Eine polnische Feministin am Rollenden Tisch
von Ilona Motyka
Erschienen in: Partizipation Stadt Theater (11/2018)
Assoziationen: Brandenburg Freie Szene Performance Europa Club Real

Als ich an einem sonnigen Samstag nach Słubice kam, wusste ich nicht wirklich, was mich erwartete. Rollender Tisch? (Schautafel 9) Natürlich, die deutschen Partner*innen des Projekts hatten mir diese Idee vorgestellt, aber Wissen und Sehen sind zwei sehr unterschiedliche Dinge. Tatsächlich, ein solider Tisch mit zwei etwas weniger soliden Bänken waren in der Nähe der Brücke für die Aktion bereitgestellt. Der Tisch war imponierend und machte mich noch gespannter darauf, wie er sich denn dann bewegen würde. Das alles verhieß Erlebnisse, die ich in meiner Arbeit in einer NGO bisher noch nicht gehabt hatte.
Meine NGO heißt Lubuskie Stowarzyszenie na Rzecz Kobiet BABA und hat ihren Sitz in Zielona Góra. Zum Alltag von BABA gehören die Begegnungen mit Menschen – meistens Frauen –, die Hilfe suchen, weil sie von Männern geschlagen oder gedemütigt werden. Wir bieten für sie kostenfreie juristische, psychologische und berufsbezogene Beratung an. Meine Aufgabe ist die Koordination der Büroarbeit, die Gestaltung von Beratungen, die Koordination der Freiwilligenarbeit und die Kooperation mit ähnlichen Organisationen im Ausland. Und natürlich auch das ständige Kämpfen um Finanzierungsquellen für unsere Tätigkeit. Ja, das ist ein Kampf, weil wir leider für unsere Tätigkeit keine stabile und langfristige Förderung bekommen und im Wett kampf um Spenden von privaten Personen und Unternehmen mit vielen gemeinnützigen Organisationen konkurrieren. Der alltägliche Kontakt mit häuslicher Gewalt und dadurch geschädigten Personen und auch die finanziellen Pro bleme bedeuten aber nicht, dass unsere Arbeit langweilig oder traurig ist. Alle unsere Freiwilligen (nur weiblich) haben sich selbst für diese Tätigkeit entschieden, also mäkelt niemand und jeder Erfolg freut uns alle sehr. Außer dem unterstützen wir uns gegenseitig, lachen oft zusammen und sind offen für alles, was neu ist.
Auch die Initiative der Gruppe Club Real, die uns die Teilnahme an dem Projekt Der rollende Tisch von Słubice angeboten hat, fanden wir sehr interessant – aber auch etwas unheimlich. Als die Person, die gut Deutsch spricht, wurde ich delegiert, um an diesem Projekt teilzunehmen. Natürlich musste ich meinen Kolleginnen versprechen, dass ich ihnen darüber genau berichten würde!
Also, der Tisch fängt an zu rollen und für mich erklärt sich, wie er sich bewegt: Eine Person zieht und eine Person schiebt und so beginnt, viel einfacher als ich gedacht hatte, der Tisch seine Fahrten auf der Brücke zwischen Deutschland und Polen. Ich setze mich bequem hin und begutachte, was zu essen angeboten wird. Frisches süßes Brot und Kaffee mit Milch! Ich bediene mich mit Vergnügen, weil ich vor dem Losfahren in Zielona Góra nur Tee getrunken hatte. Am Anfang ist die Zahl der Gäste am Tisch nicht besonders groß und die Fußgänger*innen gucken unsicher, aber auch mit Neugierde auf dieses ungewöhnliche Fahrzeug. Auf die Schnelle versuchen wir, sie einzuladen, mit uns zu frühstücken und am Gespräch teilzunehmen. Die Fußgänger*innen sind unterschiedlichen Alters, die meisten aber jünger als ich. Ich sitze bequem, beobachte diese Leute und muss über die Vergangenheit nachdenken. Genauso wie sie heute habe ich mehrmals die Grenze zwischen Deutschland und Polen überschritten. Wie viele von diesen Fußgänger*innen erinnern sich noch an die Zeiten der Reisepässe, Währungsbücher, östlicher und westlicher Deutschmark? Ich glaube, nur wenige. Ich erinnere mich an diese Zeiten sehr gut. Ich habe in Dresden studiert und einige Jahre später bin ich mit meiner Familie nach Deutschland gezogen, wo ich in veschiedenen Regionen gewohnt habe. Ich erinnere mich, dass die Grenzübertritte an der Oder und Neiße immer mit größeren oder kleineren Schwierigkeiten verbunden waren. Deswegen bin ich jetzt nach vielen Jahren sehr berührt, wie einfach, angenehm und sogar erhebend der Grenzübertritt durch unsere gemeinsame Teilnahme an diesem künstlerischen Projekt sein kann.
Bei Kuchen und Kaffee fangen wir also an, über die Themen zu reden, die Club Real vorschlägt:
1.
Was sind aktuell wichtige Themen und Kämpfe des Feminismus in Polen und Deutschland?
Ich erzähle, womit wir Feministinnen in Zielona Góra uns gerade beschäftigen. Zu den wichtigsten Themen gehört das Thema Abtreibung. In Polen ist sie generell verboten, außer in drei besonderen Fällen: wenn das Leben der Mutter bedroht, die Leibesfrucht schwer beschädigt oder die Schwangerschaft durch eine Gewalttat verursacht ist. Die Ärzte machen aus Opportunismus und aus Angst nicht einmal „legale“ Abtreibungen, also suchen die Frauen nach Alternativen im Internet und werden mit Betrügern konfrontiert, die gefälschte Tabletten anbieten, um Fehlgeburten einzuleiten.
Organisationen wie unsere versuchen, ein Abtreibungsrecht einzuführen, das u. a. die Schwangerschaftsunterbrechung bis zur zwölften Woche erlaubt, bessere sexuelle Bildung in den Schulen einführt und einfacheren Zugang zu Verhütungsmitteln garantiert. Aus diesen Gründen gehen wir auf die Straße, organisieren Demonstrationen und schreiben Petitionen. Auf diesen Demonstrationen thematisieren wir auch weitere für uns wichtige Themen wie den Kampf gegen häusliche Gewalt oder die Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen.
Als weiteres Problem sehen wir die zu kleine Anzahl an Frauen an, die in Polen in den Regierungsgeschäften vertreten sind. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Demonstrationen auf den Straßen allein nicht helfen. Jetzt versuchen wir, unsere weibliche Repräsentation im Sejm, den Stadträten, amtsfreien Gemeinden und den Wojewodschaften zu vergrößern. Die nächsten Kommunalwahlen werden schon im Herbst 2018 stattfinden – deswegen bereiten wir uns intensiv vor, schreiben Listen mit Frauen, die an den Wahlen teilnehmen wollen usw.
Ein weiterer wichtiger Aspekt für die Frauengesellschaft in Polen ist die Bekämpfung der häuslichen Gewalt. Unsere Tätigkeiten in dieser Richtung werden vom Staat ungern gesehen, weil sie die Kohärenz in den Familien gefährden. Dass eine geschlagene Frau ihren Mann verlässt, ist aus der Perspektive des Staats, genauer gesagt, der katholischen Kirche, die die ethischen und rechtlichen „Standards“ bestimmt, etwas Böses. Der Staat erhöhte die Kosten für eine Scheidung drastisch, was vor allem arme und von ihren Ehemännern finanziell abhängige Frauen schädigt, die so keine Chance haben, wegzugehen und das Sorgerecht für ihre Kinder zugesprochen zu bekommen. Polizei und Sozialarbeiter*innen wollen sich nicht in das Leben der Menschen einmischen und Anlass zur Klage geben, dass sie Familien zerstören und zu Scheidungen überreden. Unser Verein war einer der Vereine, bei denen die Polizei Durchsuchungen durchgeführt, die Vereinsvorsitzende verhört und die Computer und Dokumente beschlagnahmt hat. Dadurch wurde das Vertrauen, dass Informationen über Frauen, die bei uns Hilfe finden, sicher sind und nicht nach außen getragen werden, wesentlich geschmälert. Als eine Organisation, die nicht im ganzen Land arbeitet und keine Vertretung in Warschau hat, wo man die Probleme einfacher schildern kann, hätte das für uns das Ende bedeuten können. Aber wir funktionieren weiter. Die gerichtlichen Angelegenheiten zu erledigen und rechtlichen Schutz vor Schikanen und ständigen Kontrollen durch die staatliche Organe zu erlangen, bedeutet sehr viel Arbeit für die Vereinsmitglieder, dabei ist dies nur die Voraussetzung, um eine effektive Hilfe für die anderen zu ermöglichen. Ein Teil unserer BABA-Mitarbeiterinnen hat sich von dieser feindseligen Einstellung einschüchtern lassen. Sie sind ausgetreten, weil sie ihre hauptberufliche Tätigkeit nicht verlieren wollten.
Im Laufe unserer Diskussion müssen wir regelmäßig die Sprache wechseln, nämlich in der Mitte der Brücke. Am Anfang sind wir noch verwirrt, aber schnell gewöhnen wir uns daran und führen die Diskussion nahtlos in der anderen Sprache weiter.
2.
Was tun Sie, um Selbstoptimierung zu vermeiden?
Die Antwort ist die Bildung eigener Bewusstheit. Oft versuchen schon die Eltern mit guten Absichten, uns als perfekte Individuen zu erziehen. So wäre es gut, wenn wir schon in der Schule die Fähigkeit erwerben würden, uns selbst objektiv betrachten zu können, mit Liebe und Vertrauen und mit Toleranz gegenüber unseren Schwächen. Zu diesem Zweck fängt unser Verein schon in diesem Jahr mit Schulungen für Mädchen in Form von unterschiedlichen Workshops an. Diese Aktivitäten sollen Mädchen helfen, ihr Selbstvertrauen, ihren Mut und ihre Durchsetzungsfähigkeit zu stärken, und sie werden gleichzeitig auch darauf abzielen, Handlungsfähigkeit, Führungsqualitäten und zugleich weibliche Solidarität zu fördern. Wir wollen, dass diese Mädchen kreativer werden, damit sie Fragen stellen und ihre eigenen Antworten suchen. Wir denken, dass sie dann nicht mehr gezwungen sein werden, Perfektion zu erreichen. Nach einem Besuch des Jugendclubs „Zimtzicken“ in Potsdam, der nur für Mädchen und junge Frauen gedacht ist, hatten wir die Idee zu diesem Workshop. Wir möchten ihnen eines unserer Zimmer exklusiv zur Verfügung stellen, vielleicht finden wir auch eine kleine Küche. In diesem Umfeld sollen sich die Mädchen sicher, unabhängig und „zu Hause“ fühlen. Wenn diese erste Phase gelingt, werden wir die Workshops fortsetzen, weitere wichtige Themen behandeln und vor allem das Problem der häuslichen Gewalt ansprechen, einen Bereich, in dem wir uns als Expertinnen fühlen.
Während wir die Passant*innen ermutigen, mit uns am Tisch zu reden, müssen wir gleichzeitig darauf achten, dass sie zu ihrer eigenen Sicherheit den Gehweg nicht verlassen. Glücklicherweise schaffen wir es ohne Probleme und setzen die Diskussion fort.
3.
Was belastet Frauen in Polen und Deutschland heute am meisten?
Ich glaube, dass die Antwort auf diese Frage hauptsächlich vom Alter der Frauen abhängt. Für die Jüngeren ist das wichtigste Problem sicherlich die unzureichende Zahl von Plätzen in Krippen und Kindergärten. Heutzutage wollen und können sich Mütter nicht mehr ganz der Betreuung ihrer Kinder widmen. Sie wollen nicht, weil sie ihre Berufe ausüben, sich in der Öffentlichkeit verwirklichen und finanziell unabhängig sein wollen. Und sie können nicht, weil ein Gehalt nicht ausreichend ist, um ein anständiges Leben für die Familie zu gewährleisten. Außerdem ist es vielen Frauen bewusst, dass Vorschulbildung für die spätere Entwicklung der Kinder einfach sehr wichtig ist.
Für ältere Frauen ist das Problem oft das einsame und arme Altern. Frauen in Polen gehen im Alter von sechzig Jahren in den Ruhestand (Männer im Alter von 65 Jahren). Aus diesem Grund ist ihre Rentenleistung niedriger als die der Männer. Darüber hinaus verdienen Frauen in der Regel weniger als Männer, selbst in den gleichen Positionen, und haben öfter Unterbrechungen der Berufstätigkeit, weil meist sie es sind, die sich um Familienmitglieder (Kinder, Eltern, Schwiegereltern usw.) kümmern. Dies führt dazu, dass viele alte Frauen in Armut leben, obwohl sie in dieser Lebensperiode oft Pflege und – fast immer – teure Medikamente brauchen.
Ich freue mich, dass immer mehrere Männer an der Diskussion teilnehmen. Es ist interessant, ihre Meinungen zu unseren feministischen Themen zu hören, und gleichzeitig helfen einige, den Tisch zu schieben. Die Atmosphäre wird immer lockerer.
4.
Unterstützt das Leben an der Grenze den Seelenfrieden einer Frau?
Für uns im Verein BABA bedeutet das Leben nah an der Grenze zu Deutschland vor allem lebendige Kontakte zu deutschen Organisationen, die nicht allein mit Frauenfragen zu tun haben, wie das Frauenzentrum Lila Villa Cottbus, die Frauenbrücke Ost-West, die Friedrich-Ebert-Stiftung und der Deutsche Frauenrat.
Wir können mit einem Augenzwinkern sagen, dass unsere innere Ruhe durch diese Kontakte gewachsen ist. Warum? Weil wir viel durch diese Treffen gelernt haben. Der Erfahrungsaustausch hat uns gezeigt, dass nicht nur wir Probleme mit der Umsetzung unserer Absichten haben; wir haben neue Wege erlernt, um im Alltag besser zurechtzukommen, wir haben unsere soziale Arbeit aus einer anderen Perspektive betrachtet. Am wichtigsten war jedoch, dass die Organisationen auf der anderen Seite der Grenze uns große Unterstützung und Solidarität entgegengebracht haben.
Während unseres Gesprächs am rollenden Tisch nennen wir oft Beispiele aus unserem eigenen Leben. Dadurch lernen wir die persönlichen Schicksale der anderen kennen, die Schicksale der Menschen aus dem Grenzland, das wir teilen; wir erzählen, wie wir die Sprache der Nachbar*innen gelernt haben, wie das Leben auf der anderen Seite des Flusses aussieht …
5.
Ist der weibliche Nervenzusammenbruch eine Fiktion oder ein reales Phänomen?
Gemäß der Definition: „Ein Nervenzusammenbruch ist ein plötzlicher, scharfer Zusammenbruch des psychischen Gleichgewichts, der sich aus einer starken Stressreaktion ergibt“, ist dies natürlich ein „echtes Phänomen“, das sowohl Frauen als auch Männer betrifft.
Es stellt sich jedoch die Frage, warum der „weibliche“ Nervenzusammenbruch häufiger erwähnt wird. Das letzte Wort sollten hier die Expert*innen haben, die Psychiater*innen und Psycholog*innen, aber wir haben oft in unserer Organisation darüber gesprochen, warum Frauen als anfälliger für mentale Krisen stigmatisiert werden. Dies hat unserer Meinung nach keine reale Grundlage. Wir denken, dass das Gegenteil der Fall ist: Frauen sind gestresster, zum Beispiel durch die Doppelbelastung Arbeit und Haushalt, als alleinerziehende Mütter oder aufgrund einer fehlenden echten Gleichberechtigung. Trotzdem zeigen sie eine größere mentale Resilienz. Sie reagieren emotional – sie weinen oder schreien oder erzählen ihren Freundinnen von ihren schwierigen Erfahrungen, aber sie brechen nicht zusammen, vielmehr nutzen sie seit Jahrtausenden entwickelte Instrumente für den Umgang mit Stress.
Zum Schluss unserer gemeinsamen Diskussionen erhalte ich eine schöne Rose, die lange Zeit bei mir zu Hause in einer Vase steht. Wenn ich sie ansehe, erinnere ich mich an unser Projekt und ich denke, so wie in der Familie wichtige Dinge am Tisch besprochen werden, hat uns auch der Tisch auf der Brücke zwischen Słubice und Frankfurt (Oder) näher zusammengebracht und es ermöglicht, uns auszutauschen und verschiedene Grenzen zu überschreiten!