Theater der Zeit

3 Aspekte der Analyse

3.4 Rhythmus und Zeiterfahrungen in der Oper

von Clemens Risi

Erschienen in: Recherchen 133: Oper in performance – Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen (08/2017)

Assoziationen: Musiktheater

Abbildung 26: Walküre. Inszenierung: Patrice Chéreau. Peter Hofmann (Siegmund), Jeannine Altmeyer (Sieglinde). Bayreuther Festspiele 1980. Foto: Wilhelm Rauh (Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung, Bayreuth – Zustiftung Wolfgang Wagner)
Abbildung 26: Walküre. Inszenierung: Patrice Chéreau. Peter Hofmann (Siegmund), Jeannine Altmeyer (Sieglinde). Bayreuther Festspiele 1980. Foto: Wilhelm Rauh (Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung, Bayreuth – Zustiftung Wolfgang Wagner)

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Die „andere“ Zeit der Opernaufführung

Wenn es beim Performativen insbesondere um Ereignishaftigkeit, Prozessualität, Vollzüge und Handlungen geht, dann ist eigentlich die Zeit die entscheidende Dimension, die das Performative auszeichnet. Doch wie lässt sich diese für die Künste Musik und Theater sowie für das Performative entscheidende Dimension begrifflich und analytisch fassen? Wenn in der Opernforschung über das Problem der Zeit verhandelt wird, so geht es in der Regel entweder um die Unterscheidung von dargestellter Zeit und Darstellungszeit (in Anlehnung an die in der Erzählforschung unterschiedenen Ebenen erzählte Zeit und Erzählzeit) oder um das Drei-Zeiten-Modell einer Inszenierung, nach dem in einer Opernaufführung immer drei Zeitschichten gleichzeitig aktiv sind, und zwar die Epoche der Handlung, die Epoche der Entstehung (also die Historizität des Textes und der Musik) und der Zeitpunkt der Aufführung. Interessiert man sich jedoch insbesondere für die performative, also die Aufführungsdimension von Oper, verschiebt sich der Fokus notwendig auf die Erlebniszeit – ein Aspekt, der in der Opernforschung für gewöhnlich außer Acht gelassen wird.

Bereits der für seine spitze Zunge bekannte Theaterkritiker Alfred Kerr wies mit seinem berühmten Bonmot auf dieses Phänomen bei der Beschäftigung mit Zeiterfahrung in Musik und Theater hin – auf die Differenz von objektiver, der sogenannten chronometrischen Zeit, und von subjektiver, das heißt Erlebniszeit. Von einer nicht näher bekannten Aufführung soll er berichtet haben: „Die Vorstellung begann um acht Uhr, als ich zwei Stunden später auf die Uhr schaute, war es halb neun.“ Was bei der Wettervorhersage erst in jüngster Zeit eingeführt wurde, der Terminus der „gefühlten Temperatur“, ist bezogen auf die Zeit, also die gefühlte Zeit, schon wesentlich länger bekannt.

Im Rahmen dieser Studie interessieren mich zwei ganz spezifische Erfahrungen hinsichtlich der Zeit, die in der Forschung, wenn überhaupt, dann nur für die Musik, seit 1945 eine Rolle spielen:1 Zum einen ist dies der Verlust des Zeitempfindens, also die Orientierungslosigkeit hinsichtlich des zeitlichen Ablaufs, herbeigeführt durch Beschleunigung und Zeitverkürzung oder Zeitdehnung und Intensivierung der Zeit. Ein Zustand, den man mit Henri Bergson als den der „reinen Dauer“ oder „durée“ bezeichnen könnte2 und der sich der Messbarkeit und dem Bewusstsein entzieht. Zum anderen geht es um die bewusste Wahrnehmung von Zeit, die Bewusstwerdung von Zeiterfahrung. Schließlich soll im zweiten Teil des Kapitels ein spezifischer Parameter der Zeiterfahrung diskutiert werden, der für die Zeitwahrnehmung sowohl von Musik als auch von Theater von entscheidender Bedeutung ist: der Rhythmus.

Großen Einfluss auf das Denken über die Zeit im 20. Jahrhundert hatten die phänomenologischen Ansätze von Henri Bergson und Edmund Husserl, die unter deutlichem Rekurs auf antike Positionen die Erfahrung von Gegenwart als zentral für die Wahrnehmung von Zeitlichkeit beschrieben haben: Gegenwart ist nur denkbar in ihrem ständigen Bezug auf Vergangenheit und Zukunft (Retention und Protention). Illustriert und differenziert wurden ihre Positionen durch wahrnehmungspsychologische und neurobiologische Untersuchungen, etwa mit Verweis auf die sogenannte „psychische Präsenzzeit“ – die Zeitspanne von etwa drei bis fünf Sekunden, innerhalb derer das Gedächtnis Ereignisse als Gestalt verarbeiten kann – und bezogen auf Synthetisierungsleistungen des Menschen.3

Wenngleich die Minimalunterscheidung zwischen einer objektiven und einer subjektiven Zeit allgemein akzeptiert zu sein scheint,4 wurde auch Kritik an dieser Unterscheidung geübt, etwa von Norbert Elias mit seinem Vorschlag einer soziologischen Verankerung des Zeitbegriffs.5 Auch die sogenannte objektive Zeit, so Elias, sei nichts anderes als eine von Menschen zwischen Menschen getroffene Verabredung zur Organisation bestimmter Handlungsabläufe mit unterschiedlich hohem Standardisierungsgrad, wobei zum Beispiel Uhren einen sehr hohen Standardisierungsgrad haben. Zeiterfahrung und -wahrnehmung seien ein „In-Beziehung-Setzen“ von Situationen und Erfahrungen.6 Diese Auffassung öffnet den Blick dafür, dass Zeiterfahrung als performativ, als Vollzug und als Tätigkeit verstehbar ist.

Ob man nun aber von einer Abgrenzung objektiv/subjektiv oder von einer Abgrenzung verschiedener subjektiver Verabredungen spricht – entscheidend ist doch immer das Wandlungspotenzial, die Variationsvielfalt von Zeiterfahrungen, die auf einer immer wieder je Erfahrung neu zu beobachtenden Stiftung von Zeit beruht. In diesem Sinne kann bezogen auf die Aufführung von Musik oder Theater mit Hans-Thies Lehmann vom Kreieren einer „anderen Zeit“7 der Performance gesprochen werden. Dabei ist zu fragen, wovon sich diese „andere Zeit“ konkret absetzt. Für das, wovon sich das „andere“ absetzt, lassen sich mindestens drei Maßstäbe angeben: zum einen die biologischen Voraussetzungen, wie etwa die psychische Präsenzzeit und die subjektiven Prädispositionen; zum Zweiten die Erfahrungen mit Zeitstrukturen, die der Einzelne im Alltag sowie mit Musik und Theater gesammelt hat; sowie zum Dritten die aktuelle Erinnerung, vor der die Gegenwart erfahren und die Antizipation gebildet wird (Retention und Protention). Als „andere Zeit“ sind dann die zu Anfang genannte Erfahrung des zeitlichen Orientierungsverlusts durch Beschleunigung oder Dehnung und die Bewusstwerdung der Zeit durch Erleben verschiedener Zeitschichten zu bewerten.

Zunächst interessieren mich die beiden zentralen Erfahrungen der Zeitdehnung und Zeitverkürzung. Durch welche Mittel oder Parameter können diese „anderen Zeiten“ in der Aufführung zustande kommen? Zum einen können besondere Kompositionsstrukturen eine Wirkung entfalten: Komponisten können gegen die biologischen Voraussetzungen operieren und haben dies auch getan, bewusst oder unbewusst, indem sie die von der inneren Uhr geprägte Zeitwahrnehmung herausgefordert und auch überfordert haben. Ich beziehe mich hier auf Versuche von Komponisten, in der Komposition aus der teilbaren und dadurch voraussehbaren Quadratur des Tonsatzes auszubrechen, wie etwa Wagner mit seiner „Unendlichen Melodie“ – wobei ich hier lediglich die keineswegs unumstrittene kompositionstechnische Perspektive des Begriffs meine,8 – oder zeitgenössische Tendenzen wie Minimalismus, Präsentismus und andere. Wagners „Kunst des Übergangs“ und seine „Unendliche Melodie“ können als Spiel mit der Wahrnehmung von Zeitstrukturen gelesen werden, als Unterminierung der auf der psychischen Präsenzzeit beruhenden Gestaltregel bzw. als Überforderung der Syntheseleistungen dieser Gestalten.9 Beispiele für das, was im Allgemeinen mit Wagners „Unendlicher Melodie“ kompositionstechnisch identifiziert wird, sind etwa die große Szene Isolde/Tristan aus dem zweiten oder Isoldes Liebestod aus dem dritten Akt von Tristan und Isolde. Beide Szenen zeichnen sich u. a. dadurch aus, dass sie einen Verlust des Zeitempfindens durch Dehnung und Intensivierung bewirken. Friedrich Nietzsche spricht sich – nach seiner Abwendung von Wagner – zwar polemisch gegen die „Unendliche Melodie“ aus, unterstreicht darin aber genau die hier gemeinte Wirkungsweise:

