Auftritt
Bühnen Bern: Verstörende Wortströme der Suchenden
„Die kleinen Meerjungraun. Das Flutschige strikes back“ von Kim de l’Horizon (UA) – Regie Trio ACE Alia Luque (Regie), Christoph Rufer (Bühne) und Ellen Hofmann (Kostüm)
von Elisabeth Maier
Assoziationen: Theaterkritiken Schweiz Dossier: Uraufführungen Kim de l’Horizon Bühnen Bern

Vom Traum eines Meereswesens, bei den Menschen die Liebe zu finden, erzählt Hans-Christian Andersens Märchen „Die kleine Meerjungfrau“, erstmals veröffentlicht im Jahr 1837. Seitdem hat der Stoff Generationen von Kunstschaffenden inspiriert. Kim de l’Horizon hat ihn im 21. Jahrhundert aus der Sicht einer nicht-binären Person überschrieben. „Jetzt, wo ich die große Geradheit gesehen habe, weiß ich, wie schräg wir wirklich sind“, sagt die Schauspielerin Lucia Kotikova in der Uraufführung an den Bühnen Bern. Mit ironischem Unterton preist sie die „fantabulösen Zeichen der Zivilisation“.
Mit verstörenden Wortströmen und fesselnder Erzählkunst hat Kim de l’Horizon mit dem Roman „Blutbuch“ 2022 die Jury des Schweizer wie auch des Deutschen überzeugt. „Die kleinen Meerjungraun“ ist ein Stückauftrag für das Theater Bern. In der Spielstätte in den Vidmarhallen in einem Vorort der schweizerischen Hauptstadt hat das Trio ACE die ungewöhnliche Sprachkunst in Szene gesetzt.
Christoph Rufer hat einen Bühnenraum geschaffen, der von der Unterwasserwelt weit entfernt ist. Ausgestopfte Hirsche, Vögel und anderes Getier stehen für das „unglitzrige Männliche“, das „flossenlose Menschliche“, wie Kim de l’Horizon jene nennt, die der Norm entsprechen. Auf einen Bühnenvorhang ist eine kitschig-realistische Landschaft gemalt. In dieser morbiden Kulisse suchen die Menschen Halt. Mit reichlich Pomade im Haar, steifen Anzügen und verbissenem Blick haben die Meerjungraun so gar nichts von der schillernden Unterwasserwelt. Ellen Hofmanns Kostüme lassen sie wie genormte Yuppies wirken, die auf den ersten Blick wenig individuelle Kraft entfalten.
Dieses visuelle Konzept bricht Alia Luques Regie auf. Halb verschüttet im braunen Rindenmulch liegt der Schauspieler Jonathan Loosli auf der Bühne. Teile des nackten Körpers sind in der Erde versteckt. Dieser „Marcomann“, eine zum Leben erwachte Marmorfigur, weckt die Sehnsüchte der Meerjungraun. Der Begriff erinnert an geschlechtslose Märchengestalten; das weibliche „f“ fehlt. Doch wie in Andersens Märchen hat die Vermenschlichung ihren Preis. Wer eines der „Beinwesen Neinwesen“ lieben will, verliert nicht nur die Gemeinschaft der Meeresbewohner, sondern auch die Stimme. Dass es in dem Märchen um das Anderssein geht, legt Andersens eigene Biografie nahe. Er schrieb es, nachdem ihm sein langjähriger Freund und Angebeteter gestanden hatte, dass er eine Frau heiraten wird. „Die kleine Meerjungfrau“ erzählt also auch von der Suche nach einer Identität, die in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts noch viel weniger lebbar war als im 21. Jahrhundert.
Lucia Kotikova gelingt ein faszinierendes Plädoyer für das Anderssein. „Ja ICH bin ja so anders! So ein Zwischenwesen Halbmensch Untier Ungeheuer Nicht-gehendes“. Virtuos artikuliert die Schauspielerin die seltsam fremd und geheimnisvoll klingenden Worte, die Kim de l’Horizons Texte prägen. Silben und Worte lässt sie tanzen, hinterfragt die Bedeutung und höhlt den eigentlichen Wortsinn aus. Linus Schütz taucht lustvoll in die Rollen der Wasserwesen ein, die sich nicht mehr nach einer anderen Welt sehnen. Als Hexe Ursu, die der Nixe den Weg in die menschliche Welt ebnet, spielt Claudius Körber grandios mit Klischees. „Wir klauen schönen Frauen die Stimme“, ruft die „witch“, die Kim de l’Horizon mit viel ironischem Impetus ausstattet.
Den reichlich bedeutungsschweren Untertitel „Eine Einschwörung auf die Epoche der Transformation“ nimmt das Regieteam nicht allzu ernst. Zwar geht es um eine Selbstfindung. Doch die ist am Ende spielerisch und leicht. Die Schauspieler:innen lassen sich entspannt in Kim de l’Horizons Sprachströmen treiben, die manchmal so ungestüm sind wie ein reißender Fluss. Dass die Berner Dramaturgin Felicitas Zürcher Kim de l’Horizon nach der Hasusautor:innenschaft in der Spielzeit 2021/22 im Rahmen des StückLabor für das Theater gewonnen hat, ist großartig. Die Lesart des Trios ACE überzeugt in den ersten eineinhalb Stunden, als das Geschehen auf den Bühnenraum beschränkt ist.
Im zweiten Teil laden die Theaterschaffenden zum Spaziergang durch die Altstadt ein, angeführt vom jetzt erwachten Marmor- oder Marcomann. Jonathan Loosli geht in der Berner Innenstadt auf Tour, verfolgt von einer Kamera am Selfie-Stick. Dieses Spektakel verfolgt nur noch ein Häuflein der Zuschauer. Und das eigene Mobiltelefon, mit dem man das Spektakel über einen QR-Code verfolgen kann, gibt dieses Event nur im drögen Mini-Format wieder. Viele Zuschauer:innen klinkten sich da auf der Heimreise im Bus doch lieber aus und surften in den sozialen Medien. Die großartige Idee, den befreiten Hünen im glitzernden Abendkleid durch die Stadt zu schicken, nahmen viele im Publikum kaum wahr. Die Qualität des Trios ACE, Dramatik in partizipative Formate einzubetten, kam da nur sehr bedingt zur Geltung.
Erschienen am 1.10.2025