GESPRÄCHE/INTERVIEWS
Der charmante Betrüger
Luk Perceval über seine Idee eines Künstlertheaters im Gespräch mit Thomas Irmer
von Luk Perceval und Thomas Irmer
Erschienen in: Arbeitsbuch 2019: Luk Perceval (07/2019)
Luk Perceval, Sie sind mit Ihrer neuesten Produktion „Black / The Sorrows of Belgium I: Congo“, die im März 2019 am NTGent herauskam, zu einem alten Thema zurückgekehrt: der immer noch nicht aufgearbeiteten belgischen Kolonialgeschichte. Die Besetzung aus acht Schauspielerinnen und Schauspielern ist sehr schön multikulturell gemischt. Entspricht das Ihrem Modell von Theater, das Sie als Artist in Residence am NTGent gemeinsam mit Milo Rau, dem Intendanten, durchsetzen wollen?
Dazu gibt’s noch eine schwarze Schauspielerin, Andie Dushime, die die männliche Hauptrolle spielt. Ja, das ist tatsächlich etwas, das wir hier durchsetzen möchten. Wir möchten vom „Type-Casting“ wegkommen. Es soll vielmehr um Persönlichkeiten auf der Bühne gehen, sodass die Präsenz dieser Schauspielerinnen und Schauspieler auch bei den Zuschauern ein anderes Bewusstsein auslöst. Die Spieler sprechen manchmal Texte, die, wenn sie von jemandem mit kongolesischen Wurzeln kommen, sehr provokativ sind, weil der Rassismus in der Gesellschaft so erst richtig deutlich wird. Das ist tatsächlich die Idee für dieses Haus und einer der Gründe, warum ich hier bin. Im deutschen Stadttheater haben mir diese Möglichkeiten sehr gefehlt. Das Modell des festen Ensembles in Deutschland ist einerseits sehr schön, weil es auch eine bestimmte Utopie ausdrückt, andererseits schränkt es auch sehr ein.
Sie haben zwanzig Jahre in Deutschland gearbeitet und diese Zeit gerade für beendet erklärt. Worin sehen Sie, im Sinne einer Bilanz, die Vorteile und eben auch Nachteile?
Einer der Vorteile des deutschen Stadttheaters ist, dass es eine Kontinuität gibt, die ich total wichtig finde. Es gibt einen gewissen Schutz für die Beteiligten. Daraus kann eine Synergie entstehen, die weltweit einzigartig ist. Ich will gar nicht dafür plädieren, das abzuschaffen. Im Gegenteil. Nur kostet diese Sicherheit, dieser Schutz viel Geld, was dazu führt, und sicherlich heutzutage mehr als vor zwanzig Jahren, dass die Subventionen nicht reichen, um so ein System offenzuhalten und es weiter zu entwickeln. Ich bemerke, dass viele dieser Ensembles immer kleiner werden, weil das Geld nicht reicht. Die Häuser holen sich dann Gäste, oft Medienstars, während die Ensemblemitglieder die kleineren Rollen kriegen. Das ist sogar ein internationales Phänomen. Um zu überleben, tauscht das Stadttheater seine künstlerischen und politischen Aufgaben gegen kommerzielle Interessen ein. Wenn man aber trotz der schwierigen Lage des Stadttheaters am Ensemble festhält, und das habe ich am Thalia Theater in Hamburg erlebt, erhalten Regisseure und Schauspieler genug Zeit und Raum, um sich zu entwickeln – und damit auch das Theater selbst, seine Sprache, seine Intelligenz und seine gesellschaftliche Resonanz. Was letztendlich künstlerisch wertvoller ist, als nur ein Event zu realisieren. Überall, ob in Frankreich, England oder Italien, sieht man jedoch, dass Ensembles abgebaut werden. Auch in Flandern ist das ein großes Thema in der Theaterszene. Auch hier ist die Idee des gemeinsamen Denkens und Schaffens völlig verlorengegangen. Womit auch der gesellschaftliche Wert des Theaters gemindert worden ist, nämlich ein Haus als Freiraum zu haben, in dem man ideologiefrei und tabufrei Dinge benennen kann und dadurch in der Gesellschaft eine Diskussion provoziert. Diese Möglichkeit gerät, auch in Deutschland, immer mehr in den Hintergrund. Es geht eher um das Überleben, nicht um die politische Haltung. Was wir hier versuchen, ist, diese Haltung und die Provokation in den Vordergrund zu stellen. Wobei die finanziellen Mittel übrigens viel bescheidener sind als in den deutschen Theatern, an denen ich gearbeitet habe. Deshalb müssen wir uns beschränken: Wir arbeiten erst mal nur mit Gästen, und dann schauen wir, ob langfristig aus dieser Gruppe ein Ensemble entsteht.
