Theater Basel: Gesang auf die Vergeblichkeit
„Abteilung Leben“ – von Christoph Marthaler und Ensemble (UA) – Regie Christoph Marthaler, Bühne Duri Bischoff, Kostüme Sara Kittelmann, Musik Martin Schütz
von Annette Hoffmann
Assoziationen: Schweiz Theaterkritiken Christoph Marthaler Theater Basel

Herman Melvilles Schreiber Bartleby hatte ein gutes Gespür. Seine abschlägige Antwort „I would prefer not to“ auf alle Zumutungen der Kanzleiarbeit hätte durchaus zukunftsweisend sein können. Wäre er nicht so radikal gewesen. Was bleibt den heutigen Büromenschen? Rädchen im Betriebsablauf, Kokettieren mit der Verweigerung, berufsbedingte Deformationen? Das Theater Basel jedenfalls geht kurz vor Saisonende nach draußen. Ziel ist die ehemalige Gemeindeverwaltung Birsfelden. Dass man auf dem Weg dahin an einem Beerdigungsinstitut vorbeikommt, sollte man nicht zu wörtlich nehmen. Nicht, dass Bürokratie noch nie getötet hätte, doch die Angestellten in Christoph Marthalers „Abteilung Leben“ dämmern vor sich hin, sie befinden sich in einer großen Warteschleife. Die verwaltungstechnischen Fragen über Leben und Tod werden hier schon lange nicht mehr gefällt.
In drei Gruppen wird das Publikum durch die verlassenen Büros, den Wartebereich und den bereits vor Jahren in ihren Rondellen vertrockneten Pflanzen und dem Archiv durchgeschleust, um im Saal oben wiedervereint zu werden. Das braucht einiges an Timing. Es geht vorbei an Schreibtischen, auf denen nicht aufgelegte Telefonhörer ruhen, aus denen aberwitzige Servicegespräche zu hören sind: Sie sind ein neuer Kunde. Ich bin bereits Kunde. Ihr Name beginnt mit einem P, mit einem Ö. An Wänden mit interessanten Farbkonzepten, an denen das immer gleiche Porträtfoto hängt und an einer Soundinstallation, in der sich ein Mann und eine Frau über eine Flucht in die Schweiz unterhalten. Ein Raum birgt die traurigen Reste einer Feier mit Luftschlangen auf dem braunen Boden, ein Paar leere Flaschen, ein sardonisches Lachen von einem Kassettenrekorder, ein Deko-Weihnachtsbaum steht auf einem Tisch, darüber ein Schriftzug „Happy Birthday“ – warum sich auch zu zwei Anlässen die Mühe machen (Bühne Duri Bischoff). Später, als man längst im Archiv sitzt, denkt man noch einmal daran, während abgebrochene Geburtstagsständchen herüberwehen. Und als die Kollegen endlich die richtige Tür öffnen, steckt Martin Hug umständlichst eine Kerze auf ein Stück Kuchen und ist erst fertig, als der Chor längst wieder eine falsche Tür aufreißt. Hug wird den Kuchen dann allein essen und wirkt dabei, als hätte er eine Belohnung verdient.
„Abteilung Leben“ braucht ein bisschen, bis es nicht mehr nur eine Abteilung ist. Aber dann entfaltet es die für Christoph Marthaler charakteristische krude Mischung aus Melancholie und dadaistischem Humor. „Ach, wenn es doch immer so bliebe“, singt einmal das Ensemble – es ist ja längst vorbei. In dem ehemaligen Wartebereich unterliegen die Angestellten jener Effizienz, mit der hier einmal Informationen verwaltet wurden. Jan Bluthardt folgt bei jedem Gang einem unsichtbaren Raster, während Vera Flück und Gala Othero Winter dieses als Schotten- und Karomuster auf den Leib geschneidert ist (Kostüme Sara Kittelmann). Gleich mehrfach fällt Bluthardt der Länge nach hin, beim Versuch, die Papphüllen wieder zu stapeln, entwickelt sich ein eigener Rhythmus. Überhaupt ist ja alles Rhythmus. Die Texte von Jürg Laederach bis Gertrude Stein und Marthaler selbst sind musikalische Vorlagen, manchen werden die Vokale ausgetrieben und Komposita wie Regelschulzeit, Gewinnspanne, Durchgangstarif, Broteinheit, Urnengang werden wie ein Kanon in den Raum gerufen (Musik Martin Schütz). Jacob Maison schlägt auf dem Klavier eine paar Töne an und es erschallt eine Durchsage, in der zur Bezahlung von Schmiergeld in Höhe von 370.000 Franken in kleinen Scheinen und unterschiedlichen Währungen aufgefordert wird.
Und dann befinden wir uns auch schon auf der anderen Seite des Wartesaals im Archiv: Aktenschränke und ein Lagerlift, der aussieht wie aus den 1950er Jahren. In Schubladen neben- und übereinander haben hier unzählige Akten Platz gefunden. Martin Hug, im gleichen hellen Anzug und mit schlechtsitzender Perücke wie alle anderen Männer, bedient diesen Rotomaten wie ein Tasteninstrument. „Hai-Hei, klemmt, Service“, er bleibt vor „Hohl-Hug“ sitzen und als Karl-Heinz Brandt vorbeiläuft und vom Nibelungenhort singt, macht er ein Telefon nach: rrring. Das klingt kindisch, ist aber ziemlich witzig. Und wenn dann noch seine Büroliebe, Carina Braunschmidt vorbeigehend die Hände überm Kopf flattern lässt, ist das komisch und poetisch zugleich. Als schließlich alle im Sitzungssaal zusammenkommen und in die Begleichung der Hundesteuer eingeführt werden, versöhnt einen das zwar nicht mit der unheimlichen Automatisierung von Verwaltung, doch es amüsiert. Der Abend zerflattert gegen Ende, doch in seinen besten Moment ist man hin und weg.
Erschienen am 7.6.2023