Gespräch
Fantasie als Schutzraum
Michael Lurse im Gespräch mit Anurupa Roy bei „hellwach digital“
Das internationale Theaterfestival ‚hellwach‘ in Hamm musste im Juni 2021 im digitalen Raum stattfinden, denn viele eingeladene Gruppen hätten nicht anreisen können. Eine geplante Koproduktion zwischen Helios Theater und Katkatha Puppet Arts Trust musste verschoben werden. Die Theater blieben aber in engem Austausch und entschieden, ein während der Pandemie in Delhi entstandenes Projekt bei ‚hellwach digital‘ zu zeigen. Der folgende Text ist ein Auszug aus einem längeren Zoom-Interview von Michael Lurse – Helios Theater Hamm, künstlerischer Leiter des Festivals – mit der Theatermacherin Anurupa Roy vom Katkatha Puppet Arts Trust in Delhi, Indien. Das Gespräch war während ‚hellwach digital‘ im Stream zu erleben.
von Anurupa Roy und Michael Lurse
Erschienen in: double 44: Regie? – Zwischen Autor*innenschaft und Außenblick (11/2021)
Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Puppen-, Figuren- & Objekttheater Theaterkritiken Helios Theater
Michael Lurse: Was geschah am 23. März 2020?
Anurupa Roy: Ich glaube es war ein Montag. Voran ging am Sonntag ein vollständiger Lockdown. Niemand verließ sein Haus, kein öffentlicher Verkehr fuhr, und dann kam plötzlich die Ankündigung, dass es einen permanenten Lockdown geben würde. Er sollte mindestens zwei Monate dauern. Man gab den Menschen vier Stunden Zeit, um sich vorzubereiten. In indischen Großstädten gibt es sehr viele Arbeitskräfte, die nicht ständig in der Stadt leben. Sie kommen aus den umliegenden oder aus entfernteren Dörfern und arbeiten als Tagelöhner. Als Fahrer, als Bauarbeiter, sie reinigen die Stadt und die Häuser der Menschen, sie stellen den gesamten Dienstleistungssektor, der wirklich groß ist. Plötzlich wurde klar, dass es sich dabei um einige Millionen Menschen handelte und durch den plötzlichen Lockdown gerieten sie in Panik. Sehr viele von ihnen wurden arbeitslos und von ihren Vermietern vertrieben. Sie hatten nicht genug Geld, um weiter in den Städten zu leben. Also packten sie Kinder, Tiere und alles, was sie besaßen, und machten sich zu Fuß auf den Weg. Es gab keine Züge, keine Busse, keine Taxis, keine Autos. Keiner von uns wusste davon, bis wir uns aus unseren Häusern wagten. Ich musste Lebensmittel besorgen, aber ich kam gar nicht dazu, weil ich an einer der Hauptstraßen in Neu Delhi wohne. Dort waren Tausende von Menschen in großen Gruppen unterwegs, oft schon seit Mitternacht. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Alle standen unter Schock und wir hörten, dass sie in ihre Dörfer laufen wollten oder besser, mussten, hunderte oder gar über tausend Kilometer entfernt.
Die ganze Nacht hindurch hörten wir das Gemurmel des Menschenstroms von der Straße. Am nächsten Morgen hatte ein Nachbar eine Idee. Er trommelte Leute und Geld zusammen. Wir konnten einen Laden aufmachen, obwohl alles geschlossen war, und in diesem Laden gab es Vorräte. Es gab rohes Gemüse und wir begannen zu kochen. Ab 9 Uhr morgens verteilten wir Lebensmittel an die Menschen, denn wir hatten gehört, dass sie zuletzt etwas gegessen hatten, als sie ihre Häuser verlassen hatten. Da nichts geöffnet war, gab es keine Möglichkeit, unterwegs Essen oder auch nur Wasser zu kaufen. Zum Glück gab es viele Menschen, die sich plötzlich um die Versorgung kümmerten, über drei Tage, und am dritten Tag traf ich ein Mädchen. Sie war bereits etwa 100 Kilometer gelaufen. Die Familie hatte vor, weitere 300 Kilometer zu laufen. Insgesamt würden sie also über 400 Kilometer zurücklegen, zu Fuß.
Und dieses Mädchen trug ihr schönstes rosafarbenes Kleid?
