Theater der Zeit

Stück

Treuhandkriegspanorama

von Thomas Freyer

Erschienen in: Theater der Zeit: Thema Ukraine: Serhij Zhadan „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ (04/2022)

Assoziationen: Dramatik Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle Weimar

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1
AUDIOGUIDE Fangen wir also an. Gemeinsam zunächst. Wir sind froh, dass es beginnt. Ja, ein wenig aufgeregt sogar. So lange schon hatten wir gehofft. Insgeheim. Auf eine Veränderung. Denn. Gerade noch, bevor es so plötzlich still um uns herum wurde, hatten wir sie sattgehabt. Die Alltäglichkeit der wiederkehrendenden Verrichtungen. Nahrungsaufnahmen. Schlaf. Atmung. Die schambesetzte Dringlichkeit der Ausscheidung.

Nun aber, mit dem Erwerb des Einzeltickets, sind wir Teil eines größeren Ganzen geworden. Teil einer gleichsam entrückten wie nahbaren Welt, die ein Ende, eine Grenze nur zur Erde hin sowie zum Himmel, nicht aber in der Unendlichkeit des Horizonts für uns bereitzuhalten scheint.
Aber alles der Reihenfolge nach.
Uns zu einer ersten Bewegung aufraffend durchschreiten wir die dürftig kühlende Luft des Foyers. Eilen vorläufig voran. Hinauf alsbald. Den goldenen Handlauf behutsam mit dem ausgestreckten Finger entlangfahrend. Steigen empor. Stufe um Stufe. Und sinken dann, so wollten wir es, sanft hinab. Hinab ins Panorama. Ins Bauernkriegs­panorama, das uns nun endlich, endlich dunkel leuchtend umgibt. Und wie auf ein geheimes Zeichen hin, und das ist es wohl, was wir in all unseren abgelegten Tagen stets gesucht hatten, werden wir erfasst von einem leichten, einem lauwarmen Schwindel. Das ruhige Summen und Brummen der Rotation. Ein Taumeln. Wanken. Ein Trudeln. Zwischen Bauern und Salzknechten. Inmitten der fürstlichen Heerscharen. Und finden einen ersten Halt, wenn Sie mir darin folgen wollen, erst im ­abseitigen Zentrum der Schlacht, im sich ewig wiederholenden, ewig fortdauernden Herabsenken der Bundschuhfahne in der Hand Thomas Müntzers.

2
MUTTER Mutti hier. Na ja. Wirst mich wohl erkannt haben. An der Stimme. Wahrscheinlich. Du. Ich habs schon drei Mal bei dir versucht. Bist bestimmt in irgendeiner Besprechung. Oder wie auch immer man das heutzutage nennt. Jedenfalls. Also. Ruf mich doch zurück, wenn du das hier gehört hast. Wäre schön. Also. Gut. Jedenfalls.
Stille.
Jedenfalls Vati. Du.
Stille.
Der Vati liegt im Krankenhaus. Im Koma. Und. Also. Das wollte ich dir nur kurz sagen. Ja?
Stille.
Na ja. Ruf ruhig zurück. Die Mutti.

3
ist das Bauernblut
auf dem Schlachtberg
auf dem museumseigenen Parkplatz
funkeln
die Autos in der Mittagssonne
ein toter Käfer ein paar Schritte abseits
unter Marienglas
im Karst
am Hang und weit der Blick
während sich Müntzer drinnen im Kreis dreht
und mit ihm
die ganze
sogenannte
frühbürgerliche Revolution

Coca-Cola im Foyer
ein dickliches Kleinkind
nuckelt sich
von allen unbemerkt
in einen kleinen Rausch irgendjemand spricht unablässig spricht
und
jemand hustet jemand
lässt etwas fallen jemand
fragt nach Gruppenpreisen und einem
Audioguide

AUDIOGUIDE Am 16. Oktober des Jahres 1987 schließlich, einem selbst für die entsprechende Jahreszeit auffallend tristen Freitag, setzte einer der damals bekanntesten Maler der DDR, Werner Tübke, nach zwölf Jahren Arbeit seine Signatur unter das 123 Meter lange und 14 Meter hohe Auftragswerk. Titel der monumentalen Arbeit: Frühbürgerliche Revolution in Deutschland.
Willkommen, möchte ich Ihnen zurufen, willkommen verehrtes Publikum in der Zeit der deutschen Bauernkriege. Aber ich rufe nichts. Ich verschwinde. Ich lasse Sie allein mit dem Panorama. Mit Müntzer, seinen Bauern und Salzknechten und dem letzten Aufbegehren gegen die Übermacht der fürstlichen Heerscharen.

feindliche Übernahme der Zeit
Einfall der Wendejahre
in Müntzers Jahrhundert
staunend sehen die kämpfenden Bauern
sich selbst
als streikende als
hungernde Kalikumpel
jeder trägt
eine andere Zeit huckepack
der Bauer tauscht die Forke
gegen das Transparent
auf dem Schlachtfeld werden Liegen aufgestellt
es wird
Tee getrunken gegen den Hunger
vor dem Werktor aber
im roten Gewandt
liegt ein toter Narr der
die Zeit vorwegnimmt die
Kumpel steigen über ihn hinweg

die Abraumhalde von Bischofferode
plötzlich
unmöglich nah
wie sie sich
dem Stoßwind folgend ostwärts
zusammen mit den Westwagen der ersten
tollkühnen Treuhandmanager
wie ein Keil
ins Bild ins Panorama hinein
in den wilden wilden Osten
vor den Turm schiebt zu Babel
wo schon das Geld gewechselt wird
Kalikumpel plötzlich
zwischen einfachem Volk
das neue Geld in der Tasche
Müntzer als Täufer davor
blind ein jeder für die Zeit des
anderen

Die Herren machen das selber, dass ihnen der arme Mann Feind wird.1

bei Dämmerung schließlich
zwischen Müntzer
und der Ruine des babylonischen Albtraums
(noch hält sich alles auf
der Leinwand)
fährt mein mintgrüner Mietwagen
fahre ich hinter Holungen am Abraum vorbei
zum Elternhaus vor dem
die Mutter bereits wartet
die mich angerufen hatte am Morgen
mit trockener Stimme

mein Blick hinüber zur Schlacht über
den Schlachtberg hinweg zum Krankenhaus in
dem
der Vater liegt mein Vater
seit
heute
mit Lungenembolie Bergmannstradition
frag ich mich der
sich noch nie für die Arbeit des Alten
für die vergangene Arbeit die
vielbesprochene tote
interessiert hat

„so muß man die wuchersüchtigen Böswichter weg­thun“1
ruft Müntzer gerade
aber ich und mit mir
mein grüner Wagen sind schon
vorüber
und
so muss er mir nachlaufen mit
der gesenkten Fahne

im Krankenhaus übergibt der
Spät- an den Nachtdienst
ohne besondere Vorkommnisse
als wäre das Schichtende
die Grenze die es täglich
aufs Neue zu überschreiten gilt

Schucht unterdessen der
studierte Bergbauingenieur
hastet das
erste Mal übers Panorama
vorbei am toten Narr der
ihm bekannt vorkommt
noch kennen wir uns nicht noch
betrachtet er das alles
aus der Ferne nur
sein Anzug sein Auftritt
Steigen aus dem Dienstwagen
verraten mir seine Unzugehörigkeit
zu allem anderen

SCHUCHT 2. April 1991. Während der Morgengymnastik höre ich die Nachrichten, erfahre vom Tod meines Freundes Detlev Rohwedder, von dem Mord an diesem aufrechten Mann. Erste Reaktion im Büro, wie kann ich Frau Herwart trösten. Sie liegt im Krankenhaus, ist nicht erreichbar, verletzt am linken Arm, Ellenbogendurchschuss. Blumen?2

8. April 1991. Im Büro von Heinz-Werner Meyer, würde ich mich bereit erklären, statt Mitte des Jahres in den Ruhestand zu gehen, die Aufgabe des Vorstandes für Energiewirtschaft im Vorstand der Treuhandanstalt zu übernehmen, das Ressort zu übernehmen, das Detlev Rohwedder bis zu seinem Tode betreut hat. Ich erbitte mir zwei Tage Bedenkzeit, muß meine Frau fragen, sollte auch einen Arzt konsultieren, denn seit Jahren plagt mich in unregelmäßigen Abständen gelegentlich Bluthochdruck.2

Mutter vor der Haustür sie
stemmt wie ich es oft an ihr gesehen hab
die Arme in die Seiten als
müsste sie sich zusammenhalten
sie hat Stullen geschmiert

4
MUTTER Du, ich hab Stullen geschmiert.
SOHN Mensch, Mutti.
MUTTER Bist spät.
SOHN Bin spät losgekommen.
MUTTER Viel Arbeit.
SOHN Viel Familie.
MUTTER Ist ja gut. Komm. Komm erst mal rein. Du. Siehst hungrig aus. Und blass. Aber blass warst du schon immer.
SOHN Schon als kleiner Bengel. Ich weiß.
MUTTER Immer größer. Immer frecher bist du geworden.
SOHN Lass nur. Ist nicht schwer. Die Tasche.
MUTTER Ich schaff das schon.
SOHN Ja.
MUTTER Ich komm schon zurecht.
SOHN Seh ich doch.
Stille.
SOHN Hast du was gehört?
MUTTER Was?
SOHN Was?
Stille.
SOHN Was von Vati. Was Neues? Aus dem Krankenhaus?
MUTTER Nein, nein. Nichts.
SOHN Du, ich kann meine Schuhe. Die kann ich auch alleine. Die stell ich selber weg.
MUTTER Wie war die Fahrt? Willst du ein Bier?
SOHN Ich will eigentlich nur, dass du mir alles erzählst.
MUTTER Alles, ja. Wenn du angekommen bist.
SOHN Jetzt bin ich ja hier.
MUTTER Komm erst mal an.

