Theater der Zeit

Aktuelle Inszenierung

Castorf nach Schiller, Schiller nach Castorf?

Ein bombastischer „Wallenstein“ am Staatsschauspiel Dresden malt gewaltige Bilder in der Masse der Regieeinfälle

von Michael Bartsch

Erschienen in: Theater der Zeit: Frank Castorf – „Wallenstein“ in Dresden (06/2022)

Assoziationen: Sachsen Theaterkritiken Frank Castorf Staatsschauspiel Dresden

Fanny Staffa, Jannik Hinsch, Torsten Ranft, Marin Blülle, Moritz Kienemann, Henriette Hölzel, Nadja Stübiger, Daniel Séjourné, Kriemhild Hamann in Castorfs „Wallenstein“. Foto Sebastian Hoppe
Fanny Staffa, Jannik Hinsch, Torsten Ranft, Marin Blülle, Moritz Kienemann, Henriette Hölzel, Nadja Stübiger, Daniel Séjourné, Kriemhild Hamann in Castorfs „Wallenstein“.Foto: Sebastian Hoppe

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„Wer stört uns noch in später Nacht?“ Als dieser Satz nach Mitternacht fällt, lachen nur noch wenige. Ein größerer Teil scheint die unfreiwillige Ironie gar nicht mehr mitbekommen zu haben, jedenfalls deuten schräge Sitzhaltungen darauf hin. Auf der Bühne des Dresdner Schauspielhauses entwickelt sich Frank Castorfs „Wallenstein“ immer mehr zu einem Stück für Souffleuse und zwölf Spieler, die bei aller Professionalität auch der extremen Belastung der finalen Probentage Tribut zollen müssen. Genug ist nicht genug, und angesichts stetig hinzugefügter Ideen-Accessoires war die Premiere am Gründonnerstag zugleich der erste Komplettdurchlauf. Chapeau gegenüber der Flüstermeisterin Angelika Bosse, die der Truppe rettend in alle möglichen Extrempositionen nachjagen muss. Ähnlichen Respekt verdienen die Fitnessübungen der drei Live-Kameramänner.

Ungefähr halbieren wolle man den Schillerʼschen Text, hatte Staatsschauspiel-Chefdramaturg Jörg Bochow vorab erklärt. Also fünf bis sechs Stunden für alle drei Teile. Die Premiere dauerte eineinhalb Stunden länger. „Es ist ein Meer auszutrinken, und ich sehe manchmal das Ende nicht“, soll der Dichter über die Arbeit an seinem Großwerk gesagt haben. Bei dessen Castorf-­Bearbeitung muss man schon von einem Ozean sprechen, meinetwegen dem Atlantischen. Denn um Europa, seine Zerrissenheit, seine Kriege, seine gegenseitigen Vergewaltigungen geht es. Der Dreißigjährige Krieg kann als Parabel dieser „Wunde Europa“ gelten. Das Programmheft druckt Notizen Castorfs aus der Konzeptionsprobe vom Februar, in der er diese Wendung gebraucht.

Seine kenntnisreiche Montage historischer Ereignisse ­korrespondiert mit Fantasie und einer Assoziationskraft, die derzeit in der Ukraine für Zentraleuropäer schockierend noch von der grausamen Wirklichkeit übertroffen wird. Der lange Abend zerfällt denn auch in einen Schiller nach Castorf und einen Castorf nach Schiller. Der Regisseur bekennt sich ausdrücklich zum Fragmentarischen als Mittel beabsichtigter Irritation. Auch in Dresden entsteht zumindest im ersten Teil eine Kaskade von starken Bildern, die allerdings beim Publikum eine gute Stückkenntnis und mehr noch breite kulturelle und historische Bildung voraussetzt, um voll zu wirken.

Im ersten Teil kommt es auf dieses Wissen besonders an, will man sich am Castorfʼschen Kosmos delektieren. Noch nicht im langen, fürchterlichen Prolog aus dem „Lager“, der für sich spricht und vielleicht als das Bild der Inszenierung schlechthin im Gedächtnis bleibt. O Körper voll Blut und Wunden, das Haupt bedeckt mit anonymisierenden uniformen Masken! Die nackten, geschundenen Körper, das Menschenmaterial des Krieges präsentiert sich unmissverständlich.