„Die künstlerische Absicht, welche die neuere Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark aber undeutlich, als ‚unendliche Melodie‘ bezeichnet wird, kann man sich dadurch klar machen, dass man in’s Meer geht, allmählich den sichern Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem wogenden Elemente auf Gnade und Ungnade übergiebt: man soll schwimmen. In der bisherigen älteren Musik musste man […] tanzen: wobei das hierzu nöthige Maass […] eine fortwährende Besonnenheit erzwang […]. – Richard Wagner wollte eine andere Art Bewegung der Seele, welche, wie gesagt, dem Schwimmen und Schweben verwandt ist. […] Sein berühmtes Kunstmittel […] – die ‚unendliche Melodie‘ – bestrebt sich alle mathematischen Zeit- und Kraft-Ebenmässigkeit zu brechen […]. Er fürchtet die Versteinerung, die Krystallisation […] – und so stellt er dem zweitactigen Rhythmus einen dreitactigen entgegen, führt nicht selten den Fünf- und Siebentact ein, wiederholt dieselbe Phrase sofort, aber mit einer Dehnung, dass sie die doppelte und dreifache Zeitdauer bekommt.“10

Es entsteht ein kontinuierlicher Klangstrom eines andauernd hinausgezögerten Höhepunkts; es ist die lustvoll verweigerte Auflösung oder Entspannung, die hier zu einer Erfahrung von reiner Dauer beiträgt. Der Effekt, der sich einstellt, ist der einer Zeitdehnung. Um diese Auffassung zu unterstreichen, möchte ich auf ein Modell verweisen, das der Philosoph und Psychologe Wilhelm Keller 1964 vorgeschlagen hat und in dem er, auf der Basis der von Husserl vorgenommenen Differenzierung, die Parameter Retention und Protention, also die stete Bezugnahme auf das Vergangene sowie auf die Erwartung von Zukünftigem, mit der gegenwärtigen Ereignisfülle in Beziehung gesetzt hat:

„Die Zeitdehnung bei großer Fülle scheint auf eine gleichzeitig verstärkte Retention, also ein intensiviertes Behalten alles Einzelnen zurückzugehen.

Die Zeitdehnung bei geringer Fülle aber scheint auf gleichzeitig intensivierter Protention zu beruhen: es besteht dann eine überschießende, weil eben leer bleibende, Gewärtigungs- oder Erwartungshaltung (das Inhaltssehnen in der Langeweile).

Verkürzung der Zeit dagegen bei großer Fülle ergibt sich, wenn gleichzeitig eine Schwäche der Retention besteht. Das Viele wird zwar durchaus, aber eben unnachhaltig und daher zeitverkürzt erlebt (Musterbeispiel: angeregte, kurzweilige Unterhaltung!).

Die Verkürzung bei Erlebnisleere endlich geht zu Lasten einer gleichzeitig herabgesetzten Protention. Es besteht dann auch bei so wenigen Inhalten kein Überschuss an Gewärtigung mehr.“11

Nach Kellers Modell liegt in den genannten Beispielen eine verstärkte Protention bei geringer Ereignisfülle, also eine Zeitdehnung vor. Die Bewertung als geringe Ereignisfülle liegt darin begründet, dass keine abgrenzbaren Melodieteile oder Gestalten im Vordergrund stehen, sondern stattdessen der Eindruck eines einzigen Stromes oder Flusses eines Gedankens vorherrschend ist.

Erfahrbar sind „andere Zeiten“ auch und besonders in den spezifischen Verhältnissen von Musik und Szene, von auditiver und visueller Wahrnehmung in Aufführungen von Operninszenierungen. Als in Patrice Chéreaus Bayreuther Walküre (1976 bis 1980) am Ende des ersten Aktes Siegmund und Sieglinde sich textlich und musikalisch im vorwärtsdrängenden, geradezu aufpeitschenden Gestus der Musik als Zwillingsgeschwister und vor allem Liebende erkannten, sah man Jeannine Altmeyer als Sieglinde und Peter Hofmann als Siegmund in heftiger körperlicher Bewegung, rastlosen leidenschaftlichen Umarmungen zu Boden gehen und sich auf dem Boden wälzen. Ihre Körper zogen sich förmlich an, schienen sich berühren zu müssen und quasi zu verschlingen (Abbildung 26). In Heiner Müllers Inszenierung von Tristan und Isolde aus dem Jahr 1993 im Licht- und Farbkubus des Bühnenbildners Erich Wonder und in Kostümen des japanischen Mode-Designers Yohji Yamamoto dagegen wurde dem alle Regeln übertretenden Liebespaar und dem Publikum genau die Bestätigung der orgiastischen Klänge des Liebesduetts im zweiten Akt verweigert und ereignete sich eine ungeheure Spannung der Distanz: Siegfried Jerusalem als Tristan und Waltraud Meier als Isolde bewegten sich wie in Zeitlupe aufeinander zu und streckten im Moment des musikalischen Höhepunkts12 ihre Handflächen einander entgegen. Bevor es jedoch zu einer Berührung kommen konnte, verharrten die Hände wie erstarrt in deutlich erkennbarer Entfernung voneinander (Abbildung 27). Es war gerade diese Distanz, die gleich einem physikalischen Experiment größtmögliche Energieströme zwischen Waltraud Meier und Siegfried Jerusalem einerseits und zwischen Bühne und Publikum andererseits auszulösen imstande war. Die Geste ließ auf eine aufgestaute Energie in der Körperspannung der beiden Darstellenden schließen, die sich nicht entladen konnte und sich vielleicht gerade deswegen besonders stark auf den Zuschauer übertrug. Statt des körperlichen Vollzugs von Anziehung, wie ihn die Musik womöglich nahelegt, kam eine bis in die Fingerspitzen gespannte physische Anziehung zum Tragen.13

Beide Momente sind musikalisch in ähnlicher Weise von einer vorwärtsdrängenden, Spannung aufbauenden Linie geprägt, einer sequenzierenden Steigerung einer Gruppe von vier Achtelnoten (im Tristan allerdings geringfügig verzögert durch die Punktierung), die sich bis zu einem nicht mehr steigerungsfähigen Extrem – in Höhe und Lautstärke – aufbaut und dann gewissermaßen erwartbar und voraushörbar explodiert. Die musikalischen Parallelen sind zudem auch in den Rahmenanweisungen offensichtlich: Walküre: „Sehr belebt – Immer schneller“ – 4/4-Takt; Tristan und Isolde: „Immer belebter – Sehr lebhaft“ – 4/4-Takt.14

Der große Unterschied besteht in der Art der Zusammenführung von akustischer und optischer Ebene und führte zu zwei völlig verschiedenen Zeiterfahrungen. Zur Verdeutlichung möchte ich das Modell von Keller heranziehen. Im Fall von Chéreaus Walküre ließ sich eine Parallelisierung von musikalischer und szenischer Bewegung wahrnehmen, eine gegenseitige Verstärkung der Geschwindigkeit bzw. Beschleunigung. Beschleunigung oder Zeitverkürzung erklärt das Keller’sche Modell folgendermaßen: „Verkürzung der Zeit […] bei großer Fülle ergibt sich, wenn gleichzeitig eine Schwäche der Retention besteht. Das Viele wird zwar durchaus, aber eben unnachhaltig und daher zeitverkürzt erlebt (Musterbeispiel: angeregt, kurzweilige Unterhaltung!).“15 Die Inhaltsfülle bestand in den vielen, schnellen Bewegungen der beiden Darstellenden. Dabei war aber kein großer Aufwand des Rückbezugs auf in der Aufführung etablierte Codes notwendig, alles war aus der grundsätzlichen Alltagserfahrung heraus nachvollziehbar, die Retention war herabgesetzt.

In der Tristan-Aufführung dagegen wurden Erwartungen an eine Parallelisierung von Musik und Bewegung geschürt, aber nicht erfüllt. Die Bewegung stockte. Die Musik lief der Bewegung davon. Durch die Kollision der zwei Geschwindigkeiten wirkte die Langsamkeit der Bewegung umso stärker. Es trat eine Zeitdehnung ein: „Die Zeitdehnung bei geringer Fülle aber scheint auf gleichzeitig intensivierter Protention zu beruhen: es besteht dann eine überschießende, weil eben leer bleibende, Gewärtigungs- oder Erwartungshaltung (das Inhaltssehnen in der Langeweile).“16 Die große, nicht erfüllte Erwartung der Parallelisierung von Musik und Szene bewirkte die Intensivierung der Protention, wobei die slow motion für die geringe Inhaltsfülle verantwortlich war.