An der Front des NTGent hängt ein Banner mit der Aufschrift „The City Theater of the Future“. Das ist eine starke Ansage, erzählt aber noch wenig darüber, was drinnen passiert.
Ich finde es sehr gewagt, eine solche Aufschrift außen ans Theater zu hängen. Das ist ein Werbespruch, der auch zu einem Bumerang werden kann. Vielleicht zu hoch gegriffen und sogar ein bisschen prätentiös. Was aber klar sein muss: Ich bin hier Artist in Residence, das heißt, ich habe mich über drei Jahre mit dem Haus verbunden und bringe jedes Jahr einen Teil meiner Trilogie „The Sorrows of Belgium“ auf der großen Bühne heraus. Ansonsten unterrichte ich Yoga und werde noch einen Workshop für Schauspieler geben, die sich für das Haus interessieren. Dabei geht es mir darum, Schauspieler kennenzulernen, denen man sonst nie begegnet. Ich kann nicht behaupten, dass dieses Haus hundertprozentig für das steht, was ich über Theater denke. Ich habe in der Leitung auch keine Entscheidungsposition, ich bin fester Gast.
Sie hatten bereits 2016 für das Flämische Nationaltheater in Brüssel die Idee eines internationalen Theaters entwickelt.
Die Idee für Brüssel war im Grunde die gleiche, die wir hier versuchen umzusetzen: ein multikulturelles Ensemble. Obwohl ich dabei immer denke: Ja, Multikulturalität ist eine Sache, aber darauf darf es nicht beschränkt bleiben. Es müsste viel weiter gehen. Warum gibt es keine behinderten Schauspieler? Ich habe, als ich Studiengangsleiter für Schauspiel an der Theaterakademie Ludwigsburg war, von einem Bewerber mit Behinderung erfahren, der bei der Aufnahmeprüfung von der Jury abgelehnt worden war mit der Begründung, dass er ja nie Hamlet oder Faust spielen könne. Was ich total lächerlich fand … Es geht doch darum, dass die Bühne repräsentativ ist für die Gesellschaft. Dazu gehören nicht nur Menschen anderer Hautfarbe. Auf gewisse Art und Weise wird die Debatte über den Sinn des Stadttheaters auf modische Schlagzeilen reduziert. Das Absurdeste, was ich über die Berufung des neuen Intendanten der Münchner Kammerspiele gehört habe, ist, dass es unbedingt eine Frau sein sollte. Ich kann das im heutigen Kontext nachvollziehen, aber warum formuliert die Politik die Frage nicht so: Was ist in erster Linie für die Stadt wichtig? Was ist wichtig für das Theater? Was für eine Art von Theater braucht die Stadt? Darüber wird gar nicht debattiert, weil es gar kein politisches Interesse gibt, geschweige denn ein ausgebildetes Knowhow.
Das eine ist die kulturpolitische Agenda, das andere die künstlerische Entwicklung der Theater. Ich würde aus diesem Grund der durchaus berechtigten Formel vom „City Theatre of the Future“ das Künstlertheater des 21. Jahrhunderts an die Seite stellen. Dieser Begriff versucht, das Beste aus dem Theater des 20. Jahrhunderts ins Heute zu holen. Die Ensemblekultur ist, darüber haben wir schon gesprochen, der erste Punkt, dann die enge Verbindung mit Literatur und schließlich die Befreiung der Schauspieler, ihre Umwandlung von Rollendarstellern zu Persönlichkeiten auf der Bühne, die im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts stattgefunden hat. Sie selbst sind ja in den deutschen Jahren auch Autor geworden. Eigentlich hat, vor allem im Schauspiel, so etwas wie eine Vermischung der Funktionen von Autor und Dramaturg im Zusammenspiel mit der Regie stattgefunden. Das würde ich heute als Ansatz für ein Künstlertheater verstehen.
Sicher. Es gibt dabei aber zwei Elemente, die sich ausschließen. Einerseits die Struktur selbst, die über die Jahre aus einem Theater erwachsen ist, das für das Bürgertum repräsentativ sein musste und dessen nostalgischen Hang zu alten Formen befriedigte. Die Produktionsstruktur, die daraus entstanden ist, ist leider völlig veraltet. Das Bedürfnis, Klassiker auf der Bühne zu sehen, existiert bis heute. Zuschauer wollen lieber „Hamlet“ sehen als „Hamlet“ lesen. Und sie wollen auch eine Interpretation sehen, wodurch sie das Werk neu entdecken, neue Perspektiven erleben, um dadurch sich selbst und die eigenen Sichtweisen zu revidieren. Dieses Bedürfnis bleibt und ist auch völlig legitim. In diesem Sinne bin ich mit Milo nicht einverstanden, der sagt, dass die Inszenierung eines Stücks nur zwanzig Prozent vom Original zeigen darf, was genauso dogmatisch ist wie die texttreue Arbeitsweise. Aber die Welt hat sich viel mehr demokratisiert, wir können alle unsere Meinung kundtun, öffentlich, im Internet, in der Zeitung, als Kommentar. Wir leben immer weniger in einer Welt, in der man von oben gesagt bekommt, was Sache ist.
