thema: intendant:innendämmerung
Lappen hoch, Klima – Vorhang auf, Diversität
Der Schauspieler Michael Klammer über Rassismus, eine neue Frontenbildung am Theater, Angst vor Fehlern und das Recht auf Fauxpas
von Christine Wahl und Michael Klammer
Erschienen in: Theater der Zeit: Das große Kegeln – Zur Machtdebatte am Theater (06/2021)
Assoziationen: Recht Debatte Akteure Schauspielhaus Salzburg Schauspiel Stuttgart Maxim Gorki Theater Residenztheater Burgtheater Wien
Herr Klammer, als wir Sie fragten, ob Sie Zeit und Lust hätten, mit uns über die aktuelle Theaterkrise zu sprechen – über die Fälle von Rassismus, Sexismus und Machtmissbrauch, die gerade an vielen Häusern publik wurden – waren Sie erst einmal zögerlich: Nein, meinten Sie spontan, Lust hätten Sie eigentlich nicht. Warum nicht?
Mir geht es in dieser Debatte zu sehr um einzelne Personen, um Macht und Parteilichkeiten. Die Dinge, die mich am Theater interessieren – eine gemeinschaftliche Perspektive und, vor allem, Inhalte – kommen mir gerade zu wenig vor.
Was meinen Sie mit „Parteilichkeiten“?
Im Theater findet zurzeit eine Art Lagerbildung statt. Auf der einen Seite haben neue Strömungen wie #MeToo oder Black Lives Matter dazu geführt, dass endlich auch Positionen jenseits der weißen Mehrheitsgesellschaft Gehör finden: Stimmen von PoC und BIPoC, aus der schwarzen Community oder von Menschen mit Migrationshintergrund, die Teil der Gesellschaft sind und in ihr sozialisiert wurden, deren Perspektiven bis jetzt aber trotzdem kaum vorkamen. Dass sich das gerade ändert, ist mehr als überfällig! Und auf der anderen Seite gibt es diese Strukturen von meist weißen, schon etwas älteren Intendanten, die sich vielleicht in die Ecke gedrängt fühlen, weil jetzt – um es mal auf ein bewusst plattes Bild zu bringen – viele sagen: Das Theater ist ein alter heterosexueller Schwanz, der abgeschnitten werden muss. Und diese beiden Cluster treffen im Moment aufeinander.
Und bilden ein ziemlich eskalationsträchtiges Soziotop.
Genau. Und mein Problem besteht darin, dass ich da eigentlich schon viel weiter bin und statt über Frontenbildung lieber über Stücke sprechen würde, die man jetzt machen könnte oder Geschichten, die wir erzählen wollen – und zwar gemeinschaftlich. Deswegen sind mir solche Gespräche, wie wir sie jetzt führen, oft lästig. Aber klar; sie sind natürlich absolut notwendig!
Wir unterhalten uns ja jetzt in einem journalistischen Medium. Wie wird dieses Gespräch denn im Theater selbst geführt?
Vor zwei Wochen meinte ein Kollege zu mir: „Ganz ehrlich, ich sag’ zu den jungen Kollegen nur noch ,Tag‘ und ,Tschüs‘, mehr habe ich mit dem Ganzen nicht mehr zu tun; man darf ja gar nix mehr sagen und muss total aufpassen, was man auf den Proben macht, wie man sich den Leuten nähert – mich interessiert das alles nicht mehr!“ In solchen Situationen denke ich: Natürlich kann man das so extrem sehen, aber es ist dann halt auch ein Endpunkt. Dieses Beleidigtsein hilft keinem weiter, sondern treibt uns immer tiefer in diese Ecken, in diese Lager hinein. Ich muss dazu sagen, dass der betreffende Kollege der liebste Mensch ist, den ich kenne. Der würde niemals übergriffig werden, weil er dazu viel zu empathisch und zu gut erzogen ist. Und ich verstehe einerseits, was er meint mit diesem Auf-der-Hut-Sein, finde aber andererseits, dass es vielleicht auch gar nicht schlecht ist, wenn jetzt alle erst mal ein bisschen auf der Hut sind, bis wir eine neue Lockerheit gewonnen haben.
