Magazin
Rückkehr zum Domhof
Die 9. Ausgabe des Theaterfestivals „Spieltriebe“ in Osnabrück
von Hans Butterhof
Erschienen in: Theater der Zeit: Der Untergang des russischen Theaters (10/2022)
Assoziationen: Theaterkritiken Niedersachsen Theater Osnabrück

Nach einer Corona-bedingten Pause von einem Jahr kann das Theater Osnabrück wieder auf ein mit 1150 Zuschauer:innen erfolgreiches dreitägiges Spieltriebe-Festival für zeitgenössisches Theater zurückblicken. Auf fünf Routen mit elf Stücken erlebte das Publikum wieder Theater mit allen Sparten an ungewöhnlichen Orten: vom Parkhaus bis zur Friedhofskapelle.
Mit vier Produktionen war das diesjährige Partnerland Türkei dabei, darunter die deutsche Erstaufführung des mitreißenden Schauspiels „So weit weg“ („Tevâfuk“) von Şâmil Yılmaz. In ihm soll der harte Sexarbeiter Yusuf (Manuel Zschunke) aus dem schüchternen Halit (Mario Lopatta) „einen richtigen Mann“ machen und entwickelt sich dabei zum liebenden Menschen. Das Musiktheaterstück „insan. insaat. istanbul“ („Mensch. Baustelle. Istanbul“) fängt die quirlige Atmosphäre Istanbuls ein, und „Ellbogen“ nach dem Roman von Fatma Aydemir erzählt die Geschichte der 17-jährigen Hazal als beispielhaft für die dritte Generation türkischer Zuwanderer. Und ein Quartett aus Sopran, Ney-Flöte, Klavier und Schlagzeug führt mit „Patara – Hommage à Mozart“ von Fazıl Say einen hinreißenden musikalischen Dialog mit Mozarts A-Dur Klaviersonate KV 331 und einer hingehauchten Tänzerin.
Alle Routen begannen in Osnabrücks Großem Haus, dem Theater am Domhof, mit dem Schauspiel „antigone. ein requiem“ von Thomas Köck. Nur kurz erhebt sich auf der Bühne (Bühne und Kostüme: Anke Grot) die Ahnung eines klassisch griechischen Tempels, dessen Säulenreihen von den Falten eines Vorhangs angedeutet werden. Wird der später beiseitegezogen, zeigt sich ein hermetisch geschlossener Raum wie das sprichwörtliche Glashaus, in dem man nicht mit Steinen werfen soll. Es ist ein gelungenes Bild für eine der wesentlichen Thesen dieser „antigone“, dass die Täter am Ende die Opfer ihrer Taten sein werden.
Am Anfang des Stücks beklagt ein bürgerlich gekleideter Chor den Zustand seiner Stadt und meint das ganze Abendland. Überaltert sei es, überflüssig geworden und überfordert. Sein Wohlstand sei auf Leichen gebaut, und jetzt kämen diese Toten wieder. Und er mault, dass niemand diese Leichen mehr sehen will, die täglich am Strand angespült werden und die zu begraben ein Gesetz verbietet.
Regisseur Christian Schlüter mutet dem Publikum den Anblick von Leichen nicht zu und bietet statt Handlung wortreiche Diskussionen. Zunächst versucht Antigone (Katharina Kessler), die Nichte des Staatschefs Kreon, ihre Schwester Ismene (Hannah Walther) dafür zu gewinnen, das in ihren Augen unmenschliche Gesetz zu brechen. Aber weder die Anmutung von Mitverantwortung für die Toten noch flotte, Gewalt relativierende Sprüche überzeugen sie. Dann gerät Antigone mit dem flexiblen Kreon (Janko Kahle) über den Sinn von Staaten, Gesetzen und Werten aneinander. Selbstsicher und provokant fragend treibt sie ihn in die Enge bis zu dem widersprüchlichen Bekenntnis, Politik sei, wertfrei hinter den Werten zu stehen. So gewichtig die Sache, so richtig die Argumente – das hat schon etwas von Kabarett.
Aus den statuarischen Wortgefechten voller Kapitalismuskritik, Anklagen wegen Klimawandel, Dürren und Hungersnot bis hin zum Artensterben ragen kleine Handlungselemente wohltuend heraus. Sascha Maria Icks berührt, wenn sie als Kreons Gattin Eurydike mit winzigsten Gesten ihre Distanz zu dem ihr fremd gewordenen Politiker ausdrückt. Und Ronald Funke als alter Seher Teiresias erheitert mit seiner Betrübnis, in einem Männerkörper gefangen zu sein, statt in dem vielfach empfindsameren Frauenkörper zu leben, in den ihn einst der Biss einer Schlange wundersam versetzt hatte.
Eine Schwäche des Stücks sind die weitgehend schablonenhaft angelegten Figuren. Katharina Kessler ist als Antigone eine sympathisch streitbare, aber auch verbohrte Kämpferin, die von Janko Kahle als glatter, aber knallharter Machtpolitiker Kreon verzerrt gespiegelt wird. Hannah Walthers Ismene steht scheinbar konfliktscheu, aber nicht unklug dazwischen. Thomas Kienast gibt als Chorführer dem Volksempfinden nölig Ausdruck, alles zu wissen, aber nichts tun, nur wegsehen zu wollen.
Das gesinnungsethisch sicher einwandfreie Stück klagt treffend die Flüchtlingspolitik Europas an, die keine Verantwortung für die Folgen seines historischen Handelns übernimmt. Aber Europa hat so wenig einen realistischen Plan B wie, bei aller Militanz, Antigone. „antigone. ein requiem“ ist ein Abgesang auf das Abendland und seine handlungsorientierenden Werte. Das Stück konfrontiert das Publikum mutig mit seiner Ratlosigkeit, in die es nach eineinhalb spannenden Stunden auch entlassen wird. //