Theater der Zeit

Auftritt

Schauspielhaus Bochum: Feelgood-Geisterbahn

„Give up die alten Geister“ von Benjamin Abel Meirhaeghe – Regie und Kostüm Benjamin Abel Meirhaeghe, Bühne Jozef Wouters, Kostümmitarbeit Una Güth, Lichtdesign Nicolaas de Rooij, Ruben de Snoo, Choreografie Fumiyo Ikeda

von Stefan Keim

Assoziationen: Performance Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Schauspielhaus Bochum

Risto Kübar, Marius Huth, Jing Xiang Fumiyo Ikeda und Katrijn Friant in „Give up die alten Geister“ in der Regie von Benjamin Abel Meirhaeghe. Foto Tobias Kruse/Ostkreuz
Risto Kübar, Marius Huth, Jing Xiang Fumiyo Ikeda und Katrijn Friant in „Give up die alten Geister“ in der Regie von Benjamin Abel MeirhaegheFoto: Tobias Kruse/Ostkreuz

Anzeige

There was a house in Bochum-Süd, they called Haus Rechen. Ein Adelssitz ist es gewesen, wurde 1944 durch Brandbomben zerstört, und dann wichen die Trümmer den neu gebauten Kammerspielen. Der Schauspieler Risto Kübar zeigt im Publikumsraum, wo die Wände gestanden haben. Warum er das auf Englisch erzählt, ist ebenso rätselhaft wie manches Andere an diesem höchst seltsamen Musiktanztheaterabend.

„Give up die alten Geister“ beginnt mit einer schlecht organisierten Bühnenführung. Das Publikum staut sich auf der Treppe vor dem Einlass, nur jeweils sieben dürfen als Gruppe hinein. Wir betasten Pflanzen, riechen an den Händen, nehmen uns an denselben und tanzen im Kreis. Ein Portal direkt neben uns könnte aus der Ruine des Hauses Rechen stammen, von dem wir aber in diesem Moment noch nichts wissen. Dann schauen wir über eine Mauer und sehen etwas, das nicht verraten werden darf. Schließlich sitzt die Gruppe an einem Tisch, wir fassen uns wieder an den Händen, lassen die Energien fließen, und plötzlich strömt Rauch aus der Mitte des Tisches. Bevor wir uns ins Parkett setzen, dürfen wir noch am Mikrofon via Verzerrer mit Geisterstimme sprechsingen.

Klar, das ließe sich als immersiver Unfug abtun. Aber es entsteht Gemeinschaft, die Menschen in der Gruppe sprechen miteinander. Nun beginnt die eigentliche Aufführung, die wie ein improvisiertes Ritual wirkt. Die einzelnen Elemente haben zwar in sich eine hohe bis sogar höchste Qualität. Doch sie stehen desperat nebeneinander, einzig verbunden durch einen gemeinsamen Geist. So könnte es aussehen, wenn eine beseelte Sekte eine Nummernrevue entwirft.

Aus dem alten Haus Rechen gibt es Geistergeschichten aus dem Mittelalter. Da sollen im Turm Witte Juffern (Weiße Frauen) gespukt haben, die nach Anbruch der Dunkelheit das Gemäuer mit ihrem Wispern erfüllten. Nach Mitternacht haben sie dann den Turm verlassen und Wanderer, die um diese Zeit um das Haus Rechen herumstolperten, in die Irre geführt haben. Manchmal sollen diese erst Stunden nach dem Morgengrauen den Weg zurückgefunden haben. Es gab ja damals noch keine Navis.

 

Doch das sind nicht die alten Geister, die an diesem Abend aufgegeben werden sollen. Der Schauspieler Marius Huth wird in einem Solo ganz konkret. Er rezitiert einen Text der feministischen Fantasyautorin Ursula K. LeGuin. Es ist eine alternative Geschichte der Urmenschen. Nicht die Männer mit ihren phallischen Speeren haben laut LeGuin für die Ernährung gesorgt, sondern zu 80 Prozent die sammelnden Frauen. Aber in den Höhlenmalereien wurden schon damals vor allem die scheinheroischen Kerle verewigt, denn Jagen, Töten und Gefahr schien schon vor Jahrtausenden spannender zu sein als Rupfen und Zupfen.

 

Warum Marius Huth diese Geschichte ausschließlich mit einer engen weißen Unterhose bekleidet vorträgt, ist wieder eins dieser Rätsel. Regisseur und Autor Benjamin Abel Meirhaeghe geht es um den Verlust der Magie. Den ganzen Abend wabert und pulsiert ein Klangteppich durch den Raum, garniert durch einige Popsongs. Das Ensemble tanzt dazu, meist unkoordiniert. Laut Programmheft geht es darum, das eigene Körpergedächtnis zu befragen, mithilfe  der Shibari-Kunst. Das ist eine Art japanisches Bondage, bei dem es nicht nur um sadomasochistische Erotik geht, sondern auch um eine Geborgenheit, die durch Fesseln entsteht. Viel ist davon auf der Bühne nicht zu sehen. Ja, das ist eine sehr schräge und manchmal auch ziemlich langweilige Aufführung.

Aber dennoch hat sie etwas Faszinierendes. Zwei Pianistinnen sorgen für musikalische Höhepunkte. Katrijn Friyant und ihre Schülerin (seit dem vierten Lebensjahr) Maya Dhondt spielen Ausschnitte aus Mozarts „Requiem“ in einer Klavierfassung. Man hört und spürt in ihrer fesselnden Interpretation (ist das so etwas wie Shibari-Klassik?), wie nah sie sich sind. Sie scheinen jede Note gemeinsam zu atmen und auszuströmen, spielen aus einem Guss und in einem Fluss. Allein die beiden lohnen den Besuch.

Doch da ist noch mehr. Wenn irgendetwas auf der Bühne nicht so richtig funktioniert – das kommt oft vor – lächeln sich die Performer:innen an. Die Atmosphäre ist von einer großen Freundlichkeit geprägt, von tiefem Respekt – und war es schon zu Beginn des Abends, bei der Bühnenführung. Vielleicht liegt darin die Utopie. Die Aufführung ist ein sanfter Appell, die alten Geister der Konkurrenz und des Egoismus aufzugeben und sich zu öffnen für das Glück der Gemeinschaft, bei aller Unperfektheit. Um so etwas zu erleben, gehe ich so gern ins Theater. Und habe „Give up die alten Geister“ genossen.

Erschienen am 17.12.2024

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Die „bunte Esse“, ein Wahrzeichen von Chemnitz
Alex Tatarsky in „The Future Is For/ Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten Island, New York