Theater der Zeit

Auftritt

Rostock: Zauberbesen der Botschaft

Volkstheater Rostock: „Das Wunder von Mailand“ nach dem Film von Vittorio De Sica in der Bearbeitung von Peter Zadek. Regie Konstanze Lauterbach, Bühne Ariane Salzbrunn

von Juliane Voigt

Erschienen in: Theater der Zeit: Oliver Bukowski: „Warten auf’n Bus“ (01/2022)

Assoziationen: Sprechtheater Theaterkritiken Mecklenburg-Vorpommern Volkstheater Rostock

Mit „Das Wunder von Mailand“ kommt in Rostock ein Klassiker des Arthouse-Kinos auf die Bühne. Foto Dorit Gaetjen
Mit „Das Wunder von Mailand“ kommt in Rostock ein Klassiker des Arthouse-Kinos auf die Bühne.Foto: Dorit Gaetjen

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Filmklassiker erobern weiter die Bühne. Im Schweriner Theater hatte gerade „Die Kinder des Olymp“ in einer Bühnenversion Premiere. Das Volkstheater Rostock zieht nach mit ­italienischem Arthouse-Kino von 1951: „Das Wunder von Mailand“, Vittorio De Sicas Film nach dem Buch von Cesare Zavattini. Die ­Geschichte von dem guten Totó mit der ­Wundertaube war einer der letzten Filme des italienischen Neorealismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Tod von Mussolini hatte Italien für kurze Zeit eine kommunistische Regierung. Die Filme, die damals gedreht wurden, erzählten didaktisch von einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, oft an Ori­ginalschauplätzen mit Statisten aus dem ­Milieu. Es war eine kurze Phase, die Filme waren preisgekrönt und werden bis heute ­zitiert. „Das Wunder von Mailand“ war aber schon der Abgesang dieser Ära.

Auch auf der Rostocker Bühne hat gerade eine Krise die Menschen erschüttert. Venedig sei zu spät abgeriegelt worden. Tote habe man wie Lasagne gestapelt. Das weckt unbehagliche Erinnerungen an die Situation in Norditalien im vergangenen Jahr. Am ­Rande von Mailand treffen sich nun die ­Obdachlosen, schlottern unter Plastiktüten und drehen sich im Schwarm in die wärmenden Sonnenstrahlen, die sich mittels diffuser Bühnenbeleuchtung auf sie richten.

Totó, gespielt von Luis Quintana, ist der Einzige, der dabei gute Laune hat. Das färbt ab auf seine Umgebung. Wie das politisch linke Rot seiner zu großen Hosen. Er stiftet zur Besetzung des Areals an, gründet „Bamba“, eine Bretterbuden-Siedlung, stellt Regeln auf, verteilt den Mangel, vermittelt Bildung und imponiert mit schlichten Wahrheiten. Zum Beispiel, dass die Welt groß sei und gut und da oben der Mond und die ­Sterne sind. Mehr weiß das frühere Waisenkind auch nicht, aber das reicht ja auch schon. Zu wissen, dass Bamba nicht das Ende der Welt ist. Spalla (Ulrich K. Müller) schwebt denn auch bald fröhlich zappelnd an einer großen himmelblauen Luftballonwolke, symbolisch für die Euphorie des neuen schönen Lebens. Alfredo (Bernd Färber) verliebt sich – wir sind in Italien! – in eine antike Statue, 90 Minuten standfest verkörpert von Linda Kuhn. Gianni (Antonio Spatuzzi) spielt Luft-Akkordeon und träumt von einem echten Instrument, mit dem er die Bühnen der Welt erobern will. Jeder rückt mit seiner Geschichte kurz wie unter einer großen Lupe in den Mittelpunkt des Geschehens. In dem mit Latten und Leitern und mit Kunstrasen gepolsterten Budenzauber auf der Bühne spielt sich das soziale Leben der knapp 20 Protagonisten in Episoden ab. Mit den üblichen Konflikten einer zu großen WG. Was in dem Ambiente nicht untergebracht werden kann, wird als Animation oder Film-Sequenz projiziert. „Madame Butterfly“ in der Mailänder Scala oder der Verrat von Rapp (Frank Buchwald) an den Spekulanten Mobbi. Das schöne Leben endet nämlich, als sich herausstellt, dass Bamba auf einer Ölquelle gebaut wurde. Totó kann die Räumung zunächst mittels einer himmlischen Wundertaube verhindern, das Übel aber nicht an der Wurzel packen. Am Ende muss er der wahllosen Wohlstandsanhäufung seiner Freunde zusehen.

Regisseurin Konstanze Lauterbach klebt in hundert Minuten die Szenen wie Abziehbilder aneinander, die mit Stopps und Umbaupausen die Geschichte erzählen, aber nicht in sie hineinziehen. Das war auch, was der ansonsten preisgekrönten und bald weltberühmten Filmvorlage zuweilen vorgeworfen wurde: Es fehle an einem plausiblen Untergrund und an Figurenentwicklung, alles ordne sich der großen Idee unter.

Insofern geht es bei diesem Stück eher um die Frage: Wann spielt man „Das Wunder von Mailand“? In welcher Zeit ist es wichtig, es auf die Bühne zu bringen? Offensichtlich jetzt. „Das Wunder von Mailand“ ist eine fantastische Geschichte mit schlichter politischer Botschaft. Als Ensemblestück zur Spielzeiteröffnung ein politisches Signal aus dem Norden. Totó nimmt die Utopie vom schönen Leben mit in eine Zeit nach der nächsten großen Krise, wenn solche Ideen wieder gefragt sind, und reitet am Ende auf einem Zauberbesen in den Himmel. Im Rostocker Volkstheater enthusiastisch beklatscht von vielen, vor allem jungen Zuschauern. //

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