Wie in der Zusammenführung von auditiver und visueller Wahrnehmung einer Opernaufführung neue, „andere“ Zeiten gestiftet werden, zeigte auch das bestimmende szenische Moment in Peter Mussbachs Inszenierung von Verdis La Traviata17 an der Staatsoper Berlin 2003. Die schwarze Bühne war mit einem Gazeschleier verhängt, hinter dem Lichtprojektionen eine Autobahn suggerierten, auf der Christine Schäfer als Violetta als vom Wege Abgekommene umherwankte. Auf dem Gazeschleier waren Projektionen von Regentropfen sichtbar, und in größeren Abständen bewegte sich ein immenser Scheibenwischer über den Gazeschleier von einer Seite der Bühne zur anderen. Es vermittelte sich der Eindruck, als würden wir im Publikum im Auto sitzen, auf der Autobahn fahren und eine Person am Straßenrand entdecken, die sich verlaufen zu haben scheint.

Der Scheibenwischer markierte zeitliche Einschnitte; die großen Abstände zwischen den Scheibenwischer-Bewegungen verwiesen auf zwei unterschiedliche zeitliche Ebenen. Zwischen jeder Bewegung des Scheibenwischers stand die Zeit quasi still und gab Raum für die Traviata-Handlung: für die Monologe Violettas, die als innere Monologe einer Entrückten erschienen, wie auch für die – ebenfalls nur in der Erinnerung oder Fantasie der vom Wege Abgekommenen stattfindenden – anderen musikalischen Handlungsmomente. Die Scheibenwischer-Bewegung holte sichtbar in den Vordergrund, was als alltägliche, objektiv ablaufende Zeit gelten kann, und zeigte, inwiefern die Zeit der Opernaufführung eine völlig andere, eine extrem verlangsamte, Zeit-Inseln ausbildende Zeit ist.

Auch in Michael Thalheimers Inszenierung von Janáčeks Katja Kabanowa18 2005 an der Staatsoper Berlin war es ein konkretes szenisches Mittel, das die Bewusstwerdung eines „anderen“ Verstreichens von Zeit verursachte. Ein zentrales Bühnenelement war eine bewegliche Wand (Abbildung 28), die sich von vorne links nach hinten rechts diagonal über die Bühne erstreckte. Diese Wand bewegte sich während der Aufführung wie an einem Scharnier, das vorne links verortet werden konnte, immer weiter nach vorne bis an den Rand des Orchestergrabens.

Dieses Voranschreiten der Wand wirkte wie eine Uhr für die Zeit, die der Abend dauern würde – ein Maß, an dem man sich orientieren konnte. Denn sobald das bewegliche, diagonal über die Bühne sich erstreckende Ende der Wand ganz nach vorne gewandert sein würde, würde es mit dem Orchestergraben abschließen und keinen Raum mehr für irgendeine Aktion lassen. Der Bühnen- und damit der Aktionsraum würde verschwunden sein. Damit war vom ersten Moment an das unausweichliche Ende angekündigt, vor dessen Eintreten alles passiert sein musste. Die sich bewegende Wand war deswegen ein so spannungserzeugendes Element, weil sie nicht nur die vergehende Zeit der Aufführung anzeigte, sondern auch so schmerzlich auf die Endlichkeit der (dramatischen) Zeit deutete. Katja (Melanie Diener) war diejenige, die der größten Gefahr durch die Wand ausgesetzt war. Die näher rückende Wand zeigte an: Katjas Zeit ist begrenzt; ihr Ende ist nicht aufzuhalten.

In der gegenwärtig noch praktizierten Tradition der Beibehaltung der musikalischen Dramaturgie in ihrer Gesamtheit und bekannten Reihenfolge ist auch die in der Aufführung erklingende Musik in ihrer bekannten und als bekannt voraus-imaginierbaren Reihenfolge eine solche Uhr, die das Verstreichen und das Ende der Zeit anzeigt. So lange die Musik dauert, so viel Zeit ist Katja gegeben. Ich konnte vorausahnen, wie lange die Wand noch brauchen würde, bis sie den Stuhl von Katja in den Orchestergraben gefegt haben würde. Wenn es mir zu langweilig wurde, wollte ich buchstäblich auf die Bühne rennen und die Wand beschleunigen; als ich sah, dass nur noch wenig Zeit blieb, wollte ich sie aufhalten. Durch die Einführung der sich bewegenden Wand interagierte die Aufführung mit den Wahrnehmungsmechanismen von Retention und Protention.

Wie Räumlichkeit Zeiterfahrungen schaffen kann, wurde in ganz anderer Weise auch in Christof Loys Inszenierung von Janáčeks Jenufa19 an der Deutschen Oper Berlin 2012 deutlich. Wieder spielte die Bewusstwerdung verschiedener, sich gleichzeitig ereignender und miteinander interagierender Zeitschichten – „anderer“ Zeiten – eine wichtige Rolle für meine Wahrnehmung der Aufführung. Die Aufführung begann mit einer stummen Szene. Ich sah einen weißen Kasten, der wie eine Gefängniszelle wirkte. Hereingeführt wurde die Küsterin (Jennifer Larmore), die offensichtlich die Bewohnerin der Zelle war (Abbildung 29). Deutlich wurde, dass die Inszenierung die Geschichte der Jenufa aus der Perspektive der Küsterin im Rückblick erzählte. Die Küsterin erinnerte sich an die Vergangenheit, die sich als die bekannte Geschichte der Jenufa herausstellen würde.

Der Übergang von der Gefängniszelle und der Erinnerung an die Vergangenheit in die erinnerte Handlung als Gegenwart geschah durch einen sich öffnenden Spalt in der Zelle, durch den man ein Ährenfeld und Jenufa (Michaela Kaune) sah. Der Kasten öffnete sich weiter und gab dadurch Raum für den Beginn der eigentlichen Handlung. In den letzten Minuten des ersten Aktes schaute die gesamte Dorfgemeinschaft auf Laca (Will Hartmann) als den Schuldigen, der Jenufa mit einem Messer verletzt hatte. Von hinten betrat Larmore als Küsterin mit ernstem Gesicht die Szenerie, in deutlich anderer Geschwindigkeit als alle diejenigen, die hektisch Laca anschuldigten, und auch als Will Hartmann als Laca, der sich die geballten Fäuste an die Stirn schlug. Alle Anwesenden duplizierten das hektische Tempo der Musik, nur Larmore nicht. Sie wurde durch das kontrastierende Tempo auffällig. Was bewegte sie? War sie jetzt wieder im Gefängnis und damit im Erinnerungsmodus? Oder erkennt sie schon in diesem Moment, dass Laca zwar die kommende Katastrophe auslösen, aber gleichzeitig auch deren Lösung sein wird? Die wenigen Sekunden des Finales wurden durch diese Zeitkontrastierung länger, dichter und damit aufregender. Auch für diesen Eindruck sei noch einmal auf das Modell von Wilhelm Keller zurückgegriffen: Keller hält für den Eindruck der Zeitdehnung die Kombination von großer Retention bei großer Fülle verantwortlich. Große Retention war in meiner Wahrnehmung der Aufführung dadurch gegeben, dass ich mich an das erinnerte, was ich zu Anfang mit der Gefängniszelle und der Etablierung des Erinnerungsmodus der Küsterin meinte erkannt zu haben. Die große Fülle bestand im Vorhandensein verschiedener Bewegungsrhythmen (Hektik und Statik).

Im zweiten Akt waren es ebenfalls die letzten Sekunden, in denen eine ungeheure Spannung die Lethargie, die sich eingestellt hatte, ganz plötzlich auslöschte. Zu den Sätzen der Küsterin: „Zu das Fenster! […] Grad als wenn der Tod möcht’ hereinkommen!“ beschleunigt sich die erklingende Musik durch eine Kombination der weiterhin durchlaufenden absteigenden Sechzehntel-Figuren der Holzbläser und Streicher mit neu hinzutretenden Sechzehntel-Sextolen der Triangel und der Blechbläser (vgl. Klavierauszug Notenbeispiel 5).20 Während die Küsterin hektisch vom Tisch weg und wieder zum Tisch zurückrannte und unruhige Blicke warf, blieben Jenufa neben dem Fenster und Laca am linken Rand des Kastens wie angewurzelt stehen, wie im freeze. Die beiden etablierten und verkörperten ihre eigene Zeitebene, Larmore als Küsterin dagegen verdoppelte mit ihrer „realen“ Zeit die Hektik der musikalischen Zeit im Orchester (Abbildung 30).