In diese Richtung müsste sich auch das Theater entwickeln und viel mehr zugänglich sein für Widersprüche, sich befreien von alten Mustern und Arbeitsweisen. Nicht in dem Sinne, dass man die Schauspieler durch andere Spezialisten ersetzt – wenngleich wir ständig die Wirklichkeit von Spezialisten erklärt bekommen. Vielmehr müsste man die Schauspieler herausfordern, sich noch mehr zu spezialisieren auf bestimmte Themen, wie jetzt bei „Black“, wo die Schauspieler als Autoren beteiligt sind, unterstützt von Wissenschaftlern und Dramaturgen, Tänzern und Musikern sowie Videokünstlern. So wie heutzutage die Redaktion einer Zeitung funktioniert: vernetzt mit vielen Quellen.
In der Hinsicht kann ich mich in Milos Philosophie wiederfinden. Das Problem bleibt das Erbe der veralteten Theaterstruktur; dass da mehr Leute im Apparat arbeiten als auf der Bühne stehen, was die Freiheit und Mobilität des Theaters von vornherein einschränkt. Der Wille, das zu ändern, ist zwar da, aber die Struktur erzeugt ihre eigenen Gesetze. Eigentlich möchte man niemandem kündigen, aber man sieht heutzutage, dass die Kunst immer mehr reduziert wird, denn auch Schauspielern wird gekündigt, während die ganze Verwaltung wie in Beton gegossen ist. Das nichtkünstlerische Personal an deutschen Theatern hat die gleichen Arbeitsgesetze wie die Arbeiter in der Autoindustrie, die ja bekanntlich die am besten geschützten Arbeiter in Deutschland sind. Das heißt aber auch, dass die Theaterstrukturen in Deutschland auf Kosten der Künstler und ihrer Kunst überleben. Oft habe ich am Thalia dafür plädiert: Warum machen wir nicht weniger, damit wir wenigstens mehr Zeit haben, länger und intensiver zu probieren, mit weniger Stress und Druck. Damit man Zeit hat, sich mit Dingen auseinanderzusetzen. Zeit hat, auch mal Gäste zu den Proben einzuladen, Spezialisten einzubeziehen. Diese Bitte war nicht realisierbar, weil es dann weniger Einnahmen geben würde, was wiederum dazu führen würde, dass man Künstlern kündigen müsste, dem nichtkünstlerischen Personal kann man ja nicht so einfach kündigen. Da wurde mir klar, ich kann hier letztendlich das System nur bedienen, um es aufrechtzuerhalten. Wo doch das System dafür da sein sollte, der Kunst zu dienen und nicht umgekehrt. Das hat mich in hohen Maßen frustriert.
Es gibt ja für Deutschland die Formel – die Zahlen sind gerundet –, dass in den vergangenen zwanzig Jahren zwanzig Prozent der Stellen im künstlerischen Bereich verschwunden sind, es aber gleichzeitig zwanzig Prozent mehr Inszenierungen und Vorstellungen gab. Eine Krise der Überproduktion.
Total. Und der Überforderung. Das ist genau das, was man überall fühlt und sieht. Viele Schauspieler sind völlig fertig, haben überhaupt keine Lust, noch zu probieren. Es fehlt die Freude, die Lust. Die Theaterarbeit wurde zu einer Fließbandarbeit. Fürchterlich.
Könnten Sie bitte einmal den in Ihren Augen idealen Schauspieler beschreiben? Vielleicht auch verschiedene Typen dieses Ideals?
Der ideale Schauspieler, die ideale Schauspielerin, ich meine hier also Männer wie Frauen, ist jemand, der nicht spielt (lacht), der eigentlich immer von seiner eigenen Meinung, seiner eigenen Haltung ausgeht. In jeder Sekunde sucht er auf der Bühne seine Wahrheit, seine Authentizität. Das ist kein Schauspieler, der sich dienend aufstellt, überhaupt nicht. Es ist ein Schauspieler, der sich ständig infrage stellt, nicht nur auf der Bühne. Das ist der Schauspieler, die Schauspielerin, nach dem / der ich mich sehne. Was mich wahrscheinlich von anderen Regisseuren wesentlich unterscheidet, ist, dass der Schauspieler bei mir kein Vermittler von Ideen ist. Ein Schauspieler ist ein Mensch, ich bin fasziniert und interessiert und berührt von Menschen, von Schauspielern, der emotionalen, energetischen und spirituellen Verbindung mit ihnen, dem intellektuellen Austausch. Der Schauspieler braucht deshalb Persönlichkeit, er ist mehr als eine Marionette meiner Vision, weil meine Vision, meine Inspiration, das sind die Menschen, die jeden Tag auf der Probebühne vor mir stehen, und nicht die Ideen, die ich zu Hause habe. Wenn man glaubt, dass diese Ideen immer kollektiv ausgeführt werden, ist das schon falsch. Es gibt keine Kollektivität, es gibt nur die Summe von Individuen. Mir geht es um die Kraft dieses Individuums.
