Theater der Zeit

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Bericht

Wo Masturbation auf Donauwalzer trifft

Das Festival Steirischer Herbst in Graz spielt in seiner 58. Ausgabe mit Verführungsszenarien

von Lina Wölfel

Assoziationen: Österreich Dossier: Festivals steirischer herbst

Das Ende der liberalen Demokratie? „Violenza 2025“ von Michiel Vandevelde, Pankaj Tiwari und Eneas Prawdzic beim Steirischen Herbst 2025.
Das Ende der liberalen Demokratie? „Violenza 2025“ von Michiel Vandevelde, Pankaj Tiwari und Eneas Prawdzic beim Steirischen Herbst 2025.Foto: steirischer herbst / Clara Wildberger

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 „NIE WIEDER FRIEDEN“ – drei Wörter, Schlagwörter, Kampfbegriffe, Slogans. Drei Wörter die so mit Bedeutung aufgeladen werden, dass wir scheinbar nicht mehr wissen, was sie eigentlich bedeuten. Drei Wörter, die sich gegen ihren Sinn instrumentalisieren lassen.  Drei Wörter, die für sich stehen können und doch erst im Zusammenspiel ihre Wirkkraft entfalten. Drei Wörter, inspiriert von Ernst Tollers satirischem Theaterstück „Nie wieder Friede“ (1934-36), die Motto, Titel und Mahnung der diesjährigen Ausgabe des Steirischen Herbstes gleichermaßen sind. Drei Wörter, eine Anklage an ein Europa, das vom Faschismus gebannt war. War? Oder ist?

„Wir befinden uns in einer diskursiven Stunde Null“ eröffnet Intendantin Ekaterina Degot das Festival im Schauspielhaus Graz. Es gibt keinen Frieden und es gibt kein „nie wieder“. Nie wieder – das skandierten die Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz nach dessen Befreiung im Januar 1945. Und heute? Institutionen, die gegründet wurden, um die Rückkehr von Krieg und Völkermord zu verhindern bröckeln. Der blutige Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, den Wladimir Putin mit einer Perversion des Begriffs „Frieden“ rechtfertigt, die israelische Regierung, die die Bedrohung durch einen neuen Holocaust als Legitimation nutzt, den Gaza-Krieg auf unbestimmte Zeit fortzusetzen, völkisch-nationale, nein rechtsextreme Parteien, die überall in Europa erstarken, weil sie Frieden vor „den Anderen“ versprechen, Frieden mit der Vergangenheit, Frieden vor, ja vor was eigentlich?

Ein Begriff, mit dem es sich ebenso kompliziert verhält wie mit dem Frieden, ist die Freiheit. Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kyjiw, antwortete den deutschen Intellektuellen, als sie sich gegen Waffenlieferungen aussprachen und Friedensverhandlungen als das einzig Sinnvolle nahelegten, er wolle keinen Frieden, sondern Freiheit. Auf der anderen Seite nutzt ein 2015 gegründetes Bündnis europäischer rechtsextremer Parteien „Die Allianz für Frieden und Freiheit“ beide Begriffe in seinem Namen. Und wir? Wir stehen auf dem Freiheitsplatz in Graz zur Eröffnungsperformance des Audio-Performance-Kollektivs LIGNA. Der ursprünglich dem Habsburgerkaiser Franz I. gewidmete Platz wurde im Lauf der jüngeren Geschichte gleich zweimal zum Freiheitsplatz deklariert: 1918, bei Ausrufung der österreichischen Republik, und 1938 im Zuge des „Anschlusses“ Österreichs an Nazi-Deutschland. Und werden damit konfrontiert, wie wechselnde politische Systeme und Intellektuelle von Judith Butler bis Peter Handke um den Freiheitsbegriff ringen. „Schauen Sie einer Person in die Augen. Begrüßen Sie sich mit einem Nicken des Kopfes. Stimmen Sie sich mit den Augen ab: Wer geht gleich einen Schritt vor, wer einen zurück?“ werde ich aufgefordert. Ich finde ein Gegenüber. „Der Gebrauch der Freiheit: ein Bund, den wir schließen, indem wir gemeinsam Freiheit ausüben.“ Unsere Bewegungen werden exzentrischer. Wir werfen die Arme in die Luft, tanzen auf Abstand einen ersten Walzer. Vergessen die anderen auf dem Platz. Nah und achten doch Distanz. Eine zärtliche Geste an einem Ort, der metaphysisch das Ringen um Freiheit zwischen Selbstbestimmung und Unterwerfung verkörpert – vor allem im sonst intellektuell dicht verschränkten Dahingeplätscher des Audio-Walks.