Die Verfremdungen und Kollisionen lassen aber nicht lange auf sich warten, wenn im selben Aufzug über den Sinn des Theaters sinniert wird, darüber, „euch aus des Bürgerlebens engem Kreis auf einen höhʼren Standpunkt zu versetzen“. Man verfällt in mittelhochdeutsche Anklänge, in unartikuliertes Neusprech, ­später ins sächsische Idiom, lallt oder stammelt barbarisch. Nicht alles ist zu decodieren, die genussvollen Seitenhiebe auf die nach den Sternchen greifenden Gender-Sprachtürme kommen hin­gegen kabarettistisch direkt. Ebenso Castorfs Kalauer-Klassiker „Ne Villa willʼa“.

Was original bei Schiller im „Lager“ zur Kriegsstimmung und zu Kriegsfolgen für unterschiedliche Gruppen palavert wird, hat die Regie zu einem Rundumschlag über Jahrhunderte und Schauplätze eingeladen. Da passen alle Barbareien hinein, in die die vermeintlichen Hochzivilisationen Europas zurückgefallen waren und sind. Das geht unter die Haut, wird zuweilen von ­witzig bis zynischen Einfällen begleitet und lässt nicht bemerken, dass die ersten drei Spielstunden ohne Pause vergehen.

Zuerst Deutsche und Polen. Hans Frank wird zitiert, „Generalgouverneur“ nach dem Nazi-Überfall und einer der Angeklagten und Hingerichteten im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. Während er das Recht des „Herrenvolks“ beansprucht, sangen im selben Geist schon einen Krieg früher Soldaten das Lied „In einem Polenstädtchen“, eine Demokratie später der Schlagersänger Heino. Milder kommen die gar nicht so „gemiedlichen“ Sachsen weg. Deren berühmter starker Kurfürst August erkaufte sich 1697 die polnische Krone. Er klagt nur über ein undankbares Volk, ­darüber, es sei „schwierig, ein katholisches Volk zu regieren“. Die „Gustl von Blasewitz“ ist indessen nicht nur eine Konzession an die Dresdner Gastgeber, sie kommt bei Schiller tatsächlich als Marketenderin vor.

Das Spiel mit dem Makabren gehört zum Prinzip. Wenn die drei Musketiere parodiert werden. Oder wenn vier Panzer Auto­scooter spielen, altes Kriegsgerät, das man vielleicht „noch irgendwohin schicken kann“. Kaum entschlüsselt trägt Jannik Hinsch anfangs eine ukrainisch-nationalistische Uniform, hohe Stiefel, schwarze Pluderhosen, der nach vorn hängende kurze Zopf.

Castorf ist kein Mann verkopfter Abstraktionen, lässt auch einen ziemlich echt aussehenden Gaul reiten, und das Bühnenbild seines Vertrauten Aleksandar Denić folgt dem. Ein naturalistischer Feldherrenhügel mit Aussichtsplattform dreht sich auf der Bühne, erreichbar per Seil. Obenauf sind Spieße und Standarten gepflanzt. Der Hügel erweist sich auf der Rückseite als Dach eines Sternenhimmelpavillons nach Motiven des im 19. Jahrhundert vom Astronomen Flammarion entdeckten mittelalterlichen Holzstichs mit der charakteristischen siebenzackigen Sonne im Zentrum. Es geht um den „pelerin“, den Pilger am Weltenrand. Verdeckt wird er meistens von einem gelben Vorhang mit einem Adlersymbol, der aber streng genommen ein geteilter Adler und kein womöglich Habsburger Doppeladler ist. Weil alles metaphorisch aufgeladen ist, hat man auch hier zu grübeln.