Der Eindruck, der sich in meiner Wahrnehmung einstellte, war wieder: Die Küsterin war im Gefängnis und blickte zurück auf diese Szene, erlebte sie in der Rückblende. Wenn sich alle drei aber doch in derselben Zeit bewegten, so ließe sich formulieren: Die Küsterin blickt in die Zukunft und sieht die Tragödie, die ihr aufgrund ihres Verbrechens blüht, während Laca und Jenufa (noch) keine Ahnung haben. Jenufa und Laca bleiben im wörtlichen Sinne zurück. Sie wechseln in eine Remote-Zeit, in eine entrückte Zeit, nur die Küsterin verbleibt im Modus der voranschreitenden Zeit, der Zeit des über sie hereinbrechenden Schicksals, von dem die anderen noch nichts wissen – der Zeit, die sich nicht anhalten lässt.

War es in Mussbachs Traviata, in Thalheimers Katja Kabanowa und in Loys Jenufa in erster Linie das Zusammenwirken räumlicher Konzepte mit bestimmten Bewegungserfahrungen, das jeweils eine „andere“ Zeit der Aufführung stiftete, so war es in Sebastian Baumgartens Inszenierung von Jules Massenets Werther21 2002 an der Deutschen Oper Berlin eine Kombination von mediatisierter Zeitproduktion (ein Film) und Live-Wahrnehmung der Aufführung. Mit Beginn des Vorspiels zum vierten Akt verschloss eine Leinwand aus breiten weißen Papierbahnen wie ein Vorhang die Bühne. Auf dieser Leinwand wurde zu den Klängen des Vorspiels der Weg Werthers und Charlottes bis zu Werthers Selbstmord gezeigt. Albert zwingt Charlotte, Werther die Pistolen selbst auszuhändigen. Bei Baumgarten wurde diese fatale Situation als Psychokrimi in überlebensgroßen Filmbildern gezeigt. Wie mit großer Berechnung verzieht sich Werther (Paul Charles Clarke) in einen semiprivaten, semi-öffentlichen Raum – die Umkleidekabine eines Schwimmbads – und bereitet seinen Selbstmord vor. Charlotte (Charlotte Hellekant) befindet sich in unmittelbarer Nähe, könnte also eingreifen, tut es aber nicht. Die Spannung erwächst hier aus einer voyeuristischen Konstellation. Die Voyeurin genießt den Schauder des Verbotenen, in diesem Fall den Schauder, eine Gewalttat geschehen zu lassen, die sie verhindern könnte.

Jeder Moment des Hinauszögerns wird ausgekostet. Das Entsichern und Auslösen des Revolvers geschieht in Zeitlupe, selbst das Fliegen der Kugel aus dem Lauf der Pistole wird angehalten. Wie in einem Stummfilm wird eine Schrifttafel eingeblendet: „Schuss!“ – für die Filmwahrnehmung im 21. Jahrhundert eine weitere Verzögerung. Entschleunigung bedeutet auch das Eintauchen von Werthers Körper in den Swimmingpool im Gegensatz zum plötzlichen Umfallen, das nach einem Schuss auch denkbar gewesen wäre. Das Wasser schließlich dehnt die Bewegung der Agierenden und die Geschwindigkeit der Bewegung wie in einem Traum.

Mit Beginn des zweiten Bildes des vierten Aktes traten Hellekant als Charlotte und Clarke als Werther dann live vor die Leinwand. Auf der Vorderbühne sahen wir – überraschend im Kontext dieser Inszenierung – eine völlig konventionell gestaltete Schlussszene mit einem quälend in die Länge gezogenen Sich-Wälzen des sterbenden Werthers und den Lamentationen Charlottes in historischen Kostümen und mit konventioneller Operngestik. Der Traum und die Entschleunigung hatten das bis zur Filmsequenz überaus realistische Setting der Inszenierung zu einer anderen Zeitdimension hin geöffnet, um dann mit der konventionell gestalteten Schlussszene noch eine weitere Zeitdimension zu etablieren, die in meiner Wahrnehmung die Gattung Oper als historisch, in einer nochmals anderen Geschwindigkeit sich bewegend, vorführte.

Die besondere Qualität der Zeitwahrnehmung ergab sich hier aus dem Arbeiten mit verschiedenen medialen Kontexten und Erwartungshaltungen (Opern-Dramaturgie, Film-Dramaturgie, Stummfilm-Dramaturgie sowie Zitat einer konventionellen Operninszenierung). Dass sich bei dieser Fülle der zeitlichen Schichtungen das Keller’sche Modell nicht mehr ohne Weiteres zur Einordnung der zeitlichen Struktur applizieren lässt, ist evident. Die Häufung bewirkte ein Ausstellen der Zeitstrukturen selbst, die Bewusstwerdung der Wahrnehmung von Zeit. Es war die Erfahrung von Zeitlichkeit als solcher, die für mich in der Aufführung wahrnehmbar wurde.

Rhythmen der Opernaufführung

Wie zu Beginn des Kapitels erwähnt, bietet sich eine musikalische Kategorie ganz besonders an, um die bislang geschilderten Erfahrungen von Zeitlichkeit noch weiter auszudifferenzieren: der Rhythmus. Rhythmus lässt sich insofern als paradigmatisches Analyse-Instrumentarium für performative Prozesse und insbesondere bei der Beschäftigung mit der performativen Dimension von Opernaufführungen bezeichnen, als Rhythmus sich immer im Spannungsfeld von Erinnerung, Erwartung und Erleben ereignet. Im Zusammenspiel von Musik und Szene ergeben sich darüber hinaus für jede Opernaufführung unterschiedliche und je charakteristische Konfrontationen und Kollisionen verschiedener Rhythmen, die als Interaktion mit den Eigenrhythmen der Wahrnehmenden zu einem ganz neuen Rhythmus – dem Rhythmus der Aufführung, der sich erst in der Wahrnehmung konstituiert – führen.

Über den Rhythmus schrieb Friedrich Nietzsche 1875:

„Je erregbarer und ursprünglicher ein Mensch ist, um so mehr wirkt der Rhythmus auf ihn – wie ein Zwang zum Nachbilden des Rhythmus, und erzeugt jenes ‚blinde, allem Urtheil vorhergängige Einstimmen‘; es ist ein Zwang, der gewöhnlich mit Lust verknüpft ist, aber er kann so plötzlich an den Seelen reissen und sie überwältigen, dass er mehr noch einem schmerzhaften Krampfe gleichkommt.“22

Mich interessiert in dieser Studie am Rhythmus, dass er als zugrunde liegendes Prinzip jeder Theater- und Opernerfahrung denkbar ist, nämlich als Zusammenwirken und Zusammenspiel von Erinnerung, Erfahrung, Erleben, Wiedererkennen und Antizipation, also von Retention und Protention, sowie als Zusammenspiel von Repräsentation und Präsenz, und dies nicht beschränkt auf die Wahrnehmung der erklingenden Musik, sondern gerade in der Verschränkung der Wahrnehmungsebenen in der intermodalen Integration.

Der Terminus Rhythmus – von griechisch ῥυθμός – lässt sich auf das Verb ῥέω bzw. ῥεîν (fließen) zurückführen und bedeutet zusammen mit dem Suffix θμός ein Fließen im Duktus der Regelmäßigkeit. Schon Platon (Nomoi 664e) kennzeichnete den Rhythmus als Ordnung von Bewegung, insbesondere der körperlichen Bewegung.23 Auch wenn darüber hinaus die unzähligen Rhythmus-Definitionen der letzten Jahrhunderte, ja Jahrtausende, sowie musikwissenschaftliche Abgrenzungen zu Takt und Metrum24 ausgeklammert bleiben müssen, basieren die folgenden Überlegungen auf einigen Grundvoraussetzungen für das Sprechen über Rhythmus.

Rhythmus strukturiert und organisiert Zeit, hat also etwas mit Ordnung zu tun, genauer mit einer binären Ordnung, etwa dem Wechsel zwischen schwer und leicht in Analogie zum Heben und Senken des Fußes, Arsis und Thesis, zum Herzschlag oder zum Atmen. Hierbei geht es um die regelmäßige Wiederholung von kontrastiven bzw. komplementären Elementen.25 Dabei ist insbesondere das Fließende der Bewegung von Relevanz für das Verständnis des Ordnenden. Der Phänomenologe Bernhard Waldenfels bringt es auf den Punkt: „Der Rhythmus ist nur unterwegs heimisch“.26 Es ist diese auf das Prozessuale ausgerichtete Grundqualität des Rhythmus, die ihn als performatives Element par excellence auszeichnet.