5
ein Blick hinüber
die Schlacht streifend
hinter
den Höllensturz der Verdammten
die arbeitslosen Frauen der Kumpel
zwischen Bauern die
Schafe scheren
Heu wenden den Zaun
flechten die Augen geschlossen
Vater hinter Schläuchen
die Bauern versunken
in ihrer Arbeit
unbemerkt von ihnen auch das Teufelswerk
die modernen Maschinen um sie
um ihn herum

ich schiebe die Schuhe unter die alte Telefonbank
während Mutter in die Küche stapft
ich bring
den Teller mit den Schnitten
meine Tasche
nach oben
ins Zimmer wo sich
die Hitze vom Tag noch staut
Vaters Werkstatt das Büro
sein Rückzugspunkt
mit dem schweren Wäscheschrank
unter dem schlecht isolierten Dach
liege ich auf dem schmalen Bett
Blutwurst und Harzer ein
lauwarmes Bier

nach dem Duschen
eine Zigarette am Fenster
auf dem Schreibtisch der zitronengrüne Aschenbecher
aus Glas

viel können wir nicht tun
im Moment
spricht die knochige Ärztin quer hinüber
legt die Sackpfeife beiseite
ich sehe sie in der halben Dunkelheit
einer fast wolkenlosen Nacht an Vaters Bett stehen
wir müssen sagt sie
Geduld haben es
tut mir leid

ja

im Wäscheschrank den ich
aufklappe wie ein Faltbuch
wo das fürstliche Heer eine
Schneise in das Kampfgeschehen schlägt
wo Vaters Akten lagern
seine Briefe Verträge kopierte Seiten
IG Bergbau Treuhand Landesregierung
seine Bibliothek des Aufstandes
ist alles durcheinander
untypisch denke ich noch
als wäre alles nur hineingeworfen worden
von einem Pedanten was
machst du da

6
MUTTER Was machst du da?
SOHN Ordnung.
MUTTER Altes Zeug.
SOHN Hab dich gar nicht kommen hören.
MUTTER Nein?
SOHN Da. Sieh mal. „Aufruf zur Solidarität mit den Kalikumpeln aus dem Eichsfeld.“
MUTTER Ja.
SOHN Die Sachen. Die sind alle durcheinander.
MUTTER Ja.
SOHN Wo er doch immer so ordentlich ist.
Stille.
SOHN Hier. Das ist typisch. Akkurat aus der Zeitung ausgeschnitten. Sauber auf ein weißes Blatt geklebt. Handschriftlich das Datum. Juli 93. Name der Zeitung. Und: Beginn unseres Hungerstreiks. Und alles in Klarsichthülle.
MUTTER Ein Hobby.
SOHN Ein halbes Leben.
MUTTER Aber doch nicht deins.
SOHN Nein.
MUTTER Sag mal, hast du geraucht?
SOHN Mensch, Mutti. Ich bin fast vierzig.
MUTTER Ich bleibe deine Mutter.
SOHN Auch wenn ich hundert bin. Ich weiß.
MUTTER Ich dachte, du hättest endlich aufgehört mit diesem Mist.
SOHN Du. Siehst müde aus.
MUTTER Papperlapapp.
SOHN Ich sag nur, was ich seh.
MUTTER Morgen. Morgen fahren wir ihn besuchen.
SOHN Ja.
Stille.
MUTTER Und jetzt schlafen wir.
SOHN Zu Befehl.
MUTTER Du wieder.
SOHN Nacht, Mutti.
MUTTER Ja.

7
akzisefreier Trinkbranntwein
aus der obersten Schublade des Schreibtischs
Bergmannsschnaps

weiter drüben kontrolliert
die Nachtschwester Vaters Vitalzeichen

seine Angst vorm Arztgang
das verschlossene Blutgefäß im linken
Lungenflügel
die plötzliche Ohnmacht
auf der Treppe
zum Keller
sein Stürzen Fallen auf den Hinterkopf
Mutter wie sie
ihn findet weil er nicht
auf ihr Rufen zum Abendbrot reagiert

ich stehe vor dem alten Schrank
während mir alles
entgegenzurutschen scheint
der Schnaps brennt etwas
auf der Zunge

SCHUCHT Erste Eindrücke: Pionierarbeit wie im Wilden Westen, gekoppelt mit pingeliger deutscher Gründlichkeit. John von Freyend überreicht mir eine dicke Mappe mit Richtlinien, die Reisekosten, Spesen, Titel, Orden und Ränge regeln. Auf meine Frage an Frau Breuel, wer der Betriebsrat sei, damit ich mich dort bekanntmachen könne, Achselzucken. Wir haben keinen Betriebsrat.2

in der Ferne unter dem
Regenbogen die Wagenburg der
aufständigen Bauern
Rauch steigt auf zwischen den Wagen
davor die Schlacht
Müntzer umgeben
von Trommlern kein
Tropfen Blut der Tod
spielt voller Hingabe
auf seiner Sackpfeife
(die ich doch kenne)
noch
ist die Schlacht nicht verloren