Wie hat sich für Sie in diesem Zusammenhang die Rolle als Regisseur verändert?
Anfangs war ich viel mehr damit beschäftigt, das, was mir vorschwebte, durchzusetzen. Jetzt erzähle ich von meiner Vision, meinen Träumen, und warte ab, wie die Schauspieler darauf reagieren. Es ist eine Arbeitsweise, die am Thalia entstanden ist, weil ich dort den Luxus hatte, viele Jahre mit meiner eigenen Truppe zu arbeiten. Die Zola-Trilogie „Liebe – Geld – Hunger“ war letztendlich eine sehr intensive gemeinsame Arbeit, in der die Erzählweise auf den Proben entstand. Und wenn ich merke, dass es nicht funktioniert, dann schmeiße ich es um und fange an, zu suchen und zu drehen, bis ich irgendwie ein Gespür kriege, dass es Qualität haben könnte. Ich arbeite dafür intuitiv mit dem Scheitern. In den dreißig Jahren, in denen ich jetzt Theater mache, ist mein Vertrauen in die Intuition viel stärker geworden.
Wie wichtig sind dabei noch die Dramaturgen? Im Theater der vergangenen zwanzig bis dreißig Jahre konnte man beobachten, dass die Position des Dramaturgen praktisch in den Regisseur eingewandert ist. Zum Beispiel Castorf, er war ja zuerst Dramaturg und hat später als Regisseur für seine konzeptionelle Arbeit kaum Dramaturgen gebraucht.
Die Dramaturgie ist, gemäß ihrer Arbeitsweise, ständig in Bewegung, ständig wird geändert, geschrieben und gestrichen, der Text oder der Autor sind kein Ziel an sich. Der Mensch, der spricht, ist das Ziel. In dem Sinne ist der Dramaturg auch ein immer präsenter Partner, ein Mitspieler. In meiner Idealwelt müsste es aber noch viel weiter gehen, da wäre auch die Öffentlichkeitsarbeit auf der Probe dabei und würde mit Beteiligten Gespräche führen, filmen, Podcasts machen usw. Damit das Theater sich viel mehr öffnet; damit ein Diskurs entsteht, eine Auseinandersetzung, ein Raum, mit dem man sich emotional und intellektuell identifizieren kann; damit man die Leute, die Stadt einlädt, mitzudenken und sich auch mit uns auseinanderzusetzen. Im idealen Theater der Zukunft gäbe es keine unterschiedlichen Abteilungen mehr. Klar, die braucht man, um dem Theater eine Struktur zu geben und das zu realisieren, was man realisieren möchte. Aber der Raum für die Auseinandersetzungen, die ich mir wünsche, ist durch den Arbeitsdruck viel zu klein, viel zu eng geworden.
Sind Ihre Bühnenbildpartner in diesem Sinne Mitspieler?
Durch die jahrelange Arbeit mit Katrin Brack, Philip Bußmann und Annette Kurz ist tatsächlich eine Art Selbstverständlichkeit entstanden. Wir müssen uns nicht mehr darüber verständigen, dass wir nach einem Raum suchen, der mehr suggeriert als das, was man sieht, eine Art Projektionsfläche. Räume, die eine Imagination freisetzen, aber auch Räume, die von den Schauspielern, von den Menschen bestimmt werden, körperlich, durch Sprache, durch Ideen. Der Mensch ist das epische Zentrum dieser Räume. Weil ich schon dreißig Jahre mit den gleichen Leuten arbeite, kann man dieser Denkweise eine immer radikalere Form geben, was uns auch mehr Spaß und Kraft gibt.
Diese Konstanz ist letztlich auch ein bedingendes Merkmal des Künstlertheaters.
Klar, letztendlich fange ich damit an, alles, was ich weiß, zur Seite zu schieben und zu schauen, was auf der Probebühne entsteht, um damit zu arbeiten. Aber um dieses Nichtwissen und die Unsicherheit zuzulassen, braucht man natürlich auch ein Gewebe von Vertrauen. Und das gibt’s insbesondere natürlich zwischen Mitarbeitern, die in vielen Jahren schon vieles zusammen durchgemacht haben. Man kennt inzwischen die Krisen und die Phasen, die es braucht, um ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen. Bei „Black“ gibt es zwei Schauspieler, mit denen ich auch schon vor über zwanzig Jahren gearbeitet habe. Die wissen, es braucht diese Art von Ablauf, diese Art von Suchen und Nichtwissen, Schritt für Schritt, Tag für Tag. Es kann sein, dass das, was wir heute gemacht haben, morgen nicht mehr gilt.
