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Erkenntnis und Vergnügen
Eine kurze Geschichte von Theater der Zeit zum 75. Geburtstag
von Harald Müller
Erschienen in: Theater der Zeit: 75 Jahre Theater der Zeit – Ein Jubiläumsheft (05/2021)
Assoziationen: Theatergeschichte Berlin Dossier: TdZ-Geschichte

Ein Mann, der was zu sagen hat und keinen Hörer findet, ist schlimm dran. Noch schlimmer sind Hörer dran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat“ (Bertolt Brecht).
Mir war damals im Herbst 1992 dieses Dilemma sehr bewusst, als ich mit Friedrich Dieckmann, Martin Linzer und Frank Raddatz den Neustart der Zeitschrift Theater der Zeit vorbereitete.
Ich gebe ehrlich zu, Theater der Zeit zu DDR-Zeiten nicht wirklich wahrgenommen zu haben: zu affirmativ. Eher schon, auch das gehört zur Wahrheit, das Theatermagazin aus Seelze, das man – wenn man wusste, wo – einsehen konnte. Ich wollte lesen, was Thomas Brasch und Stefan Schütz schrieben, was Ruth Berghaus, Jürgen Gosch, Einar Schleef und B. K. Tragelehn inszenierten, was Jutta Hoffmann und Jürgen Holtz spielten und all die anderen, furchtbar vielen Exilierten trieben – über die Theater der Zeit damals nicht schrieb.
Wie sage ich es heute: Meine Generation, die in den Achtzigern zu Bewusstsein und auch zu Selbstbewusstsein kam, suchte neue Auswege aus dem DDR-Biedermeier. Im Angesicht von atomarer Systemschmelze und der totalitären Gesinnung eines Verbotsstaates entwickelte sich zusehends ein Endzeitgefühl, und jeder musste sich die Frage stellen, ob er Feinstaub oder Granulat im Getriebe eines Kontrollsystems sein wollte. Die Antworten fanden wir in den sich plötzlich herausbildenden Subkulturen, nicht nur in Berlin: David Bowies illegale Konzerte in Hinterhöfen des Prenzlauer Berges entdeckten wir wieder im Bühnenbild der „Macbeth“-Inszenierung von Heiner Müller 1982 in der Volksbühne, Zinnobers „traumhaft“-Performance schlossen wir mit Auftritten der Autoperforationsartisten um Via Lewandowsky kurz. Christoph Heins Chinoiserien und Lothar Trolles Dada- sowie Barbara Honigmanns Poesie-Versuche, die Wahrheit zu sagen, lockerten unser Herz und Hirn im Land von Hammer und Sichel. Das war uns sehr nah, ich bin für das Privileg dieser Erfahrung sehr dankbar.
Was Brecht in seiner „Radiotheorie“ beschrieb, stand uns als uferloses Szenario gesellschaftlicher Umwälzung vor Augen: zu wissen, in welcher historischen Epochen-Erfahrung der Totalitarismen die Zeitschrift gegründet und gewachsen war, und nicht zu wissen, welche neuen Adressaten wir anzusprechen hatten und wo sie sich befanden. Den Dreck des 20. Jahrhunderts zu sehen und zu benennen und ebenso die „Heiligkeit“ von Kunstanstrengung und -ergebnis im und für das Theater zu würdigen. Heiner Müller, interessierter Beobachter unserer Suchversuche, gab mir im Spätherbst 1992, am Rande einer Abendprobe von Einar Schleefs Hochhuth-Uraufführung „Wessis in Weimar“ im Berliner Ensemble, den Hinweis, dass die Theater-der-Zeit-Titelrechte von der Treuhand gehalten und meistbietend verscherbelt werden sollten – plus etwas Kleingeld dazu (oder waren es größere Banknoten?).
Um es kurz zu machen: Es gelang mir, die Rechte zu erwerben, und los ging die kamikazereiche Geschichte im Mai 1993, als ein eigens dazu gegründeter Förderverein mit Unterstützung des Kulturfonds und auf Votum von Herbert Schirmer, dem Kulturminister der Regierung Lothar de Maizière, das erste Heft der Neu-Edition herausgab. Punktgenau zum Berliner Theatertreffen, wo es von den einen hocherfreut in Empfang genommen, von anderen misstrauisch beäugt wurde – wir störten das beginnende Selbstgespräch des Westens über den Osten.
