die spezifische Geschichte queerer Menschen, deren schiere Existenz der realen Welt quer zu stehen scheint, gibt dennoch neuen Fragen sowie Fabulation und Hoffnung den notwendigen Raum. Die Suche nach queerer Identität bleibt eine Suche nach nach einem selbstbestimmten Zugang zu Körper, Sexualität und der Bedeutung von Partner:innenschaft, nach Empfindsamkeit, Liebe und Lust.