„Rhythmische Einzelbewegungen bestimmen sich […] nicht funktional vom Erreichen eines Ziels her, wie es bei den Wachstumsphasen einer Pflanze oder den Stadien eines Krankheitsverlaufs der Fall ist, sondern sie erhalten ihre Bestimmtheit aus der Art und Weise des Bewegungsablaufs. Was zählt, ist nicht das Woraufhin des Ziels und das Was des Ergebnisses, sondern das Wie der Bewegtheit.“27

Indem der Rhythmus als Kategorie des „Unterwegs-Seins“ das Prozessuale gleichzeitig betont und hervorbringt, wird deutlich, dass man bei dem Versuch, Kriterien für eine Analyse zu benennen, die auf die performative Dimension einer Aufführung ausgerichtet ist, um den Rhythmus nicht herumkommt – eine Perspektive auf die Aufführung, bei der es nicht um eine zielgerichtete oder dramaturgische Betrachtung geht, sondern um das Momentane, das in Bewegung Befindliche, den Verlauf, das Prozesshafte.

Wenn von Rhythmus als Ordnung die Rede ist, so muss notwendig auch von der Wahrnehmung gesprochen werden, die diese Ordnung häufig erst hervorbringt. Schon für Platon war das Urteil über die Ordnung und Unordnung einer Bewegung an die menschliche Wahrnehmung („aisthesis“) gebunden; die Existenz rhythmischer Formationen ist damit abhängig von einem spezifischen Wahrnehmungs- und Urteilsvermögen der menschlichen Sinne.28 Und nach Ansicht von Johann Georg Sulzer (1794) wird eine „Reihe gleichartiger Dinge“ als „Folge von gleichen Schlägen nach gleichen Zeittheilen“ erst dann zu einer rhythmischen, wenn diese Folge von einem musizierenden oder rezipierenden Menschen strukturiert wird. Sulzer war der Überzeugung, dass solche Strukturierungen unwillkürlich von jedem Menschen vorgenommen würden.29 Bestätigung erfuhr diese Annahme durch die wahrnehmungspsychologischen Untersuchungen von Wilhelm Wundt und Thaddeus L. Bolton Ende des 19. Jahrhunderts, die das Phänomen der subjektiven Rhythmisierung nachwiesen, nach dem die Strukturierung von Ereignissen sich erst im Wahrnehmungsprozess vollzieht.30

Rhythmus ist nicht beschränkt auf eine bestimmte Materialität oder Sinnesmodalität: Rhythmen sind Phänomene, die sich in der Zeit ereignen, gleich ob akustisch, visuell oder haptisch. Das heißt zugleich, dass Rhythmen nicht an eine spezifische Sinnesmodalität gebunden sind. Schon im Verständnis der griechischen Musiké ordnete der Rhythmus die Bewegungen unterschiedlicher Materien zugleich: die Bewegung von Schritten, Gesten, Silben und Tönen.31

Rhythmus hat etwas mit einer vergangenen Erfahrung und einer in die Zukunft gerichteten Erwartung zu tun. Insofern der Rhythmus sich immer zwischen einer vergangenen Erfahrung und einer in die Zukunft gerichteten Erwartung – zwischen Retention und Protention – ins Werk setzt, erweist er sich als Paradigma für einen Aufführungsbegriff, bei dem Inszenierung und Wahrnehmung stets aufeinander bezogen sind. Ein wichtiger Aspekt bei der physiologischen Betrachtung der Rhythmus-Wahrnehmung ist die Fähigkeit, ja das Verlangen, gehörte und erlebte Rhythmen unwillkürlich fortzusetzen.32 Um einen Rhythmus als Rhythmus wahrzunehmen, stellt man sich auf eine bestimmte zeitliche Struktur ein und antizipiert die Fortsetzung der Abläufe oder Bewegungen. Es geht darum, sich auf etwas Gleichförmiges, etwas Bekanntes einzulassen, um dann vor diesem Hintergrund für Abweichungen und Überraschungen empfänglich zu sein.33 Dieses Charakteristikum des Rhythmus beschrieb auch Igor Strawinsky, als er in seiner Poétique musicale von 1939/40 in Bezug auf das Verhältnis von Rhythmus und Metrum im Jazz formulierte:

„Diese gleichmäßigen Schläge dienten hier nur dazu, daß die rhythmische Phantasie des Solisten sich entfalten konnte; sie rufen die Überraschung hervor und schaffen das Unvorhergesehene. […] ohne ihr tatsächliches oder vermutetes Vorhandensein [könnten wir] weder den Sinn dieser Phantasie erkennen noch uns an ihrem Geist erfreuen […]. Der Pulsschlag des Metrums hat uns die rhythmische Erfindung enthüllt. Wir freuen uns an einer Relation.“34

In diesem Sinn ist auch der Ausspruch des Komponisten und Regisseurs Heiner Goebbels zu verstehen: „In der Neuen Musik kommuniziert sich die rhythmische Qualität nicht mehr, da rhythmische Ereignisse Einzelereignisse sind, deren Puls nur von Dirigenten/Musikern durchschaut wird, nicht aber vom Publikum.“35

Rhythmus ereignet sich ebenso wie etwa die Atmosphäre36 zwischen wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt. „In jeder Wahrnehmung“, so Hanno Helbling, „gibt es zwei Rhythmen, die in Einklang gebracht werden müssen: den des Gegenstands selbst und den des Wahrnehmenden.“37 Bei jedem rhythmischen Prozess handelt es sich um ein Verhältnis von vorgegebenen, produzierten Rhythmen und subjektiven Rhythmisierungen. Mit dieser Doppelperspektive lässt sich das Postulat, Rhythmus eigne sich als Modell für einen Aufführungsbegriff, bei dem Inszenierung und Wahrnehmung stets aufeinander bezogen sind, nunmehr noch deutlicher formulieren. Der inszenierte Rhythmus ist der präsentierte, auf einer Zeitachse eintragbare Rhythmus, der in die Aufführung mitgebrachte Rhythmus ist der eigene Körperrhythmus bzw. die individuelle Verfassung zum Zeitpunkt der Wahrnehmung. In dem Aufeinandertreffen dieser Rhythmen ereignet sich der Rhythmus der Aufführung.

Dass unser Körper erstens selbst rhythmisch organisiert ist und er sich zweitens von gehörten, gesehenen und gefühlten Rhythmen in seinem eigenen Rhythmus beeinflussen lässt, haben verschiedene Untersuchungen gezeigt. Was schon John Dewey in seinem Klassiker Art as Experience 1934 behauptete, nämlich dass Rhythmus ein „universal scheme of existence“ sei,38 wurde durch Gerold Baier aus physiologischer Sicht nachdrücklich bestätigt. Alle physiologischen Vorgänge in unserem Körper (wie Herzschlag, Atmung, Muskelkontraktionen im Magen-Darm-Trakt, Hormonschwankungen im Blut, Körperbewegungen überhaupt) ereignen sich in rhythmischen Mustern, das heißt für Baier als eine Folge von sich wiederholenden Ereignissen, die einer inneren Logik gehorcht und die deswegen für andere Menschen nachvollziehbar ist.39

Es ist diese rhythmische Organisation unseres Körpers, die uns in ein produktives Verhältnis zu den wahrgenommenen Rhythmen setzt. Beobachtungen an Epilepsie- und Parkinson-Patienten haben erwiesen, welchen Einfluss musikalische, visuelle und taktile Rhythmen (z. B. das Streicheln) auf die rhythmischen Vorgänge im Körper haben.40 Gleichermaßen hat unsere eigene rhythmische Disposition Einfluss auf die Wahrnehmung der in der Aufführung produzierten Rhythmen. Die Wirkung einer Aufführung hängt also zu einem nicht unerheblichen Maß an den rhythmischen Austauschprozessen zwischen den Beteiligten.

Was lässt sich aus diesem Rhythmusbegriff für die Analyse von Opernaufführungen gewinnen? Dieser Frage soll anhand von zwei Aufführungen an der Staatsoper Hannover nachgegangen werden, zum einen an einer Aufführung von Calixto Bieitos Inszenierung von Mozarts Don Giovanni41 und zum anderen an einer Aufführung von Thomas Bischoffs Inszenierung von Mozarts Le nozze di Figaro.42

Davon ausgehend, dass Rhythmus nicht auf eine bestimmte Materialität wie Musik oder Sprache beschränkt ist, sondern als strukturierendes Moment sowohl für Akustisches als auch für Visuelles in Erscheinung tritt, beschäftige ich mich im Folgenden mit möglichen Verhältnissen zwischen der akustischen und der visuellen Wahrnehmung einer Opernaufführung. Worum es nicht gehen wird, ist eine kleinteilige, detaillierte Analyse der musikalischen Rhythmen einer bestimmten Nummer oder gar Phrase im Verhältnis zur Bewegung der Körper innerhalb dieser Zeitspanne, also die Umsetzung der Partitur in Bewegung en détail. Mich interessieren vielmehr grundsätzliche Möglichkeiten des Verhältnisses von Vorerfahrung, Erwartung und Erlebnis in Hinsicht auf das Gesungene, Gesprochene, das Musizierte und die Bewegung der Körper in szenischen Konfigurationen.