im Haus ist es still
ich
trinke Schnaps und ordne
die Papiere

8
VATER Hier unten ist es immer ein bisschen wärmer. Im Grubenfeld. Dunkel. Und ruhig. Der Schachtsumpf, in den das Gestein rieselt. Tiefster Punkt des Berges. Das Grubenwasser steigt. Seit auch über Schacht 2 der Betondeckel liegt. Seit alles schwarz geschaltet ist, wird nicht mehr gepumpt.
„Die Gewalt soll gegeben werden dem gemeinen Volk.“
Längst kein Frischwetter mehr hier unten. Ein verriegelter Raum. Und dieses dünne Zischen. Dieses Geräusch. Wie sich die Grube füllt. Das Wasser kommt. Aber noch bleibt etwas Zeit.
Wenn es regnet, drückt es das Salz aus dem Abraum ins Grundwasser. Die Halde weithin sichtbar. Der gleichbleibende Verlauf der Tage. Die Stille über dem Eichsfeld.
Der Anfang liegt verschlossen. Abteufung durch die Aktiengesellschaft Bismarckshall im Jahr 1909. Schacht 1 und 2. Weithmannshall und Holungen. Das liegt ganz unten. Die erste Erinnerungsschicht. Fast andachtsvoll berichtet vom Vater, dem es der eigene erzählt hatte. Vor Jahren. Und so weiter. Das letzte Ereignis, wenn man es auf den Kopf stellt. Und man stellt es auf den Kopf, um es zu begreifen. Den Deckel aus Beton und die Bronzetafel. 108 Jahre Bergbau. Ganz oben. In der Unterhaut des Erinnerungssinns. Fast am anderen Ende. Unser kleiner Widerstand. Unser letztes Aufbäumen. Unser Arbeitskampf gegen den Staat. Gegen die BASF. Gegen die Kali und Salz AG Kassel. Gegen die Treuhand. Gegen die IG Bergbau und Energie. Gegen die Kalikumpel im Westen. Die Kalikumpel aus Unterbreizbach und Zielitz. Gegen den ganzen kläglichen Verlauf der Zeit. Der erste Gedanke die letzte Fluchtkammer. Die Stelle, an der jeder neue Tag zu kippen scheint. Hier unten. Unter dem Ausbleiben eines Sonnenauf- und -untergangs. Unter feucht glitzerndem Gestein. Das gleichmäßige Heben und Senken des Brustkorbs. Mein letzter Tag dort oben der letzte des Jahres 1993. Die endgültige Schließung der Grube.
SOHN Hier bist du.
VATER Natürlich.
SOHN Raus aus dem Krankenhaus.
VATER Und rein in den Berg.
SOHN Wie tief sind wir?
VATER 600 Meter und einen halben.
SOHN Und keine Angst?
VATER Nur beim ersten Einfahren. Damals. Als 16-Jähriger. Eingepfercht in ein Stück Stahl. Und so tief hinab. Ein Hoch auf alle Schließmuskel.
Schürer auf.
VATER Ach, die alten Genossen.
SCHÜRER Glückauf.
VATER Ja.
SCHÜRER Das. Also. Sagt man doch so. Hier unten. Und oben, nicht?
SOHN Wer ist das?
VATER Schürer.
SOHN Wer?
VATER Steht alles in den Akten, mein Sohn. Alles im alten Wäscheschrank. Keine falsche Bescheidenheit. Nimm dir, was du brauchst.
SOHN Da ist alles durcheinander.
VATER Nichts da. Ich bin schließlich Pedant.
SOHN Du hattest immer zu tun.
VATER Immer gerannt.
SOHN Gehetzt.
VATER Gemacht und getan. Ja.
SOHN Was machst du da?
VATER Ich fang an. Ich nehm ein Stück vom ­Bodensatz. Keine Akte. Kein Schreiben. Nur eine kleine, blasse Erinnerung. Im Oktober 1989 sitz ich am Frühstückstisch. Es ist kurz nach fünf. ­Kaffee. Kippe. Wurstbrot.
SOHN Blutwurst.
VATER Gleich gehts aufs Fahrrad. Richtung ­Holungen. Zehn Minuten bis Müntzer. Umziehen in der Kaue. Schichtbeginn sechs Uhr.
SOHN Oktober 89. Krenz jetzt neuer Mann. Im Politbüro kommt zur Vorlage: geheime Verschlusssache / b5 1158/89. Unter der Leitung des Genossen Gerhard Schürer.
SCHÜRER Vorsitzender der Staatlichen Plankommission. Seit 1965. Seit sich mein Vorgänger. Seit sich also der Genosse Apel. Seit der sich in ­seinem Dienstzimmer. Vor der Unterzeichnung eines Vertrages mit den sowjetischen Freunden. Weil er mit dem Reformieren der Planwirtschaft letztlich an eben diesen und dem einknickenden Ulbricht scheiterte. Seit sich, rundheraus gesprochen, der Träger des Vaterländischen Verdienst­orden in Gold, Erich Apel, in seinem, meinem Dienstzimmer am dritten Dezember 1965 eine Kugel in den Kopf gejagt hat. Aber das ist. Eine andere Geschichte.
VATER Mensch, jetzt muss ich wieder dran denken. Dass dir Blutwurst gar nicht schmeckt, mein Junge.
SOHN Hat mir nie.
VATER Dacht ich immer. Dass doch. Aber.
SOHN Mutti auch.
VATER Stimmt.
SOHN Macht ja nix.
VATER Ja.
SOHN Macht gar nix.
SCHÜRER Dürfte ich?
SOHN Bitte.
SCHÜRER Ausgehend vom Auftrag des General­sekretärs des ZK der SED, Genossen Egon Krenz, ein ungeschminktes Bild der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen vorzulegen, wird folgendes dargelegt: Die Deutsche Demokratische Republik hat beim Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft bedeutende Erfolge erzielt.3
VATER Alles wie immer.
SCHÜRER Wir haben in der Mikroelektronik als eines der wenigen Länder der Welt die Entwicklung und Produktion mikroelektronischer Bauelemente …3
VATER Wie ich es satthatte. Damals. Die ewig gleichen Sätze aus den ewig gleichen Gesichtern. Dieser Stillstand. Das Warten auf nichts. Ich wollt doch was. Von allem.
SOHN Mich habt ihr in die Schule geschickt. Nicht auffallen. Nicht über alles reden.
VATER Du warst noch so klein.
SOHN Draußen ein anderer als zu Hause.
VATER Unser Glück war das. Unser Haus. Und keine Störung, kein Alarm und nichts von außen.
SOHN Rückgang der produktiven Akkumula­tion. Kosten der Erzeugnisse ergeben ein Mehr­faches des internationalen Standes. Hoher Verschleißgrad des Straßennetzes. Verfall von Wohnungen. Übermäßiger Planungs- und Verwaltungsaufwand. Allgemeine Kostenerhöhung. Fehlende materielle und finanzielle Mittel. Das Ende des ersten und letzten sozialistischen Staates auf deutschem Boden.
SCHÜRER Davon verstehen Sie, meiner Meinung nach, überhaupt nichts. Sie waren fünf, als der Sozialismus im Würgegriff der kapitalistischen Übermacht ruhmreich zugrunde ging?
SOHN Sieben.
SCHÜRER Wie auch immer.
VATER Lesen Sie ruhig weiter. Es scheint Ihnen gutzutun.
SCHÜRER Im internationalen Vergleich der Arbeitsproduktivität liegt die DDR gegenwärtig um 40 % hinter der BRD zurück.2 Oder hier: Die Verschuldung im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet ist seit dem VIII. Parteitag gegenwärtig auf eine Höhe gestiegen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage stellt.3
SOHN Wie hoch war die denn? Die Verschuldung.
SCHÜRER 49 Milliarden Valutamark.
SOHN In einem 1999 veröffentlichten Expertenbericht der Deutschen Bundesbank ist von knapp 20 Milliarden Schulden die Rede. Eine Pro-Kopf-Verschuldung von etwa 13.000 DM, während sie in der BRD zur gleichen Zeit bei etwa 15.000 DM lag. In Ihrem Bericht fehlen die Gelder der sogenannten KoKo, der Kommerziellen Koordinierung unter der Leitung von Alexander Schalck-Golodkowski.
SCHÜRER Also doch ein wenig angelesene Kenntnis.
VATER Mein Junge. Meine Akten.
SOHN Die internationalen Finanzmärkte sahen die Situation jedoch noch nicht als kritisch an. Sowohl im Jahre 1988 als auch 1989 konnten die DDR-Banken Rekordbeträge im Ausland aufnehmen.4
VATER Ja, was denn nun?
SOHN Die Frage ist: War die DDR Ende 1989 pleite oder nicht? Was war er wert? Kurz vorm großen Verkauf? Der ganze Salat?
SCHÜRER Das ist die Frage.
SOHN Wenn es keine Änderung in der Politik gegeben hätte, wäre die DDR früher oder später zahlungsunfähig geworden. Allein, weil sich der Zustand der Produktionsmittel immer weiter verschlechtert hätte.
SCHÜRER Vielleicht.
SOHN Vielleicht?
Stille.
SCHÜRER Kann man nicht sagen. Kommt ganz darauf an, wie Sie es sehen wollen, junger Mann.
SOHN Wo wollen Sie denn hin?
SCHÜRER Ich muss, wenn es nicht stört, mit aller Dringlichkeit ein Buch schreiben. Mit meiner Sicht der Dinge. Wie jeder vernünftige Genosse.
SOHN Herr Schürer!
SCHÜRER Im Übrigen muss ich verhaftet werden. Und freikommen. Ich muss Unternehmensberater werden. Bei Dussmann und den Belinda-Strumpfwerken.
SOHN Wie ein vernünftiger Genosse.
SCHÜRER Die Konsequenzen der unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit wäre ein Moratorium (Umschuldung), bei der der Internationale Währungsfonds bestimmen würde, was in der DDR zu geschehen hat.3
SOHN Und jetzt?
VATER Jetzt ist er weg.
Stille.
VATER Das war. Eine Aufregung. Damals. Sag ich dir. Mein Junge.
SOHN Vati.
VATER Was für eine Aufregung.
SOHN Wir sind doch noch gar nicht fertig. Wo willst du denn hin?
VATER Das ist erst der Anfang. Dieses Ende.

9
Winter zwischen Babel und dem
aufragenden Fels
Westwind bläst übers weite Schneefeld
Bauernland
Arbeiterland
jemand trägt einen Mauerrest triumphierend
durch die Provinz
nachts jetzt nur noch
Bier und Deutschlandfahnen
mit einer Peitsche macht eine Bäuerin
Jagd auf die alte Obrigkeit
ein fliehender Bischof dem
Kardinal wird Abwasser ins
Gesicht gekippt alle
treten aus der Partei
aus die alten
Genossen
verkriechen sich vorerst
während sich das Volk
begrüßen lässt Schein für Schein auf der
anderen Seite der neuen Demarkation und
draußen vorm HO klappt einer
seinen Tisch auf sechs
Westmark für den Becher Jogurt nach
einer halben Stunde ist
alles verkauft aus den
Händen gerissen

Offenbar ist statt einer deutschen Fusionslösung eine baldige Angliederung der DDR an die Bundesrepublik Deutschland wahrscheinlich geworden.5

im Schloss Schönhausen zum ersten Mal der
Zentrale Runde Tisch unter einem
dunklen Berliner Himmel Ullmanns Idee
der Anteilsscheine
das Volkseigentum in der Hand des Volkes
zum Schutz gegen den Ausverkauf
Lohn der letzten vierzig Jahre
blass aber das alles im nationalen Glitzer und
der Verlockung eines ganz anderen
eines neuen Lebens wir sind ein
Volk ein Volk plötzlich kommt die D-Mark
bleiben wir vom ersten Westgeld
kauf ich mir
ein funkferngesteuertes Auto mein Vater
verbietet mir damit auf
der Straße zu spielen es soll
kein anderer sehen ich
heule sofort los was wie ich weiß
nichts daran ändern wird

Die Verlustgefahr resultiert daraus, dass die Rechtskonstruktion „Volkseigentum“ nicht im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, dessen Geltungsbereich ja vermutlich auf das Territorium der DDR ausgedehnt werden wird, enthalten ist.
Deshalb muss umgehend das Volkseigentum in eine Form transformiert werden, die den Rechts- und Eigentumsformen der Bundesrepublik entspricht.
5

auf den Straßen jetzt
immer mehr Gebrauchtes aus dem Westen
wir stecken uns gegenseitig
Südfrüchte in den Hals
wir kaufen alles was
neu ist und
unbekannt fressen Kiwis
mit Schale
und denken es müsste uns schmecken
das neue Land
geht durch den Magen uns ist
als wäre auch der eigne
Durchfall neu

ein Denkmal
am Ende der dunklen Sackgasse
Abstand nimmt vom eignen Volk den
Ekel im Gesicht der unbekannte
Dissident

die Klassenlehrerin vermerkt bei
Fehltagen immer noch
ob sie im Westen stattfanden
die Sündigen verenden in der Warenwelt
statt Schwein und Teufel
gibt es Überraschungseier