Braucht man diese Verbündeten auch, um die anderen zu beeinflussen?
Eine gute Fußballmannschaft hat eine Balance zwischen Erfahrung und Jugend. Das ist im Theater genauso. Am Thalia Theater war Barbara Nüsse, mit der ich sehr viel gearbeitet habe, die wichtigste Schauspielerin für mich, weil sie mit ihrem Alter und ihrer Erfahrung ein Beispiel für das Ensemble ist. Sie inspiriert und provoziert die jüngeren Schauspieler.
Kommen wir auf „Front“ zu sprechen, eine der wichtigsten Inszenierungen der vergangenen Jahre. Darin findet man viel von dem, was Sie immer wieder als besonders erstrebenswert betonen: Mehrsprachigkeit, Gesang, das Bühnenbild von Annette Kurz, das zugleich auch Instrument für den Perkussionisten Ferdinand Försch war, aber auch die elementare Erfahrung einer historischen Katastrophe. War das eine Art Wegmarke für Kommendes?
Ganz sicher, vor allem wegen meiner Faszination für Sprache in all ihren Formen. Sprache verstehe ich als eine Art Musik. Viel mehr, als der Versuch, sich rational zu verständigen, ist Sprache, genauso wie Körpersprache, eine irrationale, energetische Suche nach Verständigung, und diese Irrationalität interessiert mich, vor allem das, was diese Irrationalität treibt. Es ist schon seit Jahren mein Ehrgeiz, mit den Schauspielern eine eigene Bühnensprache zu entwickeln, ein eigenes Esperanto. Eine Sprache, die für das Publikum in Deutschland erstmal fremd wäre – das habe ich damals schon bei „L. King of Pain“ 2002 am Schauspiel Hannover beobachten können. Das Sprachamalgam dieses Stücks funktionierte sehr gut in Belgien, so auch in der Schweiz, zwei Ländern, in denen Mehrsprachigkeit Teil des Alltags ist. Innerhalb der deutschen Theatertradition stößt man bei der Entwicklung eines europäischen Bühnenesperantos an bestimmte Grenzen. Bei der Vorbereitung der Eröffnungsinszenierung in Hamburg, „The Truth about the Kennedys“, meinte der Geschäftsführer: „Ich würde das nicht mit einem englischen Titel machen, weil das deutsche Publikum dann denkt, es würde sich um ein Gastspiel handeln.“ Ich war darüber richtig erschrocken. In einer Welt, die so über die Medien vernetzt und „amerikanisiert“ ist. Das hat mir klar gemacht, in was für einem Elfenbeinturm das Stadttheater hockt. Ich habe solche Erfahrungen auch an der Berliner Schaubühne gemacht, wo ich mehrmals versucht habe, die unterschiedlichen deutschen Sprachfarben und Dialekte in die Stücke einzubauen, was vom Schaubühnen-Publikum nicht gerade begeistert aufgenommen wurde. Dialekt gehört in Deutschland zum Volkstheater, aber nicht auf die heilige Schaubühne von Peter Stein. Von diesem Kästchendenken wollte ich mich befreien.
Obwohl sich die Sprachnormen auf deutschen Bühnen in den vergangenen zwei Jahrzehnten doch schon sehr gelockert haben.
Das hat sich geändert, das stimmt. Trotzdem ist es für das Abo-Publikum schwierig, einem Schauspieler zuzuhören, der eigentlich kaum oder fast kein Deutsch spricht. Ich habe das bei „Früchte des Zorns“ in Hamburg erlebt, wo Bert Luppens mitgespielt hat, ein Holländer, der mit seinem Akzent Deutsch sprach. Und, na klar, hat das Holländische teilweise witzig geklungen. Aber das wird dann eher so gesehen, als ob ein Dilettant auf der Bühne steht, der wird eigentlich nicht ernst genommen. Damit wusste ich endgültig, dass ich meinen eigentlichen Traum, eine internationale Truppe mit Schauspielern aufzubauen, die aus Russland, China oder von wo auch immer kommen, um mit ihnen gemeinsam eine Sprache zu erfinden und damit auch eine Utopie auszudrücken, am Stadttheater nicht werde realisieren können.
Andererseits haben Sie dem deutschen Theater unvergessliche Literaturadaptionen geschenkt. Ganz konkret die Romane von Hans Fallada.