Mit seiner neuen Ausgabe hat sich das Festival auf die Fahne geschrieben, zu seinen antifaschistischen Wurzeln zurückzukehren. Als „produzierendes Festival“ besteht das Programm vorwiegend aus Auftragsarbeiten und Uraufführungen. Seit der Intendanz von Ekaterina Degot, werden die einzelnen Programmpunkte noch stärker als zuvor unter einem Thema zusammengefasst und erobern als eine Art Parcours mit abseits der kulturellen Elfenbeintürme verteilten Ausstellungen, Installationen und Performances die Stadt. Und so treffen in einer ehemaligen Destillerie im migrantisch geprägten Stadtteil Gries nicht nur Werkräume, verglaste Büros und, seltsamerweise, Dienstwohnungen der Polizei in einem Labyrinth aus Tunneln, Treppen und Türen aufeinander, sondern auch Madonna und Papst Paul II. um die ermordeten Kinder Gazas im Himmel willkommen zu heißen (Nástio Mosquito: „They the them are we: MONO(I)DIALOGUES“). Es ist ein dantesker Ausstellungsaufbau, in dessen Keller man nach der Überquerung des Styx (ja, wirklich, mit einer Fährperson auf Wasser – Performance: Gelitin: „Am Asphodeliengrund 29“) feststellen muss: Shakespeare hatte recht, die Hölle ist leer, und alle Teufel sind hier. Auf der Erde.

Und sie heißen nicht nur Trump, Erdogan, Putin oder Höcke. Es ist die Kunst des Teufels zu verführen. Mit einfachen Antworten auf stetig komplexer werdende Fragen. Wie diese Verführung ganz konkret aussehen kann, wird in „Violenza 2025“ von Michiel Vandevelde, Pankaj Tiwari und Eneas Prawdzic erlebbar. Da kommt ein junger Mann auf die Bühne, der Max. Sympathisch, gepflegt. Es sei ein schöner Sommerabend, wie schön, dass wir dennoch ins Theater gekommen sind. Diese Mühe, die schätze er. Er wolle, dass wir alle eine gute Zeit miteinander haben. Vielleicht mit einem Lied? Was wir denn gerne hören? Ich habe das ungute Gefühl, zu wissen, in welche Richtung das geht. Ein Mann aus dem Publikum sagt, er höre gerne die Beatles. Max stimmt ein Lied an, das ihm gefällt: „I’m from Austria“. Vorsichtig singen einige im Publikum mit. Es gibt Lieder, die zeigen, welche Macht musikalische Kompositionen haben. Patriotische Lieder oder einfach Lieder, in denen es um eine spezifische Region geht. Man kann sich vorstellen, wie Menschen sich in der Kneipe in den Armen liegen und leidenschaftlich mitgröhlen. Im Miteinander aufgehen. In mir regt sich eine Sehnsucht, wenn ich dem Max auf der Bühne zuhöre: das will ich auch. Und genau in dem Moment dreht sich der Wind, wie vermutet. Zum zweiten Refrain kommen weitere junge Männer auf die Bühne, Nick, Jakob, Lukas und Rafael heißen sie. Und sie sind junge Rechte, die sich in den folgenden 70 Minuten immer weiter radikalisieren. Und wir: wir schauen ihnen dabei zu, während sie Hassparolen brüllen. Wir buhen sie aus, wenn sie eine Schweigeminute für Charlie Kirk einlegen. Wir lachen sie aus, wenn sie vor korinthischen Säulen ein Ertüchtigungs- und Kampfballett zu Gigi d'Agostinos von rechten Kreisen gekapertem „Toujours l'Amour“ aufführen. Aber wir schauen zu. Ich frage mich: was wäre passiert, wenn wir diese jungen Männer früher an die Hand genommen hätten. Ihnen ein alternatives Männlichkeitsbild gezeigt hätten, eine Antwort auf die Frage: wo gehöre ich eigentlich hin?

Dass die Verführung zum Kollektiven aber durchaus heilsam und lustvoll sein kann, zeigt Ivo Dimchev mit seiner Konzertperformance „Hot Sotz“. Da wird der Donauwalzer zur Lobeshymne auf die Masturbation, Trump entschuldigt sich für seine Insensibilität und zusammen schreiben wir einen Song in einer Whatsapp-Gruppe. Dazwischen immer wieder fast komisch provokative Fragen, wie: Would you rather do an orgy with FPÖ or an orgy with AfD? Zuvor wird noch der Kunstmarkt auseinandergenommen, indem Zeichnungen von Zuschauer:innen erst in einer Auktion versteigert und dann doch verschenkt werden. Überdies und vor allem ist Dimchev ein hervorragender Sänger. Seinen sonoren Bariton kann er bis in schwindelerregende Sopranhöhen mit heftig vibrierendem Tremolo treiben. Seinen Aufforderungen folgend begeben wir uns auf die Bühne, nehmen uns bunte Bänder und wirbeln sie durch die Luft. In der Menge sehe ich die Frau, mit der ich auf dem Freiheitsplatz getanzt habe. Sie lacht mir zu und dreht sich dann einmal im Kreis.

Es ist eine gute Frage, was in heutigen Zeiten noch Avantgarde ist. Der Steirische Herbst 2025 stellt sich diese Frage nicht nur, sondern liefert intellektuell, emotional und ästhetische herausfordernde Antworten.

 

Erschienen am 23.9.2025

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