Diese Treuhandgesellschaft hat zum Beispiel die Aufgabe, sicherzustellen, dass die Wertbestimmung jedes einzelnen, konkreten Volkseigentums wirklich frei über den Markt erfolgt: eine Wertbestimmung insbesondere im Hinblick auf das qualifizierte und kultivierte Zukunftspotential des Standortes DDR im Herzen Europas an der Nahtstelle zu Osteuropa kann nur über die Nachfrage konkurrierender Interessenten aus der Wirtschaft der ganzen Welt zustandekommen.5

in das alte Ministerium für Außenhandel
Unter den Linden
ziehen die ersten Mitarbeiter der Anstalt
(zur treuhänderischen Verwaltung des Volksvermögens) ein
kaum Möbel Technik Überblick
Blindflug übers erodierte Land
exterritorialer Wahlkampf allerorten
Importware Führung
Finanzierung Drucker Strategie
Kohl spricht und spricht verschenkt
Schallplatten und schaut
was die geschichtliche Stunde jetzt
möglich macht
eine Allianz für Deutschland
die nur einen Weg kennt ein Land wird
zum Beitrittsgebiet und die meisten
in diesem Land wollen
genau das die meisten wollen
Derrick und Beckenbauer
das Auto die Hose das Sonderangebot
die meisten wollen das neue Geld
den Katalog die Winterkollektion
alles muss
im Überfluss
vorhanden sein
alles muss so werden wie es noch nie war
und nie gewesen ist
auch nicht auf der anderen Seite der Werra aber
wer glaubt schon dem toten Narr
der noch vorm Werktor liegt

in der Treuhand werden die Kombinate
entzerrt Umwandlungen am Fließband
Ordnung
die Mitarbeiter fahren nach Westberlin
wenn sie mit dem Westen telefonieren wollen
fahren nach Westberlin wenn sie
wissen wollen wie der Hase läuft
lesen in den
Bibliotheken und Tageszeitungen über
das System des
alten Feindes das man
so genau so praxisnah noch
gar nicht kannte

TREUHANDMITARBEITER
Der erste große Arbeitsaufwand, der auf uns zukam, war eigentlich, ich muss das so primitiv sagen, dass wir uns alle mit den neuen rechtlichen Bestimmungen vertraut gemacht haben. Also keiner von uns kannte das Gesetz über eine Aktiengesellschaft.6

ein weiterer TREUHANDMITARBEITER
Das war eine fast schier unlösbare Aufgabe, weil die Betriebe selbst, die nun ihre Umwandlungsunterlagen vorgelegt haben, gar nicht wussten genau, was sie alles zu erbringen haben. (…) Die Räumlichkeiten drüben Unter den Linden, unsere Büroräume, die glichen einem Heerlager wie im Dreißigjährigen Krieg. Überall saßen welche mit einer kleinen Reiseschreib­maschine und so weiter, oder großen, je nachdem, und haben dann Unterlagen umgeschrieben, verbessert, wenn es vor Ort möglich war, ansonsten haben sie kluge Hinweise bekommen, mit denen sie wieder nach Hause zogen, und dann kamen sie ein paar Tage später wieder. Und sie hatten ja alle nur den Wunsch, jetzt müssen wir das noch hinter uns bringen, um in eine GmbH zu kommen oder eine Aktiengesellschaft zu werden.6

noch ein TREUHANDMITARBEITER
Man kann sich das gar nicht vorstellen, wenn so ein Betriebsdirektor, der dreißig Jahre unter Planwirtschaftsbedingungen, nun über Nacht die Aufgabe gekriegt hat, sein Kombinat umzuwandeln in eine Aktiengesellschaft oder in eine GmbH, das war sehr interessant, was die Leute da gedacht haben.6

im Sommer dann
das schwere Geld auf
dem Alexanderplatz die heilige D-Mark
beflaggtes Schwitzen mit dem
Schein in der Hand dort wo später
der neue Sitz
der Treuhandanstalt sein wird wo
die externen Berater teuer gekauft
den neuen Wert bemessen für die
alten Betriebe
so ein Tag so wunderschön
wie heute so ein Tag Panik
im Ansturm der Willigen vor der Filiale
der Deutschen Bank Schlag
null Uhr die aufgerissenen Münder
der erste Schein gestreckt
in einen lauwarmen einen
unverschämt gewöhnlichen Nachthimmel

SCHUCHT Es ist immer wieder das alte Problem einer unblutigen Revolution, selbst einer blutigen (…), daß die Technokraten, die gut Ausgebildeten, die Leute mit Führungskraft und Organisationstalent in den Unternehmen an der Spitze sind, und daß die Sanftmütigen, Friedlichen, die diese Revolution in Gang gesetzt haben, sich am Ende den gleichen Führungskadern gegenübersehen, denen sie vorher ausgesetzt waren.2

aus dem Kombinat Kali
wird
die Mitteldeutsche Kali AG
alleiniger Eigentümer noch vor dem
Beitritt ist die Treuhandanstalt
einer der Berater des neuen
Aufsichtsratsvorsitzenden
wird Alwin Potthoff
angestellt bei der Kali und Salz AG Kassel
der Konkurrent
aus dem Westen erhält Einblick
in die ostdeutschen Geschäfte
während man in Kassel
bei der BASF die höchsten
Verluste der Unternehmensgeschichte einfährt

die Beschleunigung der Rotation das
Panorama entzieht sich dem
Blick Treuhand und Bundesregierung
getrieben längst
täuschen vor das
Steuer in der Hand zu halten
während die Fliehkraft immer stärker wird
und die ersten aus dem Bild wirft
immer wenn ich schau
lässt Müntzer seine Fahne sinken

SCHUCHT Die Sache ist wieder einmal typisch für alles, was wir hier vorfinden. In der Übergangszeit sind von den Regierungen Versprechungen gemacht worden, die heute kein Mensch mehr einhalten kann und möchte. Ob es hier bei der Mibrag so war, in Espenhain oder im Kali, überall hat man um des politischen Friedens willen materielle Zusagen gemacht, die heute unbezahlbar sind.2

und immer wieder
spreche ich mit dem Papier
den Ordnern aus dem
Wäscheschrank
sortiere nach Jahreszahlen und
Institution
Staub
der alten Tage ich
baue mir einen Vater im Berg am
Frühstückstisch vor
dem Fernseher der spricht und
lacht der redet fragt antwortet im
Zimmer nebenan Mutter längst im Schlaf die Nacht
schon tief