Ja, da war dieses kleine Mädchen, in der riesigen Menschenmenge, das ein sehr schönes rosa Seidenkleid trug, und ich konnte nicht umhin, sie zu bemerken. Ich musste sie fragen, ob das ihr Lieblingskleid sei, und sie sagte ja. Es war das Kleid, das sie sonst nur zu ihrem Geburtstag trug. Es war rosa, ihre Lieblingsfarbe, und ich fragte: "Warum trägst du es heute?“ Sie sagte: „Weil wir zu einem Picknick gehen“. Ihr Name war Satara. Wir haben ihre Kontaktdaten leider nicht notiert, weil zu diesem Zeitpunkt niemand wusste, dass sie die Hauptfigur einer Geschichte werden würde, von der die Menschen auf der ganzen Welt erfahren sollten. Ich hoffe, dass es ihr heute gut geht.
Du konntest dich während des Lockdowns nicht mit deinen Theaterkolleg*innen treffen, um zu arbeiten. Du musstest eine Form finden, mit dem zu arbeiten, was du zu Hause hattest. Papier, alte Kartons und du musstest das Handy als Kamera benutzen. In deinem in dieser Zeit entstandenen Film ‚The girl in the pink frock‘ geht es um ‚the bad‘ und ‚the bat‘. Das Mädchen Satara denkt, dass sie die Fledermaus (the bat) fangen muss, weil diese das Böse (the bad) ist, das die Menschen tötet.
Ich glaube, ich war einfach nur geschockt von dem, was passiert war. Ich habe das Mädchen gezeichnet und dann meine Freundin Aditi Mediratta angerufen und ihr alles erzählt. Am nächsten Tag schickte mir Aditi eine Geschichte. Sie fragte auch, warum das Mädchen das rosa Kleid trug, und ich sagte, das Einzige, was sie mir erzählt hatte, war, dass sie dachte, sie würde zu einem Picknick gehen, weil ihre Mutter es ihr so gesagt hatte. Das Mädchen Satara war sehr aufgeregt. Dieses Kind, das schon etwa 100 Kilometer gelaufen war, schien aber wohlauf zu sein. Sie trug sogar ihre Partyschuhe, was bedeutet, dass die Partyschuhe eine Wanderung von über 400 Kilometern überstehen müssten. Daran glaubte ich nicht. Die große Frage, die sich uns stellte, war, was sie aufrecht erhielt. Aditi stellte sich vor, dass, während wir Feiglinge alle in unserem Haus sitzen und um unser Leben fürchten, dieses kleine Kind auf die Straße läuft und diejenige ist, die die Fledermaus jagt. Ich filmte ein paar Sequenzen, allein in meinem Zimmer. Es war nicht geplant, etwas zu veröffentlichen. Bis ich diese Sequenzen meinen Freunden schickte. Wir begannen Dokumente, die im Fernsehen, in den sozialen Medien und in den Zeitungen zu finden waren, zu sammeln. Wir setzten alles zusammen und plötzlich hatten wir diesen Film, den wir wieder mit Freunden teilten. Wir haben alle das Gefühl, dass wir nichts tun können. Aber dieses Mädchen spricht über Mut und darüber, wie man es mit der Fledermaus und mit dem Bösen aufnimmt. Die Geschichte verbreitete sich in den sozialen Medien, auf Facebook und vor allem über WhatsApp. Ich denke, die Fledermaus und das Böse sind zu einem Symbol für die Bedrohung geworden und das Mädchen für jemanden, der trotz des Risikos hinausgeht und etwas tut. In ihrem eigenen Kopf war Satara, das Mädchen im rosa Kleid, trotz aller Mühsal glücklich.
Das ist eine wunderbare Beschreibung für die Kraft der Fantasie. Das Mädchen glaubt daran, dass es die Fledermaus fangen muss, um das Böse zu besiegen. Sie trägt dazu eine Mausefalle mit sich. Diese Vorstellung schützt sie vor der harten Realität. Glaubst du, dass Fantasieräume für Kinder, oder für uns alle in schwierigen Lebenssituationen ein Schutzraum sein können?
Ich denke, für uns alle. Wir alle werden in bestimmten Situationen mehr oder weniger verrückt, besonders wenn wir eingesperrt sind. Ich glaube, der einzige Weg, wie wir unserem Leben einen Sinn geben können, ist die Flucht in all die Möglichkeiten einer Zukunft. Diese Hoffnung ist manchmal reine Fantasie, aber auch die Kraft, die uns alle antreibt. – www.helios-theater.de