Magazin
Bücher: Gespräche über Piscators Erbe in den USA
Erwin Piscator’s Legacy Lives On, Conversations about Theater. Hg. Michael Lahr, Verlag Elysium Between Two Continents 2020, 170 Seiten, 20 Euro.
von Anna Opel
Erschienen in: Theater der Zeit: BRACK IMPERieT – „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo (09/2022)
Assoziationen: Buchrezensionen
„Amerika: Kein Landen möglich. Die Bedingungen waren unmöglich, auch meine pers(önliche) Unfähigkeit, mich anzupassen“, schrieb Piscator 1956 in sein Tagebuch. Den Begriff „politisches Theater“ habe der Erfinder des politischen Theaters in den zwölf Jahren seines New Yorker Exils niemals erwähnt, schreibt Herausgeber Michael Lahr im Vorwort zu seinem zweisprachigen Interviewband „Piscators Erbe lebt weiter“.
Piscator kommt im Jahr 1940 in die Stadt, die während der Kriegsjahre zum Fluchtpunkt jüdischer und verfemter Künstler und Wissenschaftlerinnen aus Deutschland wird. In Europa ist er durch seine aufsehenerregenden revueartigen Inszenierungen berühmt, auf Augenhöhe mit Brecht. Doch anders als erhofft, findet Piscator am Broadway keine Geldgeber für seine Fassung von „Krieg und Frieden“. In der neuen Welt bemisst sich das Prädikat „wertvoll“ zuerst am Füllstand der Abendkasse. Der Broadway verlangt Entertainment. Piscator erhält immerhin einen Aufenthaltstitel als akademischer Lehrer, gibt über zehn Jahre am neu gegründeten Dramatic Workshop der New School for Social Research seine Ideen an Studenten weiter. Regelmäßig bringt er mit ihnen Inszenierungen auf die kleinen Bühnen, auf denen die Studierenden das Gelernte ausprobieren. Was ist in der New Yorker Theaterszene von Piscator geblieben?
Michael Lahr, Programmleiter des Elysium Between Two Continents, einer Organisation, die seit Jahrzehnten Veranstaltungen zur Exilgeschichte zwischen Berlin und New York kuratiert, hat nun eine illustre Reihe US-amerikanischer Theatermacher zu Piscators Erbe interviewt. Sie alle sind Preisträger des Piscator Awards für Verdienste um das zeitgenössische Theater. Unter dem Titel „Das Ästhetische und das Politische“ schlägt die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte in ihrer Einleitung den Bogen zurück bis zu Schillers Rede über die ästhetische Erziehung des Menschen. Piscator steht in der Tradition der Aufklärung, hat sie mit wegweisenden ästhetischen Entscheidungen künstlerisch weitergetrieben. Hierzulande beziehen sich zeitgenössische
Akteure wie Milo Rau und Hans-Werner Kroesinger, auch die alte Volksbühne auf sein Konzept des totalen Theaters. Aber wie ist politisches Theater unter den Bedingungen eines kaum subventionierten Betriebs zu machen? Eine auch aus hiesiger Perspektive interessante Frage.
Theatergründerin Judith Malina, Regisseur und Schauspieler Robert Wilson und Schauspielerin Lee Grant, auch der Dirigent Kurt Masur äußern sich zur Wechselbeziehung zwischen Politik und Kunst in ihrer Arbeit. Was will ich in meiner Theaterarbeit erreichen? Wie gelingt es? Welche gesellschaftliche Aufgabe hat Theater heute? Erst in Deutschland habe James Nicola, der künstlerische Direktor des einflussreichen New York Theatre Workshop, entdeckt, dass die Leute ins Theater gehen, um über sich
selbst nachzudenken, sagt er. Und ja, manchmal könnten Stücke die Welt ein bisschen verändern. Als Beispiel nennt er Tony Kushners „Angels in America“ und Lynn Nottages „Sweat“, Stücke also, die Diskussionen über gesellschaftliche Verschiebungen anstoßen. Judith Malina hat zwischen 1945 und 1947 bei Piscator Theaterregie studiert. Zeitlebens bezog sie sich künstlerisch und politisch auf seine Forderung, Theater müsse gesellschaftlich nützlich sein. Das von Malina und Julian Beck gegründete antibürgerliche Living Theatre fokussierte darauf, Zuschauer und Zuschauerinnen direkt als potenzielle politische Akteure anzusprechen: Das Publikum die eigene Handlungsfähigkeit, die Kraft des Kollektivs spüren lassen. Malina erklärt hier, inwiefern sie ihre Arbeit als Weiterentwicklung dessen begreift, was sie vor Jahrzehnten von Piscator gelernt hat.
Dass die befragten US-amerikanischen Theaterschaffenden ihre Stoffe und Erzählungen an den Bedürfnissen des Publikums messen, läuft keineswegs auf plumpe Anbiederung hinaus. Eher darauf, sich der Frage nach Relevanz und Wirksamkeit des eigenen Tuns immer neu zu stellen. Jedes der Gespräche hält andere Definitionen bereit, was heute als das Politische am Theater zu verstehen ist. Broadway-Regisseur Harold Prince schwärmt vom Broadway-Kracher „Hamilton“ als revolutionärem Musiktheater-Stück, das Geschichte aus der Perspektive und mit den ästhetischen Mitteln der PoC-Community erzählt. Das deutschsprachige Theater findet er langweilig.
Die Übersetzungen ins Deutsche sind sehr wörtlich, auch könnten die Texte hier und da stärker aufs Wesentliche konzentriert sein. Insgesamt aber ergeben sich bei der Lektüre immer neue, manchmal überraschende Blickwinkel auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Theatermachen diesseits und jenseits des großen Teichs. Und immer wieder kommt Lahr auf Piscator zurück, dessen Arbeit das Repertoire der ästhetischen Theatermittel insgesamt entscheidend modernisiert hat.
Die ausführlichen Interviews sind ergänzt von starken Schwarz-Weiß-Porträts der in New York lebenden französischen Fotografin Letizia Mariotti. //