10
VATER Ich war immer Bergmann. Wie der Vater. Der Großvater und so weiter. Schachthauer in Erbfolge. Eichsfelder Tradition. Jahrelang haben wir hier in Bischofferode Devisen beschafft. Für die dauerklammen Genossen. Bis wir die endlich losgeworden sind. Unter unseren Ärschen Salz für 40 Jahre. Wir hatten Aussicht. Kundschaft. Zukunft. Von der Treuhand gab es 1990 fast 15 Millionen für neue Maschinen. Während am Jahresende schon fünf von zehn Gruben geschlossen waren, lief bei uns die Arbeit auf vollen Touren. Aus vollen Büchern. Wir hatten was vor.
Hier unten. Hier sind wir weit weg von allem. Im Alten Mann. Kaum ein Geräusch dringt bis hierher. Nur das Zucken der Luft. Folge des Herabsinkens. Versatz der alten Tage. Hier liegt, was niemand brauchte. Irgendwann senkt sich der First auf uns herab. Aber noch ist Zeit. Und man kann, wenn man will, darin graben. Der Raum hier unten längst zu eng für einen Widerhall. Im Staub liegt alles. Im Versatz des gebrochenen Gesteins. Noch bleibt ein wenig Zeit. Auch wenn das Grubenfeld längst dicht, längst schwarz geschaltet ist. Auch wenn der First sinkt. Und sinkt.
KOHL Liebe Landsleute! Vor wenige Wochen wurde der Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik unterzeichnet – hier im Palais Schaumburg, dem Amtssitz früherer Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Seit heute ist er in Kraft.7
SOHN Hier bist du.
VATER Hier kann alles runterkommen. Alter Mann. Verstehst du? Altes Abbaugebiet. Warum bist du einfach durch die Absperrung gegangen?
KOHL Jetzt wird für die Menschen in Deutschland – in wichtigen Bereichen ihres täglichen Lebens – die Einheit erlebbare Wirklichkeit.6
VATER Das kann alles einstürzen. Alles über uns einbrechen.
KOHL Viele unserer Landsleute in der DDR werden sich auf neue und ungewohnte Lebensbedingungen einstellen müssen – und auch auf eine gewiß nicht einfache Zeit des Übergangs. Aber niemandem werden dabei unbillige Härten zugemutet.7
SOHN Musst aufhören, alles umzugraben. Deine Hände. Die bluten ja überall.
VATER Quatsch.
SOHN Was suchst du denn?
VATER Altes Zeug.
KOHL Den Deutschen in der DDR kann ich sagen, was auch Ministerpräsident de Maizière betont hat: Es wird niemandem schlechter gehen als zuvor – dafür vielen besser.7
SOHN Wir haben die gehört. Diese Rede.
VATER Im Auto. Im Radio. Ja. Als hier noch keine Autobahn war.
SOHN Und ihr habt euch gestritten. Du und Mutti.
VATER Passiert.
SOHN Weil sie rüber wollte.
VATER Ja. SOHN Und du nicht. VATER Ich war Bergmann.
SOHN Warum wollte sie rüber?
VATER Das fragst du mich.
KOHL Ich bitte die Landsleute in der DDR: Ergreifen Sie die Chance, lassen Sie sich nicht durch die Schwierigkeiten des Übergangs beirren. Wenn Sie mit Zuversicht nach vorn blicken und alle mit anpacken, werden Sie und wir es gemeinsam schaffen.7
VATER Der hat 16 Millionen neue Verbraucher gegrüßt.
SOHN Dich.
VATER Und dich.
KOHL Wir werden es schaffen – wenn wir uns auf die Fähigkeiten besinnen, mit denen wir vor über vierzig Jahren, in einer ungleich schwierigeren Situation, aus den Trümmern unserer zerstörten Städte und Landschaften die Bundesrepublik Deutschland auf­gebaut haben.7
SOHN Ihr habt euch gefreut. Damals. Übers neue Geld. Sekt und Schnittchen vor dem Fernsehgerät.
VATER Wir haben Kohl geglaubt.
KOHL Ja, nun. Warum denn auch nicht?
SOHN An das neue Wirtschaftswunder.
KOHL Selbstverständlich.
SOHN Weil ihr dachtet, dass ihr dazugehört. Zum Westen. Und hier alles wird wie dort. VATER Wir hatten es so satt. Diesen Sozialismus der alten Männer. Wir wollten unsere Freiheit.
SOHN Und einen neuen Fernseher.
VATER Keine Gängelungen mehr.
SOHN Und nichts mehr aus den volkseigenen Betrieben. Euer Bannfluch fürs Ostsortiment.
KOHL Entschuldigung, aber. Brauchen Sie mich noch?
SOHN Kohl konnte es nicht schnell genug gehen.
KOHL Eine geschichtlich einmalige Gelegenheit.
SOHN Vor allem eine anschwellende Flut von DDR-Flüchtlingen, die in die bundesdeutschen Sozialsysteme einsickerten. Gorbatschows wackelnder Thron in Moskau.
KOHL Ein in der Tat begrenztes Zeitfenster. Ein Vorhaben mit besten Aussichten.
SOHN Und ihr habt alles geglaubt. Mehr als 50 Prozent haben damals im Eichsfeld für Kohl gestimmt.
VATER 56 Prozent.
SOHN So viele haben gedacht, dass es ab jetzt nur noch vorwärts geht.
VATER Weißt du, du fährst hier ein. In meinen Berg. Du und all das Zusammengelesene. Deine schlauen Worte. Dein Blick aus der Ferne. Wir standen da knietief drin. Damals. Alles war schnell. Alles gleichzeitig. Wir wussten nicht, was passieren wird. Wir hatten diese kleine dumme Hoffnung.
SOHN Ich hab mich nicht versteckt. Bin nicht in den Berg gekrochen. Oder ins Arbeitszimmer. Immer wenn es schwierig wurde.
VATER Ich lieg im Krankenhaus. Eigentlich.
SOHN Ich weiß.
VATER Und dafür kann ich doch nichts.
SOHN Natürlich nicht.
KOHL Sie brauchen mich doch gar nicht mehr.
SOHN (gibt Kohl einen Brief) Das müssen Sie aber noch vorlesen, Herr Kohl. Frisch aus dem ­Wäscheschrank. Von ihrem Duzfreund Heinz Braun. November 1990.
KOHL Lieber Helmut,8
SOHN Braun ist langjähriges CDU-Mitglied und zusätzlich, und das ist wirklich interessant, BASF-Betriebsrat.
KOHL Nach Gesprächen mit Führungskräften und vor allem Betriebsräten und Kollegen einiger Kalibergwerke schreibe ich Dir, weil ich große Sorgen um die Zukunft der Arbeitsplätze habe.8
VATER Waren schlechte Zeiten. Für Kali. Damals.
SOHN Die untergehende Sowjetunion überschwemmte den Markt mit billigem Kali. Zu zehn Prozent des eigentlichen Preises.
VATER Aber wir, wir hatten eine andere Qualität. Wir hatten Abnehmer. Für unser K60 und K61. In Kanada und Skandinavien.
SOHN Die direkte Konkurrenz von BASF.
VATER Die wollten nur unser Salz.
KOHL Unabhängig davon werden die Kaliwerke im neuen Gebiet der Bundesrepublik über die Treuhandanstalt mit erheblichen Geldmengen subventioniert, wobei diese Werke sich in einem traurigen Zustand befinden müssen. Niemand kann sagen, ob die Produktion dort überhaupt weitergeführt werden kann.8
VATER Die Auftragslage bei uns war gut. Ende 1990. Wir wollten mithalten. Mitmischen. Gegen alle Widerstände.
KOHL Ich glaube, dass wir mit unseren Steuermitteln Arbeitsplatzverluste in Niedersachsen und Hessen finanzieren.7
SOHN Im August, einen Monat nach der Währungsunion, verliert Mutti ihren Arbeitsplatz. Sie hockt plötzlich zu Hause, spricht wenig. Sie fragt nach der Schule, wenn ich nach Hause komme. Sie will, dass ich es zu etwas bringe. Sie versteht die Zeit nicht, in der wir leben. Sie meckert, wenn ich eine Drei nach Hause bringe.
KOHL Ich wäre Dir sehr dankbar, wenn Du Dir einmal vom Vorstandsvorsitzenden der Kali und Salz, Herrn Dr. Walterspiel (…), einen persönlichen Bericht über die heutige Lage geben läßt. (…) Mit freundlichen Grüßen. Heinz Braun.8
SOHN Sie hatten das nicht ernst gemeint, oder? Die Sache mit den blühenden Landschaften?
KOHL Nun, mein junger Freund. Ich gebe 1999 in einer internen Beraterrunde angeblich folgenden Satz von mir: Wir haben die miese Lage bewusst nicht – das war nicht zufällig, wir haben darüber diskutiert – wir haben bewusst, wie wir glaubten, psychologisch richtigerweise, die Negativzahlen nicht hochgespielt.9 Ich habe, so wird behauptet, das Selbstwertgefühl der Ostdeutschen nicht schädigen wollen. Das ist natürlich eine infame Lüge.
SOHN Klar.
Kohl ab.
VATER Ich würde das heute. Also. So nicht noch einmal machen. So leben. So entscheiden. Ich würde nicht mehr kämpfen. Aber das ist. Ist jetzt vielleicht auch egal.
SOHN Lauf doch nicht weg.
VATER Nicht weg. Weiter.
SOHN Warte.
VATER Höher.

11
ein TREUHANDMITARBEITER
Die Beherrschung der Liquiditätsprobleme in der Wirtschaft erweist sich als gravierender Faktor für die Stabilität dieses Landes, für seine erfolgreiche Überleitung von der zentralistischen Verwaltungswirtschaft in die soziale Marktwirtschaft und für ein harmonisches Zusammenwachsen beider deutscher Staaten zum vereinigten Deutschland. Es geht darum, das Eintreten eines wirtschaftlichen Kollaps und verschärfte soziale Spannungen, insbesondere durch millionenfache Arbeitslosigkeit, unter allen Umständen zu vermeiden.10

der alte Traum
an einen Baum
hängt die verfolgte Gans den Fuchs

mein Vater unverändert
nach der Visite
basale Stimulation Nahrung
nach wie vor
über die nasogastrale Sonde
der Patient bleibt an diesem Mittwoch
so steht es geschrieben
unauffällig
schräg hinterm Narrenschiff in
einer blauen Blase Kohl der
Verkündungsengel
mit seinen Flügeln aus Saumagen
fast schwerelos schwebend
über dem wüsten Land
dem so genannten
Beitrittsgebiet
Untergangsreigen von
Fabrik zu Fabrik
zieht die freie Marktwirtschaft wieder

ein TREUHANDMITARBEITER
Täglich kamen mit Fernschreiben Hiobsbotschaften nach der Währungsreform, wir müssen zumachen, wir müssen entlassen, wir können keinen Lohn zahlen und und und und und.6

und dann ein weiterer TREUHANDMITARBEITER
Der 1.7. war eine gefährliche Situation, D-Mark kam, und wir mussten im Wirtschaftsministerium mit der Treuhand gemeinsam im Juni vorbereiten, was machen die denn nun am 1.Juli früh um sieben? Wer zahlt dann Rechnungen, wer zahlt Löhne (…) Und diese praktischen Fragen zu klären, das hat man dadurch, dass man das nach bewährter Methode, im Brief an alle – und dann hat man gefragt, ja, wieviel brauchst du denn Geld? Und dann haben die geantwortet, wie sie das gewöhnt waren, wenn sie einen Brief aus Berlin gekriegt haben. Viel, sehr viel. Das wurde dann zusammengerechnet in einer gigantischen Aktion von 8000 Unternehmen, müssen Sie sich mal vorstellen.6

und
während Kohl verkündet
den ostdeutschen Narren
fallen sie ein in die Treuhand
die externen Berater von KPMG
Treuarbeit McKinsey und Roland Berger
und Partner
bilden als Leitungsausschuss das
strategische Zentrum
der Treuhand
und
wollen wo man noch
anständig bezahlt wird wo
die Spreu vom Weizen abgeschlagen wird
was abhaben vom Kuchen
der Transformation
wo die Betriebe ihre
Wertigkeit erhalten nach
den neuen Standards eins
bis stille Liquidation
wo man doch
die langjährigen Geschäftspartner
in den alten Bundesländern wie
man jetzt sagt
im Hinterkopf behält

