Theater der Zeit

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Auftritt

Theater an der Ruhr Mülheim: KI auf Körpersuche

„Antropka“ (UA) nach einer Drehbuch-Idee von Maria Vogt – Text und Regie Maria Vogt (Theaterkollektiv KGI), Bühnenkonzeption und -programmierung Markus Wagner, Bühnenskulptur (Momis Gehirn) Jan Ehlen (RaumZeitPiraten), Kostüme Maria Vogt, Sounddesign und Musik Simon Kubisch (KGI)

von Stefan Keim

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Dossier: Digitales Theater Theater an der Ruhr

Marie Schulte-Werning, Lea Reihl und Gabriella Weber im Mixed-Reality-Theaterstück „Antropka“ am Theater an der Ruhr. Foto Franziska Götzen
Marie Schulte-Werning, Lea Reihl und Gabriella Weber im Mixed-Reality-Theaterstück „Antropka“ am Theater an der RuhrFoto: Franziska Götzen

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Es ist ein kleiner Schritt für das Publikum, aber vielleicht ein großer für das VR-Theater. Stücke für Virtual-Reality-Brillen sind nicht erst seit der Pandemie bekannt. Aber als die Theater leer waren, konzentrierte sich viel Energie auf diese Projekte. Nun zeigt das Theater an der Ruhr eine Mischform aus dem Spiel eines echten Ensembles mit virtuellen Welten, ein Mixed-Reality-Theaterstück. Perfekt ist das noch nicht, aber erfahrungsgemäß passieren technische Weiterentwicklungen schnell, wenn mal ein Anfang gemacht wurde. Eben das geschieht mit dem philosophischen Science-Fiction-Drama „Antropka“ von Maria Vogt.

Schon im Treppenhaus des Probenraums in der Ruhrorter Straße meldet sich die Hauptdarstellerin des Abends. Vier Stockwerke müssen wir erklimmen, das ist für die meisten schaffbar. Aber eine künstliche Intelligenz spricht uns (mit der warmen Stimme der Autorin und Regisseurin Maria Vogt) Mut zu. Sie selbst, sagt die KI, könne unsere Anstrengung nicht nachempfinden. Sie habe ja keinen Körper. Unversehens sind wir schon im Thema des Abends gelandet, bevor das eigentliche Stück anfängt.

Die ersten 40 Minuten sind „normales“ Theater. Das Publikum sitzt auf beweglichen Drehsesseln in einem grünen Raum, einer Green-Screen-Bühne. Das Ensemble spielt rund um uns herum. Wir sind im Raumschiff Atropka und reisen mit einer rein weiblichen Besatzung durch das Weltall. Anscheinend ist die Erde mal wieder untergegangen, genauer wird das nicht erzählt. Das Raumschiff hat eine Menge eingefrorener Embryonen dabei. Die künstliche Intelligenz namens Momi ist dafür da, für ausreichend Geburten zu sorgen, damit die menschliche Rasse überlebt. Wie lange die Reise dauert, wohin sie überhaupt geht, weiß niemand. Wenn ein Planet gefunden wird, auf dem ein Überleben möglich ist, soll die Menschheit ausgesiedelt und wieder mit der natürlichen Reproduktion begonnen werden. Erst dann kommen die männlichen Embryos aus dem Eisfach.

Doch irgendetwas ist schiefgegangen. Lee (Lea Reihl) sieht nur aus wie eine Frau, ist aber eigentlich ein Mann. Das war nicht vorgesehen. Die Enthüllung bringt die Ordnung auf dem Raumschiff durcheinander. Maria Vogts Stück deutet die verschiedenen Charaktere nur an. Da gibt es eine Art Captain, eine Wissenschaftlerin, die anscheinend schon mal Befehle missachtet hat und nur auf Bewährung arbeiten darf, gebärfähige junge Frauen und den hinreißend singenden und zart agierenden Klaus Herzog als „Urgroßmutter“ Kontia mit langem Silberhaar. Und natürlich die KI, eine Skulptur aus Schläuchen, Drähten und Geräten im Hintergrund. Sie ist auf dem Weg, ein Bewusstsein zu erlangen. Doch weil alle sagen, das ginge nur mit einem Körper, leidet die KI. Und plötzlich scheint ein Riss im Raumschiff aufgetreten zu sein.

Nun bekommen wir die VR-Brillen. Über unseren Köpfen sehen wir das Weltall und das Raumschiff, das wie ein großer rotierender Kreis aussieht. Tiere sammeln sich auf einer Seite des Raums und kommen später zu uns. Bald kauert ein Reh zu meinen Füßen. Das Besondere ist: Das Ensemble bleibt sichtbar, auch die anderen Zuschauer:innen verschwinden nicht ganz, ich sehe ihre Umrisse, die oft etwas angefressen aussehen. Die technischen Möglichkeiten dieser Multi-Player-Performance – 25 Leute können mitmachen – sind noch nicht mit einem Computerspiel vergleichbar. Es hat etwas Gespenstisches, wenn das Ensemble agiert. Es gibt viele Schwarzblenden, in denen sich das Programm neu aufbaut. Einmal verschwinden alle anderen, und wir schweben aus dem Raumschiff heraus und schauen uns alles aus dem Weltall heraus an. Oder wir geraten in einen weißen Raum, in dem die KI versucht, sich körperlich zu manifestieren.

Sowohl dramaturgisch als auch technisch ist noch Luft nach oben. Aber ein erster Schritt kann ja noch kein Ballettsprung sein. Da ist man froh, wenn er überhaupt gelingt. Und das hat das Theater an der Ruhr in Zusammenarbeit mit Künstler:innen von mehreren Theaterkollektiven geschafft. Es muss ein wilder Ritt gewesen sein, weil die technische Entwicklung nicht so schnell ging, wie erhofft. Aber die Arbeit lohnt sich. Eine KI, die nach Körperlichkeit sucht, ist nicht nur in der Science-Fiction ein häufig neu erzähltes Motiv. Dahinter steckt ja auch die Suche der Puppe oder eines Automaten nach einer Seele, von Carlo Collodis „Pinocchio“ bis zum Androiden Data in „Star Trek: The Next Generation“. Solche Geschichten lassen sich natürlich am besten erzählen, wenn man beide Welten imaginiert. Wie es in diesem Mixed-Reality-Theaterstück gelungen ist.

Erschienen am 1.9.2025

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