Dass der Rhythmus eine zentrale Rolle für die Wirkung von Bieitos skandalträchtiger sex and crime-Inszenierung von Mozarts Don Giovanni spielt, wurde dem Zuschauer und Zuhörer sehr bald deutlich. Das auf die Spitze getriebene psychologisch-realistische Musiktheater wirkte genau abgestimmt auf die von der Musik angebotenen rhythmischen Verhältnisse. Mit Beginn der Szene Donna Anna (Francesca Scaini) und Don Giovanni (Gary Magee) fiel der ständige Wechsel von hektischen und statischen Bewegungssequenzen auf.

Deutlich erkennbarem Kopulieren auf der Rückbank und dem Kühler eines Autos (Abbildung 31) und hektischem Rennen folgen steife Drohgebärden zwischen Giovanni und Komtur (Hans-Peter Scheidegger); dem bewegten Raufen die Erstarrung des Komturs zum Mordopfer. Donna Anna und Giovanni verfrachten den Komtur umständlich und aufgeregt in den Kofferraum, springen ins Auto, um den Ort des Geschehens möglichst schnell zu verlassen, bleiben aber taten- und regungslos sitzen, als das Auto nicht anspringt. Donna Elvira (Christiane Iven), die Verlassene, räumt manisch ihre mit Frustfraß-Futter gefüllten Einkaufstüten leer und bleibt schließlich schluchzend zwischen den Tüten liegen. Diese Liste von Abfolgen schnell – langsam, hektisch – statisch ließe sich mühelos fortsetzen. Nicht immer deckten sie sich mit der gerade erklingenden Musik, aber vom Prinzip her verfolgten sie die gleiche Binarität wie Rezitativ und Arie oder wie die Tempowechsel in den geschlossenen Nummern. Die Binarität war die Grundform des Rhythmus als „universal scheme of existence“ (John Dewey), als Folge von Einatmen und Ausatmen, Ebbe und Flut, langsam und schnell.43 Der visuelle Rhythmus affirmierte den von der Musik angebotenen Grundrhythmus.

Eine zweite Betrachtungsweise würde wohl mit Patrice Pavis den Kontrast von Spiel- und Textrhythmus betonen,44 ein Auseinanderdriften der gewohnten Kombination von Bewegung und Klang. Zu den bekannten Klängen wurden wir mit ungewohnten Bewegungen konfrontiert. Zur Presto-Stretta der Finalszene45 fesselte Don Ottavio (José Montero) den Frauenheld mit Kreppband (!) an einen Küchenstuhl, woraufhin alle Beteiligten des Schluss-Sextetts nacheinander mit einem Küchenmesser auf Garry Magee als Don Giovanni einstachen. Mehrere Rhythmen kollidierten miteinander. Es existiert so etwas wie eine Gewöhnung bzw. Erwartung an ein statisches Tableau (den Rhythmus des zu Sehenden) zu diesem Sextett (den Rhythmus der Musik) – Gewöhnung meint hier den von uns herangetragenen Rhythmus der Erwartung. Bei Bieito war dieser vorweggehörte Rhythmus gestört. Mit Pavis könnte man sagen: „Der Rhythmus hat in solchem Augenblick nicht mehr die Funktion, richtig zu spielen, sondern […] das habitualisierte Hören und Zuschauen zu verfremden.“46 In der Verfremdung lag jedoch wieder etwas Affirmatives, da Klang- und Bewegungsaktion der Figuren sich gegenseitig verstärkten und die Zuschauenden und Zuhörenden auf diese Weise zu überwältigen versuchten. Diese Rhythmuserfahrung hatte durchaus etwas Gewalttätiges. Die Mehrfachtötung hielt einen in Atem, weil das So-tun-als-ob des Ermordens durch den musikalischen Rhythmus derart verstärkt wurde, dass ich die Stiche körperlich mit zu erleiden meinte. Als Zuschauer und Zuhörer ließ ich mich auf die Kollision ein, ließ mich packen und mitreißen und war nach dem Finale regelrecht meines Atems beraubt.

Dass das Auseinanderdriften der gewohnten Kombination von Bewegungs- und musikalischem Rhythmus auch weniger plakativ bewerkstelligt werden, aber dabei genauso packend ausfallen kann, zeigte Thomas Bischoffs Figaro-Inszenierung. Schon während der Ouvertüre saßen Susanna (Alla Kravchuk) und Figaro (Oliver Zwarg) auf dem Bett, für das Figaro laut Libretto und Partitur in der ersten Szene eigentlich erst den richtigen Platz sucht.47 Zudem wirkten beide, dafür dass ihre Hochzeit bevorsteht und Susanna musikalisch frohlockend ihren Worten gemäß vor dem Spiegel ihren Hut anprobiert, unerwartet griesgrämig, misstrauisch und ärgerlich. Mir wurde schnell deutlich, dass wir es hier und in der gesamten Aufführung mit einer Wiederholung, einem Nachspielen der bereits geschehenen Verwicklungen des „tollen Tages“ zu tun hatten. Figaro und Susanna verarbeiteten ihre Eheprobleme durch Nachspielen ihres verzückten Vor-Ehegeflüsters. Die gegenseitigen Verletzungen und Misstrauensbeweise hatten alle schon stattgefunden und wurden nun in masochistischem Eifer von allen noch einmal erlebt. Dieser vergifteten Stimmung gelang es sogar, das Vorwärtsdrängende, den Drive aus der Musik zu nehmen. Prompt klang auch die Musik ärgerlich. Es schien, als würden die szenischen Aktionen den musikalischen Rhythmus überschreiben. Wie konnte das sein? Ich ließ mich von den Gesichtern der Figuren beeinflussen und trug diese Beeinflussung in Realisierung einer intermodalen Integration an die Musik heran.

In meiner Wahrnehmung wurde die Wiederholung zum Thema der Aufführung. Die Frage, was mit dem eingesetzten Material (dem Text, der Musik) geschieht, wenn es sich auch für die Handelnden auf der Bühne und nicht nur in der Situation derjenigen, die im Publikum zuschauen und zuhören, um die Wiederholung einer längst bekannten Geschichte handelt. Die Geschichte ist bekannt, die Musik ist bekannt, der Text kann sogar während der Aufführung mithilfe der Übertitel (mit)gelesen werden. Was passiert mit den Figuren, mit der Musik? Höre ich die Musik anders?

Die Wiederholung als zentrales Motiv der Inszenierung war das entscheidende Element für den Rhythmus; in diesem Fall sogar ein sehr anspruchsvolles Element, da nur die Wiederholung vorgeführt wurde, nicht die Exposition. Die Identifikation des Bühnengeschehens als Wiederholung durch mich als Zuschauer verursachte wiederum einen bestimmten Rhythmus, indem ich ständig auf zwei Ebenen schaute: in der szenischen Gegenwart und in der als hektisch und turbulent angenommenen vorenthaltenen Vergangenheit. Der Rhythmus der Vergangenheit war zu hören, aber nicht zu sehen; der Rhythmus der Gegenwart war zu sehen, aber nicht zu hören. Das verursachte eine ungeheure Spannung. Wem sie nicht bewusst war bzw. wer sich nicht auf diese doppelte Wahrnehmungsmöglichkeit der Inszenierung einließ, auf den wirkte der Rhythmus der Aufführung vermutlich dröge und schleppend.

Patrice Pavis meint: „Die Praxis des Bruches, der Diskontinuität, des Verfremdungseffektes, jene rekurrenten Verfahrensweisen in der zeitgenössischen Kunst, begünstigen die Wahrnehmung der Unterbrechungen in der Aufführung: die rhythmischen Synkopen werden dadurch um so sichtbarer.“48 An mindestens zwei Stellen wartete die Aufführung mit solchen überraschenden Unterbrechungen des rhythmischen Kontinuums auf: beim Auftritt Marcellinas mit Bartolo im ersten Akt und beim Übergang von der Arie des Figaro „Non più andrai“ zur Cavatina der Contessa „Porgi amor“, also eigentlich dem Übergang vom ersten zum zweiten Akt, der in dieser Inszenierung aber ohne Szenenwechsel oder Vorhang vonstattenging.49 In beiden Fällen wurde der vorweggehörte Rhythmus – die Erwartung der musikalischen Fortsetzung angesichts des bereits aufgetretenen Personals der nächsten Nummer (im ersten Fall Marcellina und Bartolo, im zweiten Fall die Contessa) – unterbrochen durch zum Teil mehrere Minuten Stille, wodurch ich dem visuellen Rhythmus unwillkürlich erhöhte Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Nach seiner Arie blieb Figaro (Oliver Zwarg) am Rand stehen und beobachtete den Auftritt der Contessa (Christiane Iven). Er wollte abgehen, doch sie ging einen Schritt auf ihn zu. Sind sie Leidensgenossen? Teilen sie ein gemeinsames Schicksal im Spiel um Liebe und Untreue? Es ereignete sich ein ganz kurzer, anrührender Moment. Die Contessa suchte Trost bei Figaro oder wollte ihm solchen spenden. Beide wissen so viel, beide sind so enttäuscht worden. Aber Figaro in all seiner Bitterkeit wendet sich ab, er will nicht als Lückenbüßer fungieren oder bemitleidet werden. Ebenso wie diese Szenen im „Zwischen“ der eigentlichen Nummern stattfanden, fand durch den Bruch im Kontinuum etwas zwischen Bühne und Zuschauerraum statt, eine intensive Aufmerksamkeit.