Wie sieht dieses Auf-der-Hut-Sein denn genau aus?
Ich will das eigentlich gar nicht so konkretisieren. Generell ist es so, dass vieles, was heute – zu Recht – als Rassismus oder Sexismus definiert wird, früher mit Sätzen abgetan wurde wie: Nimm das mal nicht so ernst oder so persönlich. Rassistisch oder sexistisch waren diese Vorfälle schon immer, nur erfolgte eben kein Widerspruch und wurde keine Korrektur eingefordert. Das ist jetzt anders, und das ist auch gut so! Genauso sinnvoll wie die Tatsache, dass Menschen, die sich bis vor wenigen Jahren nicht getraut haben, in solchen Situationen etwas zu sagen und sich zu wehren, jetzt zu Beschwerdestellen gehen können und inzwischen fast jedes Theater so etwas wie eine Charta oder einen Verhaltenskodex hat. Eine Maßnahme, von der ich mir dagegen nicht ganz so sicher bin, ob ich sie für sinnvoll halte, ist die große Anzahl an Petitionen, die jetzt überall aufploppen, um Sachverhalte zu verhandeln. Da wäre aus meiner Sicht ein persönliches Gespräch unter den Beteiligten der richtigere Weg; vielleicht mittels einer Mediation oder vor Zeugen. Denn mit diesen Petitionen wird die Situation meist nicht bereinigt, sondern das Thema vergrößert, indem teilweise gar nicht mehr der oder die Betroffene selbst, sondern das Umfeld sagt, so geht das nicht – und damit einen Sachverhalt aufgreift, der gar nicht wirklich der eigene ist.
Spielen Sie auf den offenen Brief an, mit dem sich kürzlich 1400 Theaterleute gegen einen FAZ-Artikel von Bernd Stegemann wendeten? Der hatte dort auf die Rassismusvorwürfe des Schauspielers Ron Iyamu gegen das Düsseldorfer Schauspielhaus reagiert und sowohl das Theater als auch Armin Petras in Schutz genommen, einen der von Iyamu in diesem Zusammenhang genannten Regisseure, unter dessen Intendanz Sie selbst von 2006 bis 2012 am Berliner Maxim Gorki Theater engagiert waren.
Ach, ich spiele da auf alles und gar nichts an. Ich will mich zu diesem konkreten Sachverhalt überhaupt nicht äußern. Ich kenne ihn nur aus Erzählungen, war selbst in Düsseldorf nicht dabei und kann mich deswegen nicht wirklich dazu verhalten.
Auch das war für Sie ein Grund zu zögern, als wir Sie um dieses Gespräch baten: Sie sagten, Sie könnten eigentlich nur für sich selbst sprechen und nicht für und über andere. Wie problematisch finden Sie es, in bestimmten Situationen weniger als Individuum denn als Repräsentant einer spezifischen Gruppe angesprochen und gelesen zu werden?
Ja, man repräsentiert sozusagen eine Gruppe von Menschen – in meinem Fall sind das Schwarze und PoC – und gilt dann sozusagen als Anlaufstelle, egal, ob man das immer möchte und richtig findet oder nicht. Früher habe ich das mitunter abgewehrt und gesagt, ich hätte nichts zu dem Thema beizutragen, weil es mich persönlich nicht betrifft. Das finde ich inzwischen falsch: Natürlich habe ich eine Haltung dazu, und ich weiß mittlerweile auch, wie andere Menschen den Theaterbetrieb erleben.
Sie selbst wurden auf der Bühne seit jeher – worum viele PoC bis heute kämpfen – colourblind besetzt; spielten also klassische Rollen wie Karl in den „Räubern“ oder Ferdinand in „Kabale und Liebe“, ohne dass Ihre Hautfarbe thematisiert wurde. Vor knapp zehn Jahren sagten Sie in einem Interview mit dem Tagesspiegel, man solle den Rassismus nicht unbedingt im Theater suchen.