Wichtiger aber als das klassische Bühnenbild ist ein barockes, jedenfalls nobles Hinterzimmer irgendwo backstage, das auch aus dem benachbarten Taschenbergpalais der Gräfin Cosel stammen könnte. Bei Castorfs Videomanie unverzichtbar, denn ein gefühltes Drittel des Bühnendramas spielt im Kino – nur ohne Popcorn im Parkett. Hier wird Kriegsrat gehalten, werden Fäden und Netze gesponnen, wird geliebt und geboren. Die Nahkamera verfolgt die Akteure auch sonst ständig und zoomt sie in allmählich ermüdender Weise heran.

Exzessives Spiel

Das Dutzend Spieler selbst scheint indessen lange unermüdlich. Das Mindeste, was man Castorfs erster Dresden-Beglückung abgewinnen kann, ist seine geradezu hypnotische Erweckung des Ensembles. Nicht, dass es sonst bei irdischen Regisseuren phlegmatisch über die Bretter schliche. Aber es scheint, als hätten einige Spieler nur darauf gewartet, derart herausgekitzelt zu werden. Wie entfesselt hätten manche gespielt, meinte ein Besucher.

Voran Nadja Stübiger, die als Herzogin oft geradezu explodiert. Henriette Hölzel steht ihr vor allem als Marketenderin kaum nach, fügt noch eine laszive Komponente hinzu. Exzessiv bis zum Schluss zeigt sich auch Jannik Hinsch als Illo. In Torsten Ranft begegnet man hingegen einem eiskalt-gefährlichen Vater Piccolomini. Frank Büttner hat als Berliner Gast einen ergreifenden Kapuziner-Monolog. Die Wallenstein-Hauptrolle legt Vergleiche mit Dieter Mann in der Dresdner Hasko-Weber-Inszenierung von 1999 nahe. Wirkte jener würdevoll und kaum wie der erste Schlächter im Felde, so erscheint Götz Schubert durchweg als gebremst, als unsicherer Zweifler und Ringender. Die Facette des cleveren Kriegsunternehmers tritt kaum hervor. Trotz eindring­licher Auftritte gewinnt die Figur kaum ein klares Profil.

Eindringlich darf diese viel beachtete Inszenierung überhaupt genannt werden. Durchaus erwartet, wobei Quantität nicht immer mit Qualität korrespondiert. Auch die Begegnung der ­Liebenden Thekla und Max wird noch gebrüllt, ihr Lied zuvor im roten Kleid gehörte zu den wenigen innigen Momenten der ­ sieben Stunden. Die permanente Forcierung erschöpft sich mit der Zeit. Auch die Ausstattung fügt sich in einen Abend der Extreme ein. Mit rund 12 000 Euro lagen die Kosten für die gewiss fantasievollen Kostüme von Adriana Braga Peretzki beim Drei­fachen des Üblichen.

Mit der Intensität ist es dann spätestens ab der zweiten Halbzeit meist vorbei. Zuvor ließen sich spät erst Figuren überhaupt erkennbar zuordnen, nun hält sich Castorf erstaunlich ­konsequent an den Originaltext. Allerdings ohne für weniger vorgebildete Zuschauer die Fäden des Ränkespiels um den großen Feldherrn und seine Eitelkeiten plausibler zu machen. Die vielen kleinen Stücke im komplexen Drama muss man nach wie vor selbst montieren. Es bleibt dabei eine launige Beobachtung, wie gebundene Sprache auf maximale Regiefreiheit trifft.

Überflüssig bleibt das aufgesetzte Finale. Wie im Vorherbst beim „Tartuffe“ von Volker Lösch wird eine kollektive Schluss­predigt als Rampentheater nachgeschoben. So, als misstraue auch ein Frank Castorf selbst der Wirkung seiner gewaltigen Bilder und damit der Auffassungsgabe des Publikums. Also noch zehn Minuten hintendran agitatorisches Pathos gegen das indigenen Völkern angetane Unrecht. „Wir wollen Rebellen sein!“, schallt es so flammend wie noch möglich in den Jugendstil-Saal. Spätnachts nicht mehr unbedingt. Wir haben trotzdem verstanden. //

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