Kohl steht noch rum und winkt und winkt und
schlägt hilflos mit den kurzen Flügeln
Roland Berger empfiehlt
der Treuhand eine schlanke Struktur
an den dünnen Leib soll
externe Beratung und huckepack
sitzt Roland längst und macht
den Braten fett zusammen
mit den anderen und
die Preise klein
für die Firmen im Westen die
Großkunden

PLASCHNA / VORSITZENDER LEITUNGSAUSSCHUSS
Wir haben ... das in Sanierungswürdigkeit und Sanierungsfähigkeit gegliedert. Sanierungswürdigkeit ist davon abhängig, daß ein Unternehmen bereits ein im Westen absetzbares Produkt hat. Es sollte damit zum Ausdruck gebracht werden: Wenn es das nicht hat, dann ist es von vornherein nicht sanierbar. Denn wir waren nicht aufgerufen, mit deutschen Steuergeldern neue Produkte zu entwickeln. Denn das wäre gegen den westlichen Wettbewerb verzerrend.11

und
während das Geld
nicht fließt im Land weil die Währung zu hart ist für die weichen Versprechen und
während die Straßen enger werden
durch die
die man dort hingesetzt
hängt ein wütender Mob den fahlen Ablasshändler
nicht
an den Ast
den Ablassbrief
nicht
darüber
darin nicht die schwarze Liste
Betriebe Fabriken die aufgefallen waren
dem Ausschuss
weil sie das meiste Geld verschlangen
die
Dreihundertsechs
und während sie
die
Engel der Beratung den göttlichen Zorn des Kapitals
auf die Gottlosen schütten aus
vollen Schalen triffts wieder nicht die
Obrigkeit und nicht die Macht
wie sich der Müntzer das noch dachte
bevor sein Kopf das Stadttor zu
Mühlhausen zierte

PLASCHNA / VORSITZENDER LEITUNGSAUSSCHUSS
Jedes Unternehmen wurde betriebswirtschaftlich von Unternehmensberatern und den von mir erwähnten Wirtschaftsprüfern detailliert analysiert. Es wurde auseinandergenommen nach allen Regeln der Kunst. Es wurden seine Absatz-, seine Märkte-, seine Kostenpositionen, es wurde total auseinandergenommen und betrachtet. Dann wurde das Unternehmen in einem zentralen Einstufungssystem dargestellt. Es wurde am Ende – so bedauerlich das ist, aber in der Masse mußte es zu einer Regelung kommen – mit einer Zahl versehen. Diese Zahlen waren von 1 bis 6; das war zufällig so; das hätte auch A, B, C heißen können.11

und während
das dünne Schwarz der verbrannten Anteilsscheine
nach
oben steigt
und hinüberweht bergab zum
alten Haus der Elektroindustrie
wo die Räume zu eng werden
für das wachsende Tier
Treuhand
das hungrig geworden ist
und nach Ordnung giert
während all dessen
ruht und wiegt
der Alexanderplatz
inmitten
einer nächtlich aufgebrachten
Flusslandschaft
Gebirge darum und neben der
Weltzeituhr verbrennt
der janusköpfige Luther
die Bannandrohungsbulle des Papstes
und ist doch
mit dem anderen Gesicht
den Fürsten zugewandt

wieder ein TREUHANDMITARBEITER
Wir besichtigten dieses Reichsluftfahrtministerium an einem trüben Dezembernachmittag, halb duster, es war unbeschreiblich. (…) Es war schauerlich. Dann sind wir da reingegangen. Die Toiletten, seit 50 Jahren nichts gemacht. Also es war abenteuerlich. (…) Die Tapeten kamen von den Wänden, Gardinen hingen da halb fest, und das Mobiliar war unter aller Kanone, es war so eigentlich, wie wir das in Westdeutschland in den fünfziger Jahren wahrscheinlich zum Teil noch vorgefunden haben. (…) Wir gingen da also rum, und ich höre Herrn Rohwedder noch sagen, „Also sanitäre Anlagen, das muss hier alles in weiß sein, wenn man aufs Klo geht, muss man fröhlich sein“.6

und
Kohl fliegt übers Land
und winkt dem Kohl zu
(dem vom nächsten Mai)
dem grad ein anderer ein Ei an
seinen Kopf geworfen hat
obwohl er doch nur
Hände schütteln wollte

die Treuhand aber
umgezogen
jagt weiter Köpfe und
immer mehr
Experten und
Berater die
Angebote prüfen Käufer sondieren Verhandlungen begleiten und
die Betriebe akkurat bewerten
man hat zu wenig Personal
zu viel ist das was überall erwartet wird
vom Tier das
alle Wut längst auf sich zieht
(was praktisch ist)

und
keiner kauft noch Fit
und fast keiner Filinchen
nur wenige Florena
und wirklich niemand kauft die Dose
Halberstädter Leberwurst
und nur vereinzelt wird nach Rondo noch
gefragt

und durch die Städte zieht
das Narrengericht
die verkehrte Welt für einen Tag
die Kohlmasken übers Gesicht gezogen
stumm meist so
haben wir uns das aber nicht
vorgestellt
mein
armer Konrad
als
wir
die
D-Mark wollten noch
vor kurzer Zeit
ein Schritt zurück
ins Zentrum
im Kreis einmal und
mehr bis
mir der Schwindel in den Kopf steigt
und mit dem Schwindel
der ganze spätbürgerliche
Anknüpfungsversuch
der alten roten Kader Müntzer und Krenz Müntzer und Honecker Müntzer und Ulbricht
Müntzer Ulbricht Honecker Krenz
Modrow de Maizière Kohl

am späten Abend wieder Kälte
Vater in seinem
Krankenbett
die dünne Haut über den Knochen
alles ist aus Papier

12
MUTTER Warum schläfst du nicht?
SOHN Hast du mich erschrocken.
MUTTER Hab doch gedacht, dass du längst im Bett bist. Hab mich hingelegt. Und dann das Knarzen gehört. Im Bett. Das alte Holz.
SOHN Kannst auch nicht schlafen?
MUTTER Ich könnte schon, wenn es still wäre.
Stille.
MUTTER Machst du immer noch Ordnung?
SOHN Das ist doch Vati.
MUTTER Ist doch nur. Nur Papier.
SOHN Wusstest du, dass es im Frühjahr 1991 eine Vorstandssondierung zwischen der treuhandeigenen MDK und der westdeutschen Kali und Salz AG gab?
MUTTER Du, ich hab das alles tausend Mal gehört.
SOHN Diese Absprache, diese Markteinteilung versperrte Bischofferode und den anderen Gruben den westdeutschen Markt. Der unantastbare Kundenstamm der Kali und Salz AG Kassel.
MUTTER Und andersherum. Ich weiß.
SOHN Aber andersherum greift die Absprache überhaupt nicht. Die Kali und Salz AG hätte im Osten niemals verkaufen können. Nicht zu ihren Preisen.
MUTTER Du sprichst wie Vati.
SOHN Ist doch gut.
MUTTER Muss ich nicht zweimal haben. Jemanden, der sich eingräbt. Und weg ist er. Also. Wenn du reden willst. Wenn du was wissen willst. Wenn du was nicht verstanden hast. Wenn du dich manchmal einsam fühlst, weil du annimmst, nur du hast diese Gedanken. Nur du hast diese Familie. Diesen Vater. Diese Mutter. Wenn das alles der Fall ist. Dann kannst du mich einfach fragen. Ja? Dann kannst du einfach deine Mutti fragen.
SOHN Aber du bist nicht hier.
MUTTER Nein.
SOHN Du liegst im Bett. Wir reden nicht.
MUTTER Ich schlafe längst.
SOHN Und ich sitze hier herum. Allein. Zwischen Vaters Papieren. Mitten in der Nacht.
MUTTER Und hast seine geheimen Schnapsreserven gefunden.
SOHN Akzisefreier Trinkbranntwein. Deutsches Erzeugnis. Weiterverkauf wird strafrechtlich verfolgt.
MUTTER Mit dem Papier jedenfalls. Da kriegst du den auch nicht zum Reden. Deinen Vater.
SOHN Vielleicht nicht.
Stille.
MUTTER Morgen. Fahren wir ins Krankenhaus.
SOHN Hast du schon gesagt.
MUTTER Trink nicht so viel.
SOHN Ja.
MUTTER Und grüß Vati. Wenn du ihn triffst. In seinem Berg.

