Theater der Zeit

Auftritt

Saarbrücken: Gefangen im Netz

Saarländisches Staatstheater: „1 Yottabyte Leben“ (UA) von Olivia Wenzel. Regie Matthias Mühlschlegel, Ausstattung Rimma Starodubzeva

von Reingart Sauppe

Erschienen in: Theater der Zeit: Russian Underdogs – Victoria Lomasko und Kirill Serebrennikov (03/2020)

Assoziationen: Saarland Theaterkritiken Sprechtheater Saarländisches Staatstheater

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Nichts ist festgelegt im deinem Leben, das Netz ist jetzt das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und Verheißung für die individuelle happiness, suggeriert die Stimme aus dem Off in einem kurzen Prolog. Jeder kann sich jederzeit neu erfinden. Wenn nicht im real life, dann eben als Youtube-Star. Davon ist Glamsquad Angel überzeugt. Hinter einem blassen Vorhang übt sie tänzerische Posen für ihren ersten Auftritt als Kunstfigur Sandy ­Deleuze im World Wide Web. Herausgeputzt in Barock­kostüm und Perücke erinnert die Schauspielerin Sithembile Menck an eine Molière-Figur.

„1 Yottabyte Leben“ der Autorin Olivia Wenzel, Jahrgang 1985, ist ein Selbstporträt der Generation Instagram, für die Social-­Media-Kanäle Schauplatz der Selbstdarstellung und Verstellung sind. Glamsquad Angel, die das netztypische anglizistische Formelsprech beherrscht, performt als Sandy Deleuze für ihr erstes Personal-feeling-Video. Mit begeistert-aufgerissenen Augen und überzeugender liveliness plaudert sie über Menstruationserfahrungen und gibt absurde Tipps zur Blutflussbegrenzung und Tamponentsorgung. Sithembile Menck gewinnt mit ihrer umwerfenden Bühnenpräsenz auf Anhieb ihr Publikum, auch Kunstfigur Sandy Deleuze hat schnell Follower, die sich mit ihren Likes und Kommentaren einschalten. Die tragen so klangvolle Namen wie Tlaus Teller, Slice ­Gamer Pro 2 oder Spinnig Ballerina Illusion. Regisseur Matthias Mühlschlegel hat sie ins Analoge übersetzt und lässt drei Schauspieler als überzeichnetes Allerweltsmenschentrio auftreten. Sébastien Jacobi, Barbara Krzoska und Thorsten Rodenberg glänzen als multiple Netzcharaktere durch große Spiellust, schließlich dürfen sie als trashig-comichafte Gestalten auf die Tube drücken, was das Zeug hält: quatschen dazwischen, bringen die Bloggerin aus dem Konzept, bis im Assoziationsmarathon sich kreuzender Satzfetzen die Erkenntnis aufblitzt, dass das Netz nichts weiter ist als eine riesige Datenverwertungsmaschine großer Internetkonzerne.

Acht Jahre später, in einer fiktiven Zukunft, ist die Zeit in der virtuellen Welt zur endlosen Gegenwart geronnen, während in der analogen die Vergänglichkeit hässliche Spuren hinterlassen hat. Mühlschlegel greift tief in die Klamottenkiste: Glamsquad und ihre Follower stecken jetzt in grotesken fleischrosafarbenen Fatsuits, in denen die aufgedunsenen Couchpotatoes sich über die erschlaffte dackelohrförmige Stoffbrust streichen oder unappetit­liche Flatulenzen von sich geben. Wie gut, dass unter Hashtag „Körper“ nur getwittert wird.

Glamsquads optimistische Aufgekratzt­heit ist einer ängstlichen Skepsis gewichen. Sie hat sich in einem Hotelzimmer verschanzt, nachdem sie die Twitter-Nachricht erhalten hat, dass ein Amokläufer in der Stadt unterwegs ist. Doch auch hier, ob sie will oder nicht, muss sie im Dauerstrom der Tweets und entlang des BuzzFeeds „mitschwimmen“. Als sie einmal „den Stöpsel ziehen will“, entdeckt sie die Leichen ertrunkener Flüchtlinge auf dem Meeresboden, für die sich längst keiner mehr interessiert. Olivia Wenzels Analyse der digitalen Gesellschaft folgt der Netzlogik, sie ist assoziativ und spielt mit Realitäts­ebenen. Regisseur Mühlschlegel ergänzt das Bühnengeschehen mit Videos, die wie eine ausschnitthafte Live-Übertragung im Hintergrund laufen. Alles ist eine große Inszenierung. Längst verstehen sich Glamsquad und ihre Follower als reine, virtuelle Netzidenti­täten. Wir sind nicht im Netz, das Netz ist längst in uns. Olivia ­Wenzels Text dekliniert die Gefahren und ­Abgründe der digitalen ­Gesellschaft durch: Cybermobbing, Internet-Dates, Selbstoptimie­rungsprogramme, Informationsüberfluss, Gren­zenlosigkeit, totale Kon­trolle. Ihre Diagnose der Instagram-Generation klingt bitter: Längst sind aus den Nutzern Benutzte und Verformte geworden. Das Leben ist nicht mehr als eine maximale ­Daten-­­Speichereinheit, ein Yottabyte Leben. Philosophisches im Twittersprech.

Matthias Mühlschlegel übersetzt die Geschichte von Glamsquad und ihren Followern in einen rasant-bösen Comic und findet damit einen ästhetischen Ausdruck für die Generation der User, Gamer, Blogger und Youtuber. Seine temporeiche, unterhaltsame Inszenierung hält das Publikum trotz zwischenzeitlicher Überforderungs- und Erschöpfungsmomente, bedingt durch die permanenten Unterbrechungen im Gedankenfluss, bei der Stange. Einen Ausweg aus dem ganzen Wahnsinn gibt es für uns Zuschauer am Ende doch: nämlich den aus dem Theater. Auch Glamsquad und ihre drei Follower hangeln sich zum Schluss über die Zuschauerreihen hinweg ins Freie. Ganz so, als kämen wir in ihrer Welt schon längst nicht mehr vor … //

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