Auch Fallada fasziniert mich wegen seiner Sprache, weil er die hohe Kunst versteht, mit ein paar einfachen Sätzen, ein paar einfachen Pinselstrichen sofort eine Figur zu charakterisieren. Weil er seinen Figuren einen typischen Klang, einen typischen Rhythmus gibt. Ich kenne wenige Autoren, die diese Kunst beherrschen. Und dann erzählt er Geschichten, die auf den ersten Blick sehr einfach sind, die aber letztendlich eine hohe Komplexität aufdecken, etwas, das ich im Theater immer suche. Wie im Nō-Theater geht es um einfache Zusammenhänge, die etwas Universelles berühren. Falladas Figuren haben eine Tiefe und einen Humor, wie man es sonst bei Tschechow findet, weil sie so widersprüchlich sind, weil sie so witzig und hässlich egoman sind, so banal und wiedererkennbar. Fallada hat mir Deutschland nähergebracht, weil ich durch ihn nicht nur die deutsche Seele entdeckt, sondern auch die belgische wiedererkannt habe. Diese Art von Feigheit, die er seinen Figuren gibt, die trifft man ja überall. Das sind sehr oft Leute, die ein großes Maul haben, aber wenn es drauf ankommt, klein werden. Seine Sprache und seine Geschichten sind sehr sinnlich, und diese Sinnlichkeit ist für die Bühne unentbehrlich. Etwas, das ich sehr an den Inszenierungen von Castorf schätze. Sie sind immer extrem sinnlich und extrem irritierend. Eben unverschämt sinnlich und provokativ. Eine Mischung aus Ekel und Faszination, um auch noch auf den großen Heiner Müller anzuspielen. Den Widerspruch des Lebens ausdrücken, Liebe und Hass im selben Moment, das ist, was das Leben schön und unbegreifbar macht. Diesen Widerspruch finde ich bei Fallada: Figuren auf der Suche nach Wahrheit, die gleichzeitig einander belügen. Das ist, was den Menschen zum Mensch macht, zum charmanten Betrüger.
Wie haben Sie Fallada eigentlich entdeckt?
Ich hatte vor vielen Jahren „Kleiner Mann, was nun?“ von Peter Zadek gesehen.
Eine Inszenierung, die letztlich nur funktioniert hat, weil Zadek und Tankred Dorst sie als Revue angelegt hatten.
Damals hat mich das tatsächlich nur als Spektakel interessiert, der Autor ist mir gar nicht aufgefallen. Dann gab es viele Jahre später einen Moment, wo ich dachte: Ich arbeite jetzt in Deutschland, aber was verbindet mich mit den Deutschen? Ein Freund riet mir, Fallada zu lesen, und ich entwickelte sofort sehr lebendige Fantasien dazu. Ich fand seine Geschichten eigentlich total belgisch. Da sind alle Loser, es gibt keine Helden bei Fallada.
Ein anderer Autor, dessen Romane Sie in den vergangenen Jahren als Zyklus angelegt haben, war Émile Zola. Wie kam es dazu?
Wenn ich, wie jetzt in Gent, irgendwo eingeladen werde zu arbeiten, ist immer meine erste Frage: Was macht an diesem Ort Sinn, was verbindet mich mit dieser Stadt? So kam eine Einladung der Ruhrtriennale. Mit solch einem „glossy“ Festival wie der Ruhrtriennale habe ich ein Problem, weil man sehr viel Geld investiert, um der immer und überall gleichen Kulturelite mal was anderes anzubieten als die herkömmlichen Bühnenräume. Mein Ehrgeiz ist schon seit vielen Jahren ein Theater für alle, ein Volkstheater, das sich befreit vom Abonnenten und auch die Fußballfans anzieht. Darum war meine erste Überlegung: Was könnte man im Ruhrpott machen, um auch die Menschen, die da leben, die da wohnen, zu erreichen? Bei Zola geht’s um die Industrialisierung im 19. Jahrhundert und alles, was damit zusammenhängt. Von Zola kannte ich nur „Germinal“, beim Lesen seines Rougon-Macquart-Zyklus habe ich dann entdeckt, dass er neben der Tatsache, dass er literarisch sehr altmodisch wirkt, mit seinen Themen und Figuren gleichzeitig auch sehr modern ist. Seine Romane zeigen, wo die Wurzeln des heutigen Neoliberalismus liegen. Johan Simons wünschte sich, dass ich über die drei Jahre seiner Intendanz daraus eine Serie mache.
Entspringen diese zum Teil radikalen Adaptionen großer Romane, wie etwa auch der „Blechtrommel“ von Günter Grass oder „Früchte des Zorns“ von John Steinbeck, einem Wunsch, von regulären Stücken wegzukommen?