13
TREUHANDMITARBEITER
Die kulturelle Vielfalt, auch die neuen Bundesländer haben mich im Anfang, alleine von der Landschaft her fasziniert, dieses Unberührte, was also nicht wie im Westen zugepflastert war, das waren also besondere Erlebnisse.6

noch ein TREUHANDMITARBEITER
In Berlin geht es ja. Aber in Chemnitz finden sie keinen. Das können Sie keinem zumuten, keiner Familie zumuten.6

ein weiterer der vielen TREUHANDMITARBEITER
Da ist man über Bodenwellen gestolpert, weil man das nicht kannte, dass ein Straßenbelag so gewellt ist, und das war eine ganz fremde Welt.6

ein weiterer der vielen TREUHANDMITARBEITER
Am ersten Tag habe ich mich noch in den Bus gesetzt und bin schnell in den Westen gefahren, zum Abgewöhnen, habe gedacht, „Ob du das aushältst?“. Und hinterher hat man es eigentlich mehr schätzen können, auch diese gewisse Ruhe und dass da eben nicht soviel Neonreklame war.6

noch ein TREUHANDMITARBEITER
Dieses Ursprüngliche, wie Deutschland mal aussah, kannte man am Ende ja schon gar nicht mehr.6

wieder ein anderer TREUHANDMITARBEITER
Ich will darauf hinaus, dass ständig neue Leute kamen, dass es sozusagen ein großer Einschmelzvorgang war. (…) Es war also ein ständiges Einschmelzen-Müssen. Und wer ankam, war nach drei Tag auf dem Stand wie die, die schon da waren. Die waren zum Teil aber auch erst drei Wochen da oder drei Monate …6

wieder ein neuer TREUHANDMITARBEITER
Alles, was in der Treuhand stattfindet, ist eine Brutalsanierung. Ob es eine Privatisierung, eine Sanierung oder eine Abwicklung ist, das sind nur graduelle Unterschiede. Aber der Effekt ist der gleiche, denn was übrig bleibt sind nie mehr als 30 % der ursprünglichen Arbeitsplätze.6

ein ganz neuer TREUHANDMITARBEITER
Mir tut es unglaublich leid, dass Menschen, die hier arbeiten und sich engagieren, möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt, wenn sie hier ausscheiden, Probleme haben werden, weil ihnen ein negatives Image angehängt wird.6

wieder jemand Neues, ein TREUHANDMIT­ARBEITER
Die Treuhand ist auch insofern eine geniale Einrichtung, als sie einen Puffer zwischen den Politikern und den Betrieben, denen, die betroffen sind, bildet. Dafür werden wir bezahlt. Das ist Teil unseres Gehalts, dass wir für die Politik den Kopf hinzuhalten haben.6

ein ganz neuer TREUHANDMITARBEITER
Meine Leute, die haben mehr geleistet als in diesem Deutschland in den letzten zwanzig Jahren oder dreißig Jahren irgendjemand anders.6

ein noch nicht angehörter TREUHANDMIT­ARBEITER
Man muss die menschlichen Komponenten sehen …6

ein ganz neuer TREUHANDMITARBEITER
Diese Truppe hat hier in den neuen Bundesländern roundabout eine Millionen Menschen auf die Straße geschickt, und es gab keine Volksaufstände, nichts.6

ein noch nicht angehörter TREUHANDMIT­ARBEITER
… es geht immer immer um den Menschen …6

14
VATER Im Blindschacht jetzt. Keine Aussicht auf Sonnenlicht. Weit weg vom alten Baufeld. Kein Signal. Kein „Korb frei“ Keine vier und vier Anschläge mehr.
Die letzte Seilfahrt. Fünffacher Schlag. Vor Jahren noch die Flutungsbohrungen im Westfeld. Die plötzliche Erschütterung nach einer langen, in sich fast endlosen Zeit der völligen Geräuschlosigkeit. Eine Abwesenheit von Lauten wie ich sie mir sonst nur in der Kälte des Alls oder der Tiefe eines ozeanischen Grabens vorstellen konnte. Ein Grollen in stiller Tatenlosigkeit.
Manchmal noch, wenn ich still sitze, höre ich die Motoren der Radlader. Wische ich mir den Schweiß, den Staub von der Stirn. Laut vor allem war es hier. Laut und heiß. Jetzt bleibt das Grollen meines Magens. Mitbringsel vom Hungerstreik. Aber das war später.
Und danach? Nach der Schließung 93 bin ich in die Auffanggesellschaft. Wie die meisten. Ab und an bin ich noch runter. Aber immer weniger. Von Jahr zu Jahr. Seit 2017 ist der Grubenbau schwarz geschaltet. Und ich in Rente. Oben noch der Betrieb zur Wetterführung. Und hier unten läuft uns die salzige Suppe langsam bis an die Eier. Sinkt der First. Aber noch. Noch bleibt ein wenig Zeit. Noch können wir durch die Blindschächte ziehen. Uns verstecken in den Fluchtkammern.
SOHN Hier bist du.
VATER Hab schon gedacht, dass du nicht mehr kommst. Dass du abgesprungen bist. Ist doch alles alter Kram.
SOHN Ja?
VATER Komm. Hier gehts lang.
SOHN Wo sind wir hier?
VATER In einem Blindschacht. Kommen von einer Sohle zur nächsten. Vorsicht. Pass auf deinen Kopf auf.
SOHN Und wer ist das?
VATER Na, der Schucht. Klaus Schucht. 91 kam der zur Treuhand. Kurz nach Rohwedders Tod. Kam in den Vorstand. Energie, Bergbau und Chemie. Der war verantwortlich für uns. Für Bischofferode.
SOHN Im August 91 bewilligt er ganze 341 Millionen für die Sanierung der Mitteldeutschen Kali AG. Als Vorbereitung für einen möglichen Verkauf. Allein 30 Millionen fließen, um die Salzfracht in der Werra zu vermindern.
SCHUCHT Der Verkauf des Kalis im Osten ist die schärfste Drohung, die ich überhaupt anbringen kann. Davor hat BASF nun wirklich Angst, denn ein mutmaßlicher Käufer könnte ohne Rücksicht auf die Belange der BASF versuchen, den Markt zu durchdringen und würde damit erreichen, daß die Verluste bei Kali und Salz ins Unendliche stiegen.2
SOHN Das Kartellamt hat von Anfang an Bedenken, setzt Schucht im Juni 91 sogar eine Frist. Zu Hause sitzt Mutti fast ein Jahr über Stellenanzeigen. Sie bringt mich zum Arzttermin, geht zu Elternabenden. Sie unterschreibt die Zettel fürs Ferienlager. Sie geht in die Stadt, um kurze Hosen, Socken für mich zu kaufen. Überhaupt ist sie in dieser Zeit an allen Orten gleichzeitig. Mutti im Garten. Mutti beim Einkauf. Müll rausbringen. Mutti kocht. Näht. Schmiert. Bügelt. Und immer abends über den Zeitungen. Den Anzeigen.
VATER Vati beim Betriebsrat. Vati beim Grubenbetriebsleiter.
SOHN Vati geht. Vati schläft.
VATER Vati redet von sozialverträglichen Entlassungen. Von 187 Millionen Tonnen Kali, die noch im Berg stecken.
SOHN Von den 20 Millionen D-Mark, die Bischofferode jährlich Miese macht, spricht er bis heute nicht. Oder davon, wie unrentabel das Werk vor 89 gearbeitet hat.
VATER Vati redet davon, wie wir das Werk rentabler machen.
SOHN Und redet von nichts anderem.
SCHUCHT Wolf von BASF kommt mit dem Vorschlag, nun doch eine gemeinsame Gesellschaft zu gründen, nämlich aus Kali und Salz die Kali und Salz-Aktivitäten auszugründen und diese mit unseren Aktivitäten zu fusionieren. Er rechnet uns vor, daß im Falle des Alleinbetriebs wir 2,3 Mrd. DM ausgeben müßten und wir hier mit etwa 1,4 Mrd. DM sehr viel billiger wegkämen. Die Rechnung wird in dieser Höhe nicht ganz richtig sein, aber in der Tendenz ist sie stimmend.2
SOHN In der Schule halten die Erwachsenen nicht mehr Schritt mit der neuen Zeit. Frau Gutsche ist nach einem viermonatigen Kurs plötzlich Englischlehrerin. Herr Kausig rast durch den Stoff, gehetzt vom Westplan durch die frischen Bücher. Frau Dahms kann sich das Schlüsselwerfen einfach nicht abgewöhnen. Herr Küchel das Auf-den-Tisch-Schlagen mit dem Tafellineal. Von einem Tag auf den nächsten fehlen zwei Lehrerinnen. Auf dem Schulhof ein neues Wort: Stasi. Wir selbst wissen nicht, was wir dürfen, und halten meist still.
VATER Hab ich gar nicht mitbekommen. Damals. Hab ich wohl keinen Kopf gehabt. Dafür.
SOHN Du hattest Müntzer.
VATER Und du deine Schule.
SOHN Ich war neun.
VATER Im Werk rede ich mit den Kumpeln.
SOHN Zu Hause sprichst du nicht.
VATER Bin immer erschöpft. Die Tage waren lang damals. Ich hab das noch im Fleisch. Die Lücken, wo die Kraft saß, die ich gelassen hab.
SOHN Immer müde. Oder weg.
VATER So wollten wir das nicht. Das neue Land.
SOHN So ist der aber. Der Kapitalismus.
VATER Sagte der Sohn, dem es an nichts fehlte. Der sich entscheiden konnte, was aus ihm wird. Der mit all dem groß wurde, was für uns neu war.
SOHN Ich will wissen, wie es war.
VATER Du willst nix wissen. Du willst mir ans Bein pissen.
SOHN Ich will mit dir reden.
VATER Du hast auch nie was gefragt.
SOHN Nein.
VATER Und jetzt stehst du hier. Im Papierberg. Zwischen den Ordnern, den Fotos und Heftern. Sprichst mit dir selbst. Und ich sag nichts und lieg blöd rum. Ein paar Kilometer weiter. In meinem Krankenhausbett.
SOHN Und da wirst du gesund.
VATER Werd ich wohl.
SOHN Und kommst zurück in dein Haus.
VATER Ja.
SOHN Und gräbst im Garten. Und sitzt wieder auf deiner Bank und rauchst. Und trinkst deinen Tee. Und sagst nichts.
VATER Wir hätten es geschafft.
SOHN Wir hätten es geschafft.
VATER Ja.
SOHN Das hab ich so oft gehört. Von dir. Wir hätten es geschafft. Wenn du im Garten saßt. Blick auf die rote Halde. Oder im Auto. Wenn wir Mutti abholen waren. Vom Baumarkt. Der schöne neue Arbeitsplatz, auf den sich Mamas Unzufriedenheit der kommenden 29 Jahre richten wird. Wir hätten es geschafft. Wir hätten es geschafft.
VATER Hätten wir.
SOHN Habt ihr aber nicht. Ihr habt es nicht geschafft. Ihr hattet keine Chance. Von Anfang an nicht. Frag den doch mal. Den Herrn Schucht. Wo ist der denn? Der ist doch hier rumgelaufen wie ein kleiner König. Ihr habt gekämpft und verloren. Habt Abfindungen bekommen, von denen andere nur träumen konnten. Und eure Auffanggesellschaft. Und all die Jahre Löhne, von denen ihr euch die Häuser gebaut habt, in denen ihr jetzt hockt. Ihr und eure Privilegien, von denen ihr nichts hören wollt. Frag mal Mutti. Wie das war als gelernte Erzieherin an der Baumarktkasse. Frag nach ihren Freundinnen. Die standen alle zuerst auf der Straße. Die mussten sich umsehen, da wollten du und deine Kumpel noch ins Süd-West-Feld vordringen. Die haben auch gekämpft. Die haben sich das auch alles anders vorgestellt. Aber das, was in den Köpfen bleibt, sind die heldenhaften Kalikumpel. Ihr ward nur ein Beispiel. Und kein gutes, wenn du mich fragst. Ihr ward nicht überall. Ihr ward nur hier. Nur hier für euch.
VATER Und das ist der Grund?
SOHN Was?
VATER Deswegen kommst du hier runter? In meinen Berg?
SOHN In deinen Berg.
VATER Das ist. Ist mein Berg.
SOHN Du hast mir überhaupt nicht zugehört.
Stille.
VATER Hab schon gehört. Was du gesagt hast. Hab ich.
Stille.
SOHN Ich soll dich von Mutti grüßen. Übrigens.
VATER Kommt ihr morgen? Mich besuchen?
SOHN Ja.
VATER Bitte keine Blumen mitbringen. Ich krieg nichts mit, aber das macht mich rasend.
SOHN Keine Blumen.
VATER Das bringt mich um.
SOHN Nicht sehr witzig, Vati.
VATER Ein bisschen schon.
SOHN Wo willst du denn jetzt schon wieder hin?
VATER Schritt halten. Mit der Zeit.
SOHN Jetzt warte doch mal.
SCHUCHT Flug nach Frankfurt und Fahrt nach Ludwigshafen. In Ludwigshafen erwarten mich Wolf und Werner von BASF. (…) Sympathisch die beiden, aber hart, wie der ganze Stil der BASF. Wir sprechen das Kaliproblem durch und beschließen, die Dinge zu beschleunigen, den Kleinkram bei der Erstellung des Datenwerks zu vermeiden, mehr auf die großen Linien zu achten, also zum Beispiel nicht über die Geschäftsaussichten jedes einzelnen Produkts im Jahr 2010 zu räsonieren oder den Dollarkurs von 1997 vorzufinden.2
VATER Das mit Müntzer.
SOHN Ja?
VATER War Quatsch. Dass die das Werk so genannt hatten. Die roten Meister. Die Alten. Als ob das was mit uns zu tun gehabt hätte. Oder mit dem Land. Der alte Mist. Die Bauernkriege. Als ob das genügt. Zu sagen. Das war einer von uns. Der war, wie wir sind. Ausgerechnet.
SOHN Was ausgerechnet?
VATER Ein Protestant.