Das war sehr naiv; so eine Aussage würde ich heute nicht mehr treffen. Ich bin damals wirklich nur von mir selbst ausgegangen und kannte schlichtweg keine rassistischen Vorfälle. Aber natürlich waren die auch nur deshalb nicht in dieser Form präsent, weil Betroffene viel weniger darüber sprachen. Deswegen habe ich das Thema verkannt. Definitiv muss überall, wo Menschen sich unterdrückt, beleidigt oder nicht ernst genommen fühlen, diesem Gefühl nachgegangen werden – das gilt für Rassismus genauso wie für Sexismus. Ich finde nur, wir müssen schauen, dass wir dabei schnellstmöglich eine Art und Weise des Dialogs finden, die uns nicht in Fronten spaltet, sondern wirklich einen gemeinschaftlichen, konstruktiven Diskurs schafft. Und das sehe ich leider gerade ein bisschen verrutschen, das finde ich schade. Zumal diese Frontenverhärtung nicht nur zwischen schwarz und weiß existiert, sondern auch zwischen jung und alt, weiblich und männlich, alt und neu, plakativ und performativ und so weiter. Da bricht gerade vieles auf – eigentlich könnte es eine total spannende Zeit sein am Theater!
Aber?
Da muss ich ein bisschen ausholen: Für Menschen, die zu faul oder zu arrogant sind, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, sich mit Feminismus zu beschäftigen oder mit anderen Kulturkreisen, habe ich keinerlei Verständnis. Und wer heute noch am N-Wort festhält, wird dann vielleicht auch zu Recht mal von einer Petition aus dem Sessel gehoben. Aber jenseits dieser unbelehrbaren Beleidigten sehe ich eigentlich auch eine ziemlich große „Dafür“-Fraktion. Ich glaube, vielen Menschen gehen die Dinge nur schlicht und ergreifend zu schnell. Und wieder andere – zu denen ich auch mich selbst zählen würde – sind dadurch ein bisschen verschreckt, dass einem in diesem Lernprozess, selbst wenn man alles annehmen möchte und komplett pro ist, ständig Fehler unterlaufen. Und das, finde ich, wird zurzeit in der Theaterkultur vollkommen ausgeklammert: Du darfst keine Fehler mehr machen. Aber wo Diskurse stattfinden, wo Menschen Gespräche führen und argumentieren, passieren einfach ständig Fauxpas und Ungereimtheiten, da trittst du permanent in Fettnäpfchen. In dieser Beziehung müssen wir großherziger werden, denn wenn Leute sich zurückziehen, weil sie das Gefühl haben, sobald ich etwas Falsches sage, werde ich gebrandmarkt oder sogar angeklagt, kann von einer Gesprächsgrundlage keine Rede sein. Die würde darin bestehen, dass man sagt, ich fühle das anders, oder ich sehe das soundso und würde dir gern erklären, wieso.
Wird dadurch, dass man keine Fehler machen darf, auch die Offenheit auf den Proben beeinträchtigt?
Alles wird davon beeinflusst, von den Leseproben über die Aufführungen bis zu den privaten Gesprächen. Noch einmal: Respekt und Übersicht sind absolut notwendig und wichtig! Furcht dagegen ist immer ein sehr schlechter Ratgeber. Ich habe mal eine Kollegin erlebt, die sich von einem Kollegen beleidigt fühlte und zu ihm sagte, es sei nicht ihre Aufgabe, ihm zu erklären, warum. Der Kollege wusste aber gar nicht, um welches Thema es überhaupt geht, er kannte den betreffenden Diskurs nicht.
Was war denn der Punkt?
Das will ich hier gar nicht ausführen, das kann man ja auf alles münzen. Ich dachte in dem Moment nur: Jetzt herrscht absoluter Stillstand zwischen euch, so kommt ihr garantiert nicht weiter, und auf diese Art gewinnt der Kollege natürlich auch nicht die entsprechende Expertise. Was mich am Theater zurzeit stört, ist, dass es nicht verziehen wird, wenn man nicht perfekt über Feminismus, Rassismus et cetera Bescheid weiß. Dabei kann ich aus meiner eigenen Erfahrung nur sagen: Die allermeisten Menschen wissen tatsächlich nicht perfekt Bescheid. Die allerwenigsten davon sind aber komplett beratungsresistent.
Was schlagen Sie vor?
Wir brauchen schnellstmöglich einen Common Sense darüber, wie man in die Debatten geht, sodass es für beide Seiten möglich ist, über alles zu sprechen, ohne Angst haben zu müssen, dass danach kein gemeinsames Arbeiten mehr möglich ist oder man von etwas ausgeschlossen wird. Es muss wirklich ein Bekenntnis existieren, dass wir uns ein paar Regeln geben, unter denen wir uns dann aber tatsächlich aufeinander einlassen – und zu denen auch die Vereinbarung gehört, dass wir nicht jedes Mal, wenn wir beleidigt sind, alles komplett abbrennen. Andernfalls – und das ist wirklich etwas, was ich zurzeit befürchte – probieren alle nur noch mit Leuten, mit denen sie schon tausend Sachen zusammen gemacht haben und die sie so gut kennen, dass sie sicher sind, sich in ihrer Gegenwart frei bewegen zu können. Und das fände ich sehr schade.
Was haben Sie persönlich für Erfahrungen mit dem innertheatralen Dialog gemacht?
Ich habe schon öfter jemandem in aller Ruhe unter vier Augen erklärt, warum ich denke, dass die Kollegin die Situation gerade völlig anders wahrgenommen hat als er. Das waren eigentlich immer gute Erfahrungen; die Reaktion lautete meist: Ach so, danke, das war mir gar nicht klar! Umgekehrt ist es mir auch selbst schon passiert, dass Vorwürfe im Raum standen, denen ich mich stellen musste – und die mich überrascht haben, weil ich mir nicht darüber im Klaren war, offenbar jemanden verletzt zu haben. Aber man muss die Sachen dann ernst nehmen und nicht beleidigt sein.
Haben Sie einen konkreten Wunsch ans Theater, wenn es im Herbst – hoffentlich – wieder öffnet? Nach dem Motto: Back to better?
Ich wünsche dem Theater alles Gute! (Lacht) Ich selbst mache zurzeit lieber Film und Fernsehen.
Tatsächlich? Ja, da wirst du morgens abgeholt, alle haben gute Laune, und du wirst besser bezahlt. Nein, aber im Ernst: Mich hat die Dynamik am Theater in den letzten Jahren wirklich extrem müde gemacht, dieses ewige Rüssel-an-Schwanz.
Das müssen Sie erklären!
Ich kam mir vor wie ein Zirkuselefant: immer im Kreis laufen, acht Wochen lang unter der einen Überschrift, dann acht Wochen unter der nächsten. Auf mich wirkte das Theater wirklich oft wie eine Überschriften-Kiste: Hier geht ein Lappen hoch, und es ist Klima dahinter, dort öffnet sich der Vorhang, und ich hab Sexismus als Thema. Mich hat das irgendwann gelangweilt: Heute die Alten, morgen die Diversität; ein halbes Jahr lang ist man vollkommen auf ein Thema fokussiert – und dann ist es plötzlich nicht mehr wichtig, oder wie?
Das ist aber schade fürs Theater, wenn Sie ihm den Rücken kehren!
Ach, ich kehre dem Theater nicht wirklich den Rücken, sondern gestehe mir nur ein, dass es auch mal eine Weile ohne geht. Darauf, wie sich die Bühnen jetzt noch mal verwandeln, wie sie mit den ganzen Debatten umgehen, ob eine Umstrukturierung funktionieren kann und wie die Hierarchien nach und nach flacher werden, bin ich schon gespannt! Es scheint ja durchaus Orte zu geben, wo das bereits klappt, gerade zum Beispiel in Basel, wo ich wirklich das Gefühl habe, dass es so etwas wie eine basisdemokratische Entscheidungskraft gibt.
Das Theater Basel wird seit Beginn der Spielzeit von einer Kollektivleitung geführt, der unter anderem der Regisseur Antú Romero Nunes angehört, mit dem Sie schon häufig gearbeitet haben.
Ja, und wenn mich da ein Thema interessiert – und man mich dabeihaben will – freue ich mich auch, wenn ich wieder mitmachen kann! //