Theater der Zeit

Auftritt

Vorarlberger Landestheater: Identitätscollage gegen das Vergessen

„Wunsch und Widerstand“ von Thomas Arzt (UA) – Regie Stefan Otteni, Bühne und Kostüme Matthias Strahm

von Christoph Leibold

Assoziationen: Theaterkritiken Österreich Stefan Otteni Vorarlberger Landestheater

Dietmar Pröll, Nurettin Kalfa, Luzian Hirzel, Maria Lisa Huber in „Wunsch und Widerstand“, in der Regie von Stefan Otteni Foto: Anja Köhler
Dietmar Pröll, Nurettin Kalfa, Luzian Hirzel, Maria Lisa Huber in „Wunsch und Widerstand“, in der Regie von Stefan OtteniFoto: Anja Köhler

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Rechts vorm Portal ein klimpernder Barpianist, links eine Theke mit Barkeeper und dazwischen, auf einem Stuhl an einem Kneipentisch: ein angejahrter Herr im Anzug, der vor dem Mann hinterm Tresen sein Leben ausbreitet. In schlaglichtartiger Szenenfolge läuft es noch einmal ab, eingefasst vom Theaterportal der Bühne wie eine Binnenerzählung innerhalb der Rahmenhandlung. Das ist die kompositorische Grundanlage von „Wunsch und Widerstand“, diesem als „Überlebensgeschichte“ klassifizierten Theaterstück über den in Feldkirch südlich von Bregenz geborenen Anwalt, Autor und KZ-Häftling Max Riccabona (1915-97), das das Vorarlberger Landestheater bei Thomas Arzt in Auftrag gegeben hat.

Arzt hatte bereits vor drei Jahren an selber Stelle die komplexe Biografie der ebenfalls aus der Region stammenden Expressionistin und NS-Kulturfunktionärin Stephanie Hollenstein dramatisiert und darf spätestens seit seinem formidablen Roman „Die Gegenstimme“ über Anpassung und Widerstand im Nationalsozialismus als Spezialist für die literarische Aufbereitung des entsprechenden historischen Themenkomplexes gelten.

Wer eine Art Biopic für die Bühne über Max Riccabona erwartet hat, dürfte sich allerdings enttäuscht sehen. Schon Riccabona selbst war ein äußerst unzuverlässiger Erzähler seiner eigenen Vergangenheit, der Erlebtes und Erfundenes vermischte, um dabei wahrhaftiger Empfindung nahezukommen. Sozusagen ein Pionier des autofiktionalen Erzählens, das seit einigen Jahren zuverlässig Bestseller produziert. Das Stück von Thomas Arzt nun erweist sich als Erinnerungspuzzle, dessen Einzelteile sich nicht zu einer schlüssigen Narration in gängiger Spielfilmdramaturgie zusammenfügen lassen. Zwar ging Arzts Schreiben intensive Recherche voraus, doch so akribisch er die Archive auch durchstöbert haben mag, so sehr offenbart er in seinem Stück ein Bewusstsein dafür, dass selbst eine Fülle unumstößlicher Fakten nie ein lückenloses Bild ergeben kann. Viel Wesentliches ist nicht in Akten dokumentiert, weil es sich allein in den Köpfen der Menschen abgespielt hat, und damit Gegenstand der Spekulation ist.

In Stefan Ottenis Uraufführungs-Inszenierung steht gleichwohl ein überdimensioniertes Aktenregal auf der Bühne, Sinnbild womöglich für des Stückautors Archivwühlarbeit, vor allem aber Kulisse, die die Anwaltskanzlei von Max Riccabonas Vater Gottfried markiert, dessen Frau einer jüdischen Familie entstammt. Trotz unübersehbar bedrohlicher Voranzeichen vor dem nahenden „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland glaubt Gottfried an den gesellschaftlichen Zusammenhalt über unterschiedliche Gesinnungen hinweg. Ein fataler Trugschluss, wie sich spätestens 1942 zeigt, da Sohn Max als so genannter „jüdischer Mischling“ im KZ Dachau inhaftiert wird. Weil der Vater jedoch Bestechungsgelder zahlt, erfährt der Sohn Sonderbehandlung, die ihm letztlich das Überleben sichert.

In Bregenz verleiht der Schauspieler Dietmar Pröll dem alten Max Riccabona, der hier als Zuschauer und Autor des eigenen Lebens in Personalunion auftritt, anfangs eine Mischung aus Altersmilde und-müdigkeit, lässt ihn aber zunehmend an Contenance verlieren, je tiefer er sich selbst unter die Figuren seiner Vergangenheit mischt – darunter auch sein jüngeres Ich (Luzian Hirzel). Mit bewundernswerter handwerklicher Präzision lässt Regisseur Otteni die unterschiedlichen Zeitebenen der Handlung sowie die Lebensstationen Max Riccabonas ineinanderfließen. Das sechsköpfige Ensemble wechselt die Rollen ebenso behände wie sich dank weniger markanter Requisiten und Kulissenteile die Schauplätze wandeln. Das Klavierspiel des Barpianisten (Oliver Rath) dient dabei als geschmeidiger Soundteppich, gelegentlich im Stile von Stummfilmmusik, meist nach Art eines modernen Kino-Scores.

Die Auseinandersetzung mit dem Austrofaschismus hat Tradition in der Theaterliteratur. Dass sie sich trotz Kapazitäten wie Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek bis heute nicht erledigt hat, belegen jüngste Umfragen, die einmal mehr von einem merklichen Ruck nach weit Rechts in Österreich zeugen. Allein das macht diese Aufführung notwendig und relevant. „Wunsch und Widerstand“ ist aber nicht nur ein Statement gegen Geschichtsvergessenheit. Im Ringen Riccabonas um die Erinnerung und damit auch um die Deutungshoheit über die eigene Biografie zeigt Thomas Arzt zudem, wie überaus fragil und fragwürdig das eigentlich ist, was so viele ganz selbstverständlich als unumstößliche Identität behaupten; und wie stark dieses Gebilde immer auch von Fremdzuschreibungen abhängt („Mischling!“), die mitunter fatale Wirkung entfalten. In Zeiten wie den unsren, da mit Identitäten einmal mehr (Ausgrenzungs-)Politik betrieben wird, quer durch sämtliche Gruppierungen des politischen Spektrums hindurch, artikuliert Arzt mit dem dicken Fragezeichen, das er hinter das Konstrukt Identität setzt, eine notwendige Gegenstimme. Er mag nicht der erste sein, der das tut. Das Lager, das er damit stärkt, kann aber gar nicht groß genug sein.

Erschienen am 28.2.2023

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