Auftritt
Staatsschauspiel Dresden: Parabel auf die Pervertierung einer Idee
„Wolokolamsker Chaussee I-V“ von Heiner Müller – Regie Josua Rösing, Bühne und Kostüme, Ariella Karatolou, Video Jens Bluhm
von Michael Bartsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Neue Dramatik (03/2023)
Assoziationen: Sachsen Theaterkritiken Josua Rösing Heiner Müller Staatsschauspiel Dresden
Seit einem Jahr sieht man die alten und jüngeren Klassiker anders, zumal dann, wenn sie sich mit historischen Kriegsstoffen befassen. Plötzlich klingt dann auch Heiner Müllers 1985 begonnenes fünfteiliges Poem drängend neu und zugleich ursprünglicher. Bezieht es doch seinen Ausgangsstoff aus dem Großen Vaterländischen Krieg, wie in Russland der Krieg eben jenes Sowjetrusslands gegen Hitlerdeutschland bezeichnet wird, das nun einen Weltkrieg, einen Krieg gegen die westlicheWelt begonnen hat. Allein schon die wiederkehrenden Panzermotive in den Videos der Inszenierung des Dresdner Staatsschauspiels assoziieren nicht nur die symbolisch aufgeladene aktuelle Diskussion um Panzerlieferungen an die Ukraine. Sie fügen Müllers Ausgangsmotiv einen Epilog hinzu, ein Kapitel alarmierender Ambiguität. Der russische Krieg verhinderte auch die geplante zweisprachige Inszenierung in Kooperation mit dem Moskauer Wachtangow-Theater und dem dortigen Goethe-Institut.
Sowjetische Panzer, die 1941/42 auf der titelgebenden Wolokolamsker Chaussee spät den unaufhaltsam scheinenden deutschen Vormarsch auf das nur 120 Kilometer entfernte Moskau stoppen konnten, retteten 1953 in der DDR und 1968 in Prag sowjetischen Vasallenregimen die Herrschaft. Drei Jahre vor deren Ende schrieb Müller erklärtermaßen dann schon sein „Requiem auf den sozialistischen Block“. Heute schießen im Donbass T-72-Panzer auf T-72-Panzer. Stringent führt auch die Dresdner Inszenierung von Josua Rösing den Weg von der Verteidigung zur Pervertierung einer Idee vor Augen. Sie behält vorteilhafterweise die originale Müllersche Chronologie der Teile bei.
Die in der Sowjetunion populäre Romanvorlage von Alexander Bek wirft eine zeitlose Frage auf. Kann es im Krieg Inseln des Humanismus geben, kann seine immanente Tendenz zur Totalität durch ethische Normen zumindest gemildert werden? Oder verlangt sein eigenes Gesetz die bedingungslose Unterordnung unter das Ziel des Siegen-Müssens um jeden Preis? Es gilt Historikern übrigens als ein Merkmal des Faschismus, diese Endsieg-Propaganda „bis alles in Scherben fällt, wie es im berüchtigten Horst-Wessel-Lied heißt. Wer im russischen Fernsehen jetzt einen Popsong mit dem Refrain hört „Ich bin Russe , ich gehe bis zum Ende“ („Ya Russkiy“ von Shaman), mag seine eigenen Vergleiche ziehen. Auch zum Müller-Text: „In unserem Leben gab es das Wort nicht: Rückzug!“
Ein Oberleutnant muss damals an der Wolokolamsker Chaussee ein Exempel an einem Soldaten statuieren, der sich in die Hand schoss, um dem Tod in aussichtsloser Lage zunächst zu entgehen. Ähnliches droht einem Militärarzt, der seinen Sanitätszug im Stich ließ. Es zerreißt den Offizier, aber es gibt in diesem Existenzkampf kein Recht auf Verweigerung, denn „was uns schlägt ist der General, der Angst heißt“, heißt es bei Heiner Müller. Wobei er und Romanautor Bek die Schilderung des Äußersten noch vermieden. Hinter der Front stand bekanntlich die zweite Reihe sowjetischer Politoffiziere, die Deserteure standrechtlich erschossen. Wie in der Wehrmacht auch.
Wie in vielen anderen Bühnenfassungen treten die acht Studierenden des Leipzig-Dresdner Schauspielstudios in Uniform auf, hier in gelbgrün. Eine Masse verängstigter Soldaten, die über hundert Minuten Spielzeit überwiegend chorisch oder zumindest in Gruppen spricht. Individuen verschwinden, „The Universal Soldier“ wie im bekannten Folksong. Bataillonskommandeur, Militärarzt oder später der Betriebsleiter treten kurz mit Solopassagen hervor, die sich aber nie zu einer Rolle formen. Es bleibt durchweg die szenische Deklamation eines dramatischen Gedichts, das an ein Brechtsches Lehrstück erinnert.
Diese Anlage bietet zwar den Eleven der Bühnenkunst wenig Raum zu eigener Profilierung, dient aber einer starken Eindringlichkeit insbesondere der Frontschilderungen in den ersten beiden Kapiteln. Sie kippt im Kentauren-Märchen über den Stasi-Funktionär „im Dienst der Dialektik“ und wird zu einer an sarkastischer Schärfe kaum zu überbietenden Farce. . Sie entgeht allerdings auch manchmal nur knapp der Abnutzungsgefahr, eben weil Figuren nicht interagieren und der starke bis zynische Text stets an das Publikum adressiert bleibt.
Ariella Karatolou hat ein multifunktionales Bühnengerüst gebaut, eine historische Baustelle, wenn man so will, auf der Fragmente eines gestürzten Denkmals herumliegen. Das funktioniert ganz praktisch, zumal sich auf segmentweise vorgespannte Gazewände Videos projizieren lassen. Es nimmt aber der überwiegend unisono agierenden Spielergruppe auch etwas von der geballten Wirkung im Raum.
Großes Textvertrauen lässt die Regie mit wenigen Licht-Schockeffekten auskommen. Auch eine musikalische Überhöhung vermisst man kaum. Die wohldosiert eingesetzten Videos von Jens Bluhm forcieren ebensowenig. Eines beeindruckt durch eine verborgene Friedensbotschaft: Würden nur Panzer überall auf der Welt in solche Fragmente zerfallen wie in dieser Animation!