15
SCHUCHT Gleich kommen Wolf und Bethke. Achleitner und ich werden mit den beiden den Knoten Mitteldeutsche Kali / Kali & Salz durchschlagen. Die Verträge sind soweit vorbereitet.2
SOHN Können Sie nicht damit aufhören?
SCHUCHT Womit?
SOHN Mir nachzulaufen.
SCHUCHT Sie gefallen mir, junger Mann. Ich möchte, dass Sie meine Arbeit kennenlernen. Was haben Sie da?
SOHN Die Akten. Papiere. Mein Vater hat alles gesammelt.
SCHUCHT Bergmann?
SOHN Bischofferode.
SCHUCHT Oh.
SOHN Etwa zur gleichen Zeit, Mitte 1992, benötigt Bischofferode erneut Investitionen, um neue Vorkommen im Süd-West-Feld zu erschließen. Die MDK mit Hauptsitz in Sondershausen aber mauert und fordert den sofortigen Stopp ­aller Aktivitäten.
SCHUCHT Mit Frau Breuel ist abgestimmt, daß wir natürlich nicht voll den Forderungen der BASF entsprechen können, uns aber auch nicht lange bei Kostenberechnungen und Verhandlungen aufhalten. Zur Hälfte bleibt uns das Unternehmen erhalten, das heißt, alles, was über eine bestimmte an sich gerecht­fertigte Summe hinausgeht, bleibt zur Hälfte Kapital der Treuhandanstalt. Im übrigen ist die Kaliindustrie notleidend.2
SOHN 1992 steigt die Arbeitslosenquote in Nordthüringen auf rund 24 %. Im Dezember ­desselben Jahres steht der Kali-Fusionsvertrag. Die Treuhandanstalt überweist mehr als eine Milliarde D-Mark als Bareinlage für die bevorstehende ­Fusion. Zusätzlich dazu übernimmt der Staat ­einen beachtlichen Teil möglicher aufkommender Schulden in den ersten drei Jahren nach der ­Fusion. 80 bis 90 %. Schätzungen gehen davon aus, dass dadurch noch einmal fast zwei Milliarden D-Mark geflossen sind.
SCHUCHT In der Vorstandssitzung geht MDK reibungslos durch.2
SOHN In Artikel 20 des Fusionsvertrages wird ein Wettbewerbsverbot vereinbart. Niemand außer das neue Gemeinschaftsunternehmen darf in Deutschland Kali- oder Steinsalz fördern. Die Treuhand will die MDK unter allen Umständen verkaufen. Und BASF weiß das. Für den Chemiekonzern mit Sitz in Ludwigshafen ist es ein Geschäft, bei dem das Risiko maximal minimiert wurde.
SCHUCHT Wie das klingt. So kalt.
SOHN Als hätte es wirklich eine Chance gegeben. Für den Thomas-Müntzer- Schacht. Als hätte diese Sauerei der Fusion erst zum Untergang geführt. Als wäre nicht alles, was auf den Sommer 90 folgte, auf die Wirtschafts- und Währungsreform, dieser ganze verdammte Mist, als wäre nicht alles, was danach geschah, in seiner Abfolge von tiefster, marktliberaler Logik geprägt.
SCHUCHT Heute höre ich in Berlin von Frau Westermann, aber auch von Wolf, daß die Mittagsschicht in Bischofferode nicht anfahren will. Sie will erzwingen, daß wir Verhandlungen mit Herrn Peine führen, und zwar sofort, damit die Grube verkauft und auf diese Weise erhalten werden kann. Dies ist natürlich völliger Unfug, denn selbst wenn es Herrn Peine gelänge, das Bergwerk zu führen und die Kali-Produktion abzusetzen, so dann nur mit erheblichen Unter­stützungen des Landes Thüringen. Diese öffentlichen Gelder würden benützt, um im Wettbewerb den Kali-Preis zu senken, was wiederum zu Verlusten in unserem fusionierten Kali & Salz-MDK-Unternehmen führen müßte, die die öffentliche Hand, nämlich die THA ausgleichen würde über den Mechanismus des Verlustausgleichs (…). Ein Irrsinn, der auf alle Fälle verhindert werden muß. Nur deswegