Report
Patenbabys und Selfies im Bühnenbild
Wie sich das Schauspiel am Luzerner Theater mit seiner Schauspieldirektorin Katja Langenbach und der Intendantin Ina Karr erneuert hat
von Martin Wigger
Erschienen in: Theater der Zeit: Theater & Erinnerung – Gedächtnistheater – Wie die Vergangenheit spielt (05/2023)
Assoziationen: Schweiz Ina Karr Katja Langenbach Luzerner Theater

Besser kann man nicht empfangen werden: ein Selfie auf dem Sofa mitten im Bühnenbild von „Stützen der Gesellschaft“. Das Luzerner Publikum folgt dieser Einladung, genießt die Nervosität ringsum, die sonst nur das Ensemble hinter der Bühne kennt. Eine Inszenierung zur Inszenierung. Gleich vorab. Diese jüngste Arbeit von Katja Langenbach, der Schauspieldirektorin am Luzerner Theater, hatte Mitte Februar Premiere und vertritt durchaus die künstlerische Linie des Schauspiels unter der Intendanz von Ina Karr in ihrer zweiten Spielzeit: klar erzählte Stoffe und Geschichten, davon die Hälfte klassisch oder zumindest bekannt, die andere Hälfte neu geschrieben oder dokumentarisch. Diese Gewichtung ist für ein städtisches Theater wie das Luzerner eher ungewöhnlich und mutig. Selbst der Ibsen kommt frisch und direkt daher. Wie Tableaus schieben sich die Szenen fast auf Augenhöhe vor das Publikum, Bürgerthemen für Luzerner:innen. Bernick: Am Ende blendet dieses Logo einer fatal geschäftstüchtigen Familie um den gleichnamigen Hausherrn ihre eigenen Mitglieder. Selfies würde man mit denen nicht mehr machen, fast schämt man sich für die eigene anfängliche Naivität, aber den Bernicks geht es genauso. Ein letztes gemeinsames Familienporträt will nicht gelingen.
Jede Familie hat ihre Geheimnisse. Und jede Familie ist auf ihre eigene Art speziell und damit erst recht geheimnisvoll – und entsprechend theatralisch. Das Schauspiel am Luzerner Theater scheint diese Rezeptur zur Praxis zu machen und schickt gleich im April fast die komplette Besetzung von „Stützen der Gesellschaft“ in eine neue Familienaufstellung mit dem Titel „Bad Girls“, eine Adaption von Wagners Walküre. Unter der Regie von Brigitte Dethier geht es hier um Geschlechterverhältnisse, aber auch um Fragen nach Herkunft und uralte Ablagerungen von Verwandtschaft. Explosive Mechanismen und Dynamiken eingeschlossen. Opernarien werden zu Sprechgesang, das Ensemble auf der Bühne live musikalisch begleitet. Und als wäre das alles nicht schon Bezug genug, gibt es den einst in Luzern wahlbeheimateten Wagner über mehrere Spielzeiten hinweg, als sogenanntes „Ring-Ding“ und gemeinsames Projekt von Oper, Schauspiel und Tanz. Aber nicht nur die Sparten werden gemischt, auch die Altersklassen: „Bad Girls“ läuft unter dem Label „jung“ und richtet sich damit im Abendspielplan auch an ein jugendliches Publikum.
Katja Langenbach lacht, als sie auf das Thema Familie angesprochen wird. Sie ist erstaunt, dass es von außen in dieser Weise wahrnehmbar ist, denn es sei eine Umgangsform und ein Thema, das ihr sehr entspreche, wie eine innere Agenda, aber nicht als Aushängeschild über dem Theater. Unabhängig von den genannten Inszenierungen spürt man auch als Zuschauer, dass sich im gesamten Luzerner Theater seit dem Amtsantritt von Intendantin Ina Karr etwas verändert hat. Das Haus strahlt eine angenehme Präsenz aller Beteiligten aus, gern geht man hier in die Premieren und Vorstellungen, schnell kommt man ins Gespräch mit Beteiligten oder anderen Zuschauer:innen. Eine Gastfreundlichkeit, die an anderen Häusern programmatisch verkündet wird, findet hier selbstverständlich statt. Man fühlt sich mit dem Angebot des Theaters gemeint und spricht über die spartenübergreifende Offenheit. Katja Langenbach möchte das „Familiäre“ der Arbeit größer fassen und in einen sozialen Kontext stellen. Das Ensemble steht dabei an vorderer Stelle, es wurde auf zehn Spielende aufgestockt. Da tatsächlich viele der Kolleg:innen Familien und Kinder haben, wird weitgehend auf Abendproben verzichtet. Dies ermöglicht eine andere Verbindung mit der Stadt aufgrund neuer Freiräume für ein Leben außerhalb des Theaters.
Die Großen Geheimnisse
Sie selbst fühle sich am eigenen Haus sehr wahrgenommen, sagt Katja Langenbach und möchte das weitergeben an ihr Team im Schauspiel. Wenn sie ihre eigene Arbeit beschreiben wolle, interessiere sie die Idee von Gemeinschaft, besonders ein gemeinsames Erzählen, das Erfinden anderer Welten, ein Imaginieren von Möglichkeiten und – weil im Theater – das Herstellen von Berührungen. Über sechzehn Jahre war sie freischaffend im Spagat zwischen Sophiensälen, Kampnagel, Gessnerallee und diversen Stadttheatern (u.a. St. Gallen, Ingolstadt, Magdeburg, Aachen, Ulm). Daneben gab es immer eine feste Konstante: das Produzieren von Hörspielen und Features; seit Jahren macht sie dies parallel, mit großem Anliegen für das Erzählen von Geschichten. Gerade erst gesendet wurde im Deutschlandfunk eine sehr poetische Reflexion mit Raoul Schrott („Inventur des Sommers“) über das Abwesende und Nicht-Präsente in unserem Leben. Darin geht es wieder um die großen Geheimnisse, die für Kunst und Theater Zwischenräume aufmachen.
Und Luzern selbst? Wie verbindet man sich mit dieser Stadt? „Wir haben Steine aus dem Vierwaldstättersee auf die Bühne geholt“, antwortet Katja Langenbach sehr konkret, „und diese im Sinne der Nachhaltigkeit nach der Produktion in den See zurückgebracht.“ Die Steine waren für ihre Eröffnungsinszenierung vor über einem Jahr, für „Maria“ von Simon Stephens, ein Balanceakt für die Spielenden zu Themen wie Geburt, Liebe und Tod. Sozusagen vorfamiliäre Themen, auch wieder für ein jüngeres Publikum. Tatsächlich fällt auf, wie sehr das Luzerner Theater um junge Menschen bemüht ist. In diesem Ausmaß hat es das hier noch nie gegeben. Mit klaren Zeichensetzungen: So konnten alle Kinder, die während der ersten Spielzeit in Luzern geboren wurden, automatisch zu Patenbabys des Theaters werden. Sie gehören damit sehr jung bereits zum Publikum und werden jedes Jahr zu einer extra für ihre Altersgruppe kreierte Produktion eingeladen.
Doch auch für die vorausgehenden Generationen gibt es im Programm genug Anbindungen. Dominik Busch, Autor und Dramaturg am Haus, hat in der letzten Spielzeit einen traumatischen Amoklauf in Luzern mit seinem Stück „Der Chor“ aufgegriffen und viele Menschen aus der Stadt auf die Bühne geholt. Noch in diesem Frühjahr entwickelt Regisseurin Anna Papst mit „Ich, aber anders“ eine Parabel über die Kraft des Verkleidens – in einer Hochburg der Schweizer Fasnacht. Nicht weiter erstaunlich, dass unter Ina Karr und Katja Langenbach Frauen eine zentrale Rolle spielen. Antje Schupp verhandelte in „LIEBE / eine argumentative Übung“ mit drei Schauspielerinnen eine klassische Beziehung zwischen Frau und Mann und in Kleists „Amphitryon“ ließ die Regie von Elsa-Sophie Jach die hintergangene Alkmene vielgestaltig zur Hauptfigur werden.
Vielleicht hat das Luzerner Theater manch anderen Theatern eines voraus: Es gibt hier offenbar eine gute Stimmigkeit zwischen dem, was auf der Bühne passiert, und dem, was hinter der Bühne geschieht. Dazu hat es sogar eine hauseigene Akademie gegründet, die „Reflektor“ heißt und intern junge Bühnenangehörige fördern soll durch Mentoring von erfahrenen Kolleg:innen. Eigene künstlerische Arbeiten der Teilnehmenden können auf die Bühne gebracht werden, außerdem besteht die Möglichkeit monatlicher Fort- und Weiterbildungen. Zuständig für den „Reflektor“ ist Valentin Köhler, gleichzeitig Hausszenograf des Theaters. In dieser Funktion wird er zu Beginn der kommenden Saison eine originale Mosterei aus dem Luzerner Umland mitten in das Theater hinein verfrachten. Als offenes Spielhaus für eine richtig große und alte Familie. Für die Atriden. In der Regie der Schauspieldirektorin. Mehr sei hier aber nicht verraten. In jedem Fall schließt sich sinnträchtig der Kreis.