Es ist mein tiefer Wunsch, die Texte für meine Inszenierungen selbst zu kreieren, sie auf den Proben entstehen zu lassen. Das geht mit erzählender Literatur besser. Theatertexte engen sehr schnell ein, weil sie oft eine konkrete Situation voraussetzen, während die Literatur mehr Freiheit zulässt. Ich komme noch kaum dazu, Stücke zu lesen, die meisten Stücke langweilen mich, weil die meisten Theatertexte nach wiedererkennbaren dramaturgischen Prinzipien gebaut sind und voraussehbare Abläufe haben. Selten finde ich hier die Widersprüche und die Komplexität wie in Romanen.
Im September 2019 werden Sie im Rahmen eines Jon-Fosse-Festivals am Det Norske Teatret in Oslo Fosses „Trilogie“ inszenieren.
Was mich an der „Trilogie“ von Jon Fosse fasziniert, ist nicht nur die Sprache, die hochmusikalisch ist, weil es eine redundante Sprache ist, nein, es wird damit dreimal fast das Gleiche erzählt, aber aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Und durch die Wiederholung und die Musikalität wirkt es wie ein Lied, ein Mantra, ein Gebet. Es liegt sehr nah am Musiktheater. Auch das ist etwas, was ich eher in Romanen als in Theatertexten finde.
In welcher Sprache ist die Bühnenversion von Fosses „Trilogie“ geschrieben?
Auf Deutsch, sie musste ins Norwegische übersetzt werden. Bei jeder Romanbearbeitung muss man sich immer die Frage stellen, aus welchem Blickwinkel, aus welcher Perspektive erzählt man die Geschichte? Die Perspektive bestimmt das Konzept, die Idee, das Ziel. Bei Fosse war es nicht so einfach, weil der Roman den Erzähler verschleiert. Erst am Ende entdeckt man, dass es möglicherweise das Enkelkind einer Familie ist, das jetzt, als alte Frau, seine Familiengeschichte rekonstruiert. Der Text zeigt, wie wir zwanghaft ausgeliefert sind an die Wiederholung von bestimmten Mustern in unserer Familiengeschichte. Obwohl man sich dieser Muster bewusst ist, kann man sie kaum beeinflussen. Und je älter man wird, desto mehr wird man sich dieser Mechanismen bewusst und muss sie akzeptieren. Das Prinzip der Wiederholung in all seinen Facetten ist etwas, das mich als Phänomen immer mehr beschäftigt: der repetitive Aspekt des Lebens, der Energie, der Gedanken, der Emotionen.
Sie haben sich auch mit anderen Facetten des Alterns beschäftigt: mit Demenz in „L. King of Pain“ und „Molière“, zuletzt mit Krebs in „Mut und Gnade“. Was ist interessant daran, diese Themen im Theater so intensiv, beispielsweise in Form einer einzelnen Figur, zu behandeln?
Was soll man heutzutage überhaupt erzählen? Was sind die Themen, die uns beschäftigen? Klar sind das gesellschaftliche Themen, etwa wie sich Belgien mit dem Kongo auseinandersetzt, es ist für dieses Land höchste Zeit, das zu thematisieren. Wir leben aber auch in einer Gesellschaft, die älter wird. Die Angst vor dem Kontrollverlust, die Angst vor Krankheiten wie Krebs oder Depression ist ein großes Thema, das im Theater kaum thematisiert wird. Es gibt so viele Tabuthemen im Bereich des Älterwerdens. Das Krebsthema von „Mut und Gnade“ war ein Versuch, die Krankheit und die Angst davor öffentlich zu verhandeln, weil sie letztendlich die Betroffenen auf ein Abstellgleis schiebt, in die komplette Isolierung. Nach jeder Vorstellung gab es immer sehr lebendige Diskussionen mit den Zuschauern.
Was die Thematik angeht, kann man grundsätzlich in zwei Richtungen denken: Was empört uns kollektiv, was ist die kollektive Wut oder Angst – und wie können wir daraus als Theater eine positive, kreative Kraft entwickeln? Wie finden wir in dem individuellen Schmerz eine kollektive Kraft? Durch den gemeinsamen Humor? Durch die Trauer? Oder, in die andere Richtung gedacht: Was ist es, worüber wir nicht wagen zu reden, und was sollte man offenlegen? Da finde ich Scham ein interessantes Thema. Wir tun nur so, als würden wir in einer Gesellschaft leben, wo alles ausgesprochen werden kann. Im Internet kann man alles sehen und an allem Möglichen teilnehmen. Inzwischen haben Zwölfjährige ein Smartphone und gucken Pornos und wissen gar nicht mehr, was normale Sexualität ist, sie sind völlig verwirrt über ihre Körperlichkeit und darüber, was Liebe eigentlich bedeutet. Es gibt in unserer sogenannten offenen Kultur sehr viele Ängste. Mein Neffe, der Fußball spielt und 14 Jahre alt ist, duscht nach dem Training in Unterhose. In meiner Zeit wäre das lächerlich gewesen. Inzwischen aber hat die Scham stark zugenommen, zusammen mit der Angst, auf Facebook entblößt zu werden. Durch die sozialen Medien sind junge Menschen prüder und ängstlicher.
Belgien leidet unter einem kollektiven Schamgefühl, nur sind wir zu feige, das zuzugeben. Zu feige, um uns zu entschuldigen. Nach zwanzig Jahren Arbeit in Deutschland weiß ich seit der Rückkehr in dieses Land, was es heißt, Belgier zu sein. Es ist aber nicht nur ein belgisches Phänomen. In den sechziger Jahren war John F. Kennedy ein Held, aber es wussten alle, dass er eine Affäre mit Marilyn Monroe hatte und mit Jackie verheiratet war. Barack Obama oder Trump würden heutzutage im gleichen Fall sofort ans Kreuz genagelt und wären weg vom Fenster. Trotzdem glauben wir, dass wir freier und klüger geworden sind? Die Lüge, die man uns vorlebt und die wir auch selbst aufrechthalten, ist ein sehr spannendes Thema. Der Selbstbetrug.
Sie sind durch Ihre Arbeit als Regisseur in Deutschland gewissermaßen auch eine Art Kulturpsychologe geworden – oder täusche ich mich da?
Das kann sein. Deutschland hat mich mit großen Strukturen konfrontiert und Verantwortung gefordert. Wenn man als Gast arbeitet, analysiert man, was mit einem und um einen herum passiert. Und da werden einem viel mehr die Mechanismen der Kultur bewusst. Vielleicht ein Vorteil des Außenseiters.
Milo Rau wiederum, das habe ich in seinen Äußerungen über seine ja auch schon ein paar Jahre währende Zeit in Belgien gefunden, sagt, dass er an Belgien diese creative dysfunctionality schätzt. Das ist ein interessanter Begriff. Eine Wertschätzung von Dingen, die eigentlich nicht gut funktionieren.
Zum Glück haben wir genügend Thomas Bernhards in diesem Land. Wir können über ein solches Zitat laut lachen, weil wir das genauso empfinden. Belgien ist nicht umsonst nach der Aufführung einer Oper entstanden.
Nach „Die Stumme von Portici“ von Daniel-François-Esprit Auber brachen 1830 in Brüssel die August-Unruhen aus.
Genau. Und ein Beispiel für dieses Nichtfunktionieren wäre: Ich habe meine Wohnung in Antwerpen renovieren lassen und musste entdecken, dass belgische Handwerker schlimmer sind als russische. Da ist Deutschland ein Segen.
Das würde ich nicht unbedingt als creative dysfunctionality bezeichnen.
Vielleicht sind die Handwerker nicht das oberste Kriterium, aber dieses laissez faire trifft man hier auf vielen Ebenen. Und natürlich hat das auch was Attraktives, weil vieles nicht geht, aber letztendlich dann doch zustande kommt, weil einfach improvisiert wird. Das ist halt Belgien. Ich kann mir vorstellen, dass Milo das jetzt noch lustig findet. Noch!
Und Sie selbst?
Es gibt nichts, was man so sehr liebt und hasst wie das eigene Elternhaus. Ich kenne es, kann mich darüber tierisch aufregen und darüber lachen. Es war für mich eine bewusste Wahl zurückzukommen in diesen circus of disfunctionality. Weil ich es auch irgendwie vermisst habe, die Leichtigkeit, den Leichtsinn. Am Ende wird zwei Nächte durchgearbeitet, und man kriegt es doch noch hin. Das wäre in Deutschland unmöglich.
In diesem Sinne könnte man diesen Aspekt in das Programm für ein Künstlertheater des 21. Jahrhunderts mit aufnehmen: Kreative Dysfunktionalität hält alles lebendig.
Tatsächlich muss man sich von den alten Strukturen befreien können, oder sagen wir: von altem Ballast. Vor 27 Jahren haben wir mit unserer freien Truppe mit dem Stück „Ten Oorlog“ das Nationaltheater in Antwerpen übernommen, wir haben die alte Struktur komplett aufgemischt, indem wir die vertikale Struktur mit weniger Leuten in eine horizontale Struktur verwandelt haben. Keine getrennten Abteilungen mehr. Mit Bühnentechnikern, die multi-einsetzbar waren. Dieses System hat die flämische Szene grundsätzlich verändert. Die Wege sind kürzer, die Kommunikation ist direkter. Und ja, ich glaube schon, dass dieses Künstlertheater ein bewegliches, mobiles Instrument sein muss, das sich an die Gegebenheit des Moments anpassen kann. Eine gewisse belgische Anarchie zuzulassen, improvisationsfähig zu sein – darum müsste es gehen.