Dass die Geschichte von Theater der Zeit allerdings sehr viel früher begann, nämlich bereits kurz nach Kriegsende im Berliner Scheunenviertel, und dass die Zeitschrift Legenden gebildet und unsere Erinnerungskultur in der deutsch-deutschen Theatergeschichte mitgeprägt hat, verdanken wir vor allem dem Theaterkritiker Martin Linzer, ihrem Redakteur und Autor seit 1954. In den späten sechziger Jahren war es dann Friedrich Dieckmann, der der Zeitschrift als freier Mitarbeiter zu einem ansehnlichen Format verhalf.
Beide führten mich damals in die dornenreiche Archäologie unseres Blattes ein, das in diesem Jahr – man will es nicht glauben – 75 Jahre alt wird.
Am ersten Montag im Juni 1946 konnte man im zerstörten Berlin die erste Ausgabe von Theater der Zeit für eine Mark in der sowjetisch besetzten Zone käuflich erwerben.
Es waren gerade mal 32 Seiten im A4-Format, die schwarz-weiß gedruckt wurden. Aber die Auflage betrug unglaubliche 50 000 Exemplare, hergestellt auf einer alten Maschine, die im Keller der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte die Bombenangriffe überstanden hatte. Die sowjetische Kulturbehörde übertrug dem ehemaligen Geschäftsführer des Volksbühnenverlags Berlin, Bruno Henschel, die Lizenznummer 58, die ihn zur Herausgabe einer Theaterzeitschrift berechtigte. Henschel tat, was die russische Besatzungsmacht von ihm erwartete: Er setzte den linken Schriftsteller und Dramatiker Fritz Erpenbeck, der gerade aus dem Exil in Moskau heimgekehrt war, als ersten Chefredakteur ein.
Eine Berufung, in der sich die damalige Zeit spiegelte und die nach Gründung der DDR erst recht geltende Berufungspraxis blieb. Einem ausschließlich männlichen Redaktionsbeirat gehörten unter anderen der Komponist Boris Blacher, der Theaterkritiker Herbert Jhering und die Schriftsteller Günther Weisenborn und Friedrich Wolf an.
Bis zum Mauerfall war die Zeitschrift mit einer scheinbar nicht enden wollenden Ära staatlicher Inanspruchnahme verknüpft. 1992 schien ihre Geschichte ans Ende gelangt, der Henschel Verlag, der Theater der Zeit bis dato noch verlegte, schlitterte in den Konkurs und stellte das Erscheinen mit der Märzausgabe ein.
Dass uns nur ein Jahr später ein Neustart als politisch unabhängige Zeitschrift gelang – zunächst als vierteljährlich, bald darauf schon als alle acht Wochen und ab Januar 2000 dann wieder als monatlich erscheinendes Blatt – grenzt an ein Wunder, und ich bedanke mich ausdrücklich bei allen Autorinnen und Autoren, allen Fotografinnen und Fotografen, allen Gestalterinnen und Gestaltern, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Verlag, ohne deren aufopferungsvolle Arbeit die Zeitschrift nicht zu dem geworden wäre, was sie heute ist: eine im In- und Ausland wohlbekannte, fachlich anerkannte Theaterzeitschrift.
Jede Ausgabe von Theater der Zeit bedeutet für mich ein Kapitel, das das gesellschaftliche Geschehen und den Wandel der Theaterkultur festhält, Stimmungslagen wiedergibt und Meinungen bildet wie diskutiert.
Die Zeitschrift hat über die Jahre und Jahrzehnte eine geistig-kulturelle Gemeinde gewonnen, der wir uns verbunden fühlen, auch in ihrem permanenten Wandel. So wie sich über die Zeiten und Grenzen Theater und Publikum verändern, transformiert sich auch die Zeitschrift.
Theater der Zeit lebt durch seine Leserinnen und Leser im Osten und inzwischen auch ganz selbstverständlich im Westen sowie überall auf der Welt. Gleichwohl sei daran erinnert, dass Theater der Zeit eines der wenigen verbliebenen frei flottierenden Presseerzeugnisse aus dem Osten ist, welches der Zerstörung der gewachsenen medialen Öffentlichkeit in diesem Teil Deutschlands widerstand.
Die Zeitschrift bildet nach bestem Wissen und Gewissen Monat für Monat die Theaterwelt ab, ordnet sie ein und kommentiert sie kritisch. In einer Weise, die Menschen, die gern lesen und Lust am Mitdenken verspüren, im besten Fall Erkenntnis bringt und Vergnügen schafft. //