Der in der Aufführung von Bieitos Don Giovanni-Inszenierung festgestellte Rhythmus von langsam und schnell, von Statik und Bewegung war eine Ausprägung des binären Grundrhythmus, der in seiner Intensität ins Extrem gesteigert wurde. Dieses Übererfüllen des binären Grundrhythmus wirkte sehr überzeugend, zum Teil sogar atemberaubend. Gemäß der Gestaltpsychologie suchen wir in der Wahrnehmung immer nach größeren Einheiten. Ist der Wechsel von Kontrasten eine solche Einheit? Das Verlangen nach dem Schnellen im Anschluss an das Langsame kommt der notwendigen Vervollständigung zur Einheit gleich; die Erfüllung dieser Erwartung erzeugt Wohlgefallen, körperliche Befriedigung. In der Aufführung der Bischoff-Inszenierung des Figaro herrschten kompliziertere Rhythmusverhältnisse; die Inszenierung wirkte daher weniger eingängig, weniger überwältigend, weniger vordergründig packend. Vermag man sich allerdings darauf einzulassen, die Ebenen zwischen vergangenem und gegenwärtigem Geschehen und deren verschiedene Rhythmen in der Wahrnehmung zu differenzieren, dann kann eine solche Rhythmuskomplikation durchaus sehr intensive Wirkungen entfalten, weil diese Kombination den Körper in seiner rhythmischen Aufnahme- und Mitschwingkapazität extrem fordert. Die Art, wie visuelle, musikalische Rhythmen und der erwartete Rhythmus miteinander interagieren (Übereinstimmung oder Kontrast auf den verschiedenen Ebenen), bestimmt schließlich den Rhythmus einer Aufführung und dessen Wirkung: Langeweile, Skandal, Provokation, Irritation.

Geht man von der Auffassung eines antizipierbaren Rhythmus in der Musik aus, so sind es gerade solche Momente, in denen eine erwartete Entwicklung oder ein einmal gewähltes zeitliches Kontinuum, ein Rhythmus, auf den sich die Zuhörenden und Zuschauenden eingestellt haben, unterbrochen werden, die zu den auffälligsten und die Wahrnehmung herausfordernden Augenblicken von Opernaufführungen zählen. Überdeutlich wurde dies in der zentralen Szene einer Operninszenierung, die vorderhand aus ganz anderen Gründen zu einer der meistdiskutierten Operninszenierungen der letzten Jahre avanciert ist: Hans Neuenfels’ Inszenierung von Mozarts Idomeneo50 an der Deutschen Oper Berlin aus dem Jahr 2003, die drei Jahre später im Zuge der Entscheidung der Intendantin, die Inszenierung abzusetzen, da sie „ein Sicherheitsrisiko von unkalkulierbarem Ausgang“ darstellte,51 zu internationaler und massenmedialer Berühmtheit kam.

Der letzte Ton in der Premiere von Mozarts Idomeneo in der Inszenierung von Hans Neuenfels und unter der musikalischen Leitung von Lothar Zagrosek in der Deutschen Oper Berlin war verklungen. In den Nachklang, in die Stille hinein tritt noch einmal Idomeneo (Charles Workman) auf, einen weißen Sack über die Schulter geworfen, aus dem er nacheinander die abgeschlagenen Köpfe Poseidons und der drei Religionsstifter Jesus, Mohammed und Buddha hervorholt und auf vier Stühlen platziert (Abbildung 32).

In den wenigen Augenblicken dieser stummen Schlussszene breitete sich plötzlich eine fühlbare, vorher nicht dagewesene Spannung im Zuschauerraum aus, die sich zuerst in einzelnen Zwischenrufen wie „Pfui“, nach Idomeneos abschließendem irren Gelächter dann in dem für Neuenfels-Premieren üblichen Proteststurm entlud. Was war geschehen? Das Schlussbild war in seiner Aussage wahrlich nicht so provokant, ganz im Gegenteil: Die Szene setzte vielmehr einen konsequenten Punkt hinter die in der Inszenierung angelegten Gedanken zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Mächtigen und Abhängigen, Götzen und Dienern. Was aber hatte dann die Buh-Rufe herausgefordert? Wenn nicht die Konsequenz, also das schlüssig deutbare Ergebnis der Szene, dann doch wohl der unvermittelte Ausbruch aus der antizipierbaren und antizipierten Kontinuität, die ihren logischen Abschluss im Finalton und fallenden Vorhang findet. Dieser Moment der Irritation und Orientierungslosigkeit, in dem keiner im Publikum wusste, was passieren würde, in dem auch keiner wusste, wie das bisher so gemäßigt erscheinende Publikum reagieren würde, ob der bis dahin eher gleichförmige Fluss der Inszenierung jetzt durch aktives Eingreifen des Publikums aufgebrochen würde, erwies sich als Moment einer präsentischen Intensität, in dem ich mir meiner eigenen Wahrnehmung bewusst wurde, in dem ich den Raum, die Nachbarn, die Energie der Aufführung, die plötzlich im Raum hing, ganz deutlich spürte (eine Erfahrung, die offenbar von zahlreichen Zuschauenden und Zuhörenden ähnlich geteilt wurde).

Es ist immer wieder erstaunlich, wie sehr in Opernaufführungen des klassisch gewordenen Repertoires das Wissen um die musikalische Kontinuität und das Festhalten an dieser spürbar ist. Gemeint ist der Rhythmus der dem Notentext in seiner Sukzession „treuen“ Aufführung, auf den die Zuhörenden und Zuschauenden sich „einschwingen“. Wenn diese Sukzession unterbrochen wird, kann das wie eine Verletzung wirken, zumindest wie eine große Verunsicherung. Das Beklemmende oder Faszinierende liegt dabei in dem Nichtwissen, was genau passieren wird, in der Unverfügbarkeit über das theatrale Ereignis, in der großen Erwartung einer imaginierten, aber nie wirklich vorherseh- oder -hörbaren Zukunft.

Musik als Zeitkunst ist flüchtig und daher nur im Fluss rezipierbar. Das, was gehört und betrachtet werden will, ist eigentlich immer schon vorbei. Die einzelnen Gestalten wandeln sich kontinuierlich, die Ereignisse sind nicht zu greifen, da sie ineinanderfließen und ineinanderklingen. Dies gilt für Musiktheater und Oper in verstärktem, potenziertem Maße, da auch die szenischen Elemente wie etwa die Bewegungen oder die Mimik der Darsteller (oder auch das Licht) ebenso flüchtig sind wie die Musik und ihre eigene flüchtige Zeitlichkeit der Zeitlichkeit der Musik hinzufügen, mit ihr kontrastieren, konfligieren oder kooperieren. Musik und Theater bieten die einmalige Chance, eine „andere Zeit“ zu kreieren. Der Raum der Aufführung wird damit zum Labor, in dem die unterschiedlichsten Zeitlichkeits-Schichtungen erprobt werden können und die Reflexion des Wahrnehmungsaktes selbst ermöglicht wird.

1Vgl. hierzu etwa Brüstle, Christa: Zeitbilder. Inszenierung von Klang und Aktion bei Lachenmann und Hespos, in: Altenburg, Detlef/Bayreuther, Rainer (Hrsg.): Musik und kulturelle Identität. Bericht über den XIII. Internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung Weimar 2004, Bd. 3, Kassel 2012, S. 322–327.

2Vgl. dazu Bergson, Henri: Die Wahrnehmung der Veränderung, Oxford 1911, in: ders.: Denken und schöpferisches Werden, Hamburg 1993.

3Vgl. hierzu etwa Pöppel, Ernst: Die Rekonstruktion der Zeit, in: Paflik, Hannelore (Hrsg.): Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim 1987, S. 25–37.

4Auch von musikpsychologischen Versuchen wird diese Unterscheidung als Grundlage angesehen: Die Zeitdauereinschätzung beruht immer darauf, dass eine subjektive Schätzung mit der „tatsächlichen“ Dauer verglichen wird. Vgl. Auhagen, Wolfgang/Busch, Veronika: Zeit, in: Finscher, Ludwig (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart II, Sachteil Bd. 9, Kassel u. a. 21998, Sp. 2220–2251, hier Sp. 2221f.

5Elias, Norbert: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, hrsg. von Michael Schröter, Frankfurt am Main 1984.

6Ebd., S. VII, XVIIf., 11f. und 96f.

7Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999, S. 317–319.

8Zum Begriff der „Unendlichen Melodie“ und seinen Ausprägungen vgl. Reckow, Fritz: Unendliche Melodie, in: Eggebrecht, Hans Heinrich (Hrsg.): Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, Wiesbaden 1971, S. 1–21.

9Vgl. Pöppel: Die Rekonstruktion der Zeit.

10Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches, Bd. 2, Nr. 134, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 4. Abt, Bd. 3, Berlin 1967, S. 70f.

11Keller, Wilhelm: Die Zeit des Bewußtseins, in: Meyer, Rudolf W. (Hrsg.): Das Zeitproblem im 20. Jahrhundert, Bern/München 1964, S. 44–69, hier S. 64f.

12Wagner: Tristan und Isolde WWV 90, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 8, II, hrsg. von Isolde Vetter und Egon Voss, Mainz 1992, S. 62f., T. 551–556.

13Deutlich erscheint Heiner Müllers Inszenierung von den Tendenzen des sogenannten postdramatischen Theaters und seiner Konzentration auf Materialität und Dauer – hier nach dem Vorbild von Robert Wilson – geprägt. Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, insbesondere S. 331f.

14Wagner, Richard: Die Walküre WWV 86B, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 11, I, hrsg. von Christa Jost, Mainz 2002, S. 183–190, T. 1477–1523; Wagner: Tristan und Isolde, S. 60–65, T. 529–567.

15Keller: Die Zeit des Bewußtseins, S. 64.

16Ebd.

17Staatsoper Berlin 2003, Dirigent: Daniel Barenboim, erlebte Aufführung am 10.4.2003 (Generalprobe).

18Staatsoper Berlin 2005, Dirigent: Julien Salemkour, Bühnenbild: Olaf Altmann, erlebte Aufführung am 27.1.2005.

19Deutsche Oper Berlin 2012, Dirigent: Donald Runnicles, erlebte Aufführung am 20.4.2012.

20Janáček, Leoš: Jenufa. Klavierauszug, Wien (Universal Edition) 1917, S. 176f.

21Deutsche Oper Berlin 2002, erlebte Aufführungen am 21.9.2002, 20.12.2002 und 25.12.2002.

22Nietzsche, Friedrich: Ueber den Rhythmus (1875), in: ders.: Gesammelte Werke (Musarion-Ausgabe), Bd. 5, München 1922, S. 474f.

23Vgl. Seidel, Wilhelm: Rhythmus, Metrum, Takt, in: Finscher, Ludwig (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil Bd. 8, Kassel u. a. 21998, Sp. 257-317, hier Sp. 257, 259 u. 264.

24Im Gegensatz zum neuzeitlichen Begriff des Taktes, der eine virtuelle Größe darstellt, da es sich beim Takt um eine nicht notwendig erklingende Gruppierung von gleichartigen Notenwerten handelt – sozusagen einen Zeitrahmen, vor dem der Rhythmus sich abhebt –, ist der Rhythmus eine Abfolge verschiedener Notenwerte.

25Vgl. Seidel: Rhythmus, Metrum, Takt, Sp. 264. Eduard Hanslick bezeichnete 1854 als „Rhythmus im Kleinen“ die „wechselnd-gesetzmäßige Bewegung einzelner Glieder im Zeitmaß“. Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch-Schönen, Leipzig 1854, Reprint Darmstadt 1955, S. 32, zit. nach: Dahlhaus, Carl: Rhythmus im Großen, in: Melos/Neue Zeitschrift für Musik 1 (1975), S. 439–441, hier S. 439.

26Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen (= Studien zur Phänomenologie des Fremden 3), Frankfurt am Main 1999, S. 64.

27Ebd.

28Vgl. Seidel: Rhythmus, Metrum, Takt, Sp. 268.

29Vgl. Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 4, Leipzig 21794, S. 92, zit. nach: Seidel: Rhythmus, Metrum, Takt, Sp. 293.

30Motte-Haber: Handbuch der Musikpsychologie, S. 112. Vgl. auch Spitzer, Manfred: Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk, Stuttgart 2002, S. 216: Der Rhythmus wird den „wahrgenommenen Ereignissen vom Wahrnehmenden gleichsam übergestülpt“.

31Vgl. Seidel: Rhythmus, Metrum, Takt, Sp. 261.

32Vgl. Spitzer: Musik im Kopf, S. 221.

33Vgl. Langer, Susanne K.: Feeling and Form. A Theory of Art, New York 1953, S. 126: „The essence of rhythm is the preparation of a new event by the ending of a previous one.“ Oder You, Haili: Defining Rhythm. Aspects of an Anthropology of Rhythm, in: Culture, Medicine and Psychiatry 18 (1994), S. 361–384, hier S. 363: „The essence of rhythm is not merely the perceived order (or pattern) of repetition (recurrence) of something; it is the demand, preparation and anticipation for something to come.“ Bezogen auf die Sprache bemerkt Hans Ulrich Gumbrecht, dass der Rhythmus in der gesprochenen Sprache „zwischen dem Nachhallen des vorausgehenden Lautes in der Retention und der Vorwegnahme des folgenden Lautes in der Protention aufscheint“. Gumbrecht, Hans Ulrich: Rhythmus und Sinn, in: ders./Pfeiffer, K. Ludwig (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt am Main 1988, S. 714–729, hier S. 718f.

34Strawinsky, Igor: Musikalische Poetik (1939/40), aus dem Franz. von Heinrich Strobel, Mainz 1949, S. 22.

35Heiner Goebbels in einem Vortrag über den Rhythmus in der Neuen Musik, Mainz, 31.5.1999. Vgl. auch ders.: Puls und Bruch. Zum Rhythmus in Sprache und Sprechtheater, in: Sandner, Wolfgang (Hrsg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 99–108, hier S. 106: „Es zeugt von einer eigentümlichen Heimlichtuerei, wenn zeitgenössische Komponisten sich selbst, dem Dirigenten und den ausführenden Musikern angesichts des in der Partitur sichtbaren Referenzsystems der Takte das Vergnügen der rhythmischen Abweichung des einzelnen akustischen Ereignisses vom Puls sehr wohl gönnen, dieses Erlebnis aber ihrem Publikum vorenthalten, weil es unhörbar bleibt.“

36Vgl. zur Atmosphäre als Zwischengeschehen Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main 1995, sowie Schouten, Sabine: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin 2007.

37Helbling, Hanno: Rhythmus. Ein Versuch, Frankfurt am Main 1999, Umschlagseite.

38Dewey, John: Art as Experience (1934), Carbondale 1989, S. 154, zit. nach: You: Defining Rhythm, S. 362.

39Baier, Gerold: Rhythmus. Tanz in Körper und Gehirn, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 23. Das eigentlich Neue an Baiers Überlegungen ist, dass er aus der bekannten Tatsache der rhythmischen Gesamtorganisation des Körpers auch Konsequenzen für die Analyse, Diagnose und Therapie zieht. Seiner Meinung nach würden sich klangliche Darstellungen viel besser eignen als Bilder, um die komplexen Abläufe im Körper – die komplexen Rhythmen – darzustellen. Er plädiert für klanggebende statt für bildgebende Verfahren, um der rhythmischen Organisation unserer Körperfunktionen ihren adäquateren Ausdruck zu geben. Vgl. dazu auch die schon seit Längerem praktizierten Verfahren der Dopplersonographie der hirnversorgenden Arterien.

40Baier: Rhythmus, S. 251, vgl. auch S. 170. Vgl. Spitzer: Musik im Kopf, S. 213.

41Staatsoper Hannover 2002, Dirigent: David Parry, erlebte Aufführung am 2.3.2002.

42Staatsoper Hannover 2002, Dirigent: Shao-Chia Lü, erlebte Aufführung am 8.10.2002.

43Vgl. allgemein hierzu auch Pavis: Semiotik der Theaterrezeption, S. 95: „In der Aufführung […] ist der Rhythmus spürbar in der Wahrnehmung binärer Wirkungen: Schweigen/Wort, Geschwindigkeit/Langsamkeit […].“

44Vgl. ebd., S. 91.

45Vgl. Mozart: Il dissoluto punito ossia il Don Giovanni, S. 473–486.

46Pavis: Semiotik der Theaterrezeption, S. 94.

47Vgl. Mozart: Le nozze di Figaro, S. 5–28 u. 29–40, Sinfonia u. No. 1.

48Pavis: Semiotik der Theaterrezeption, S. 96.

49Vgl. Mozart: Le nozze di Figaro, S. 66 u. 160f.

50Dirigent: Lothar Zagrosek, erlebte Aufführungen am 13.3.2003 und 3.5.2003.

51Vgl. stellvertretend für die Berichterstattung in der Presse: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/deutsche-oper-klammheimlicher-kniefall-1354531.html (zuletzt aufgerufen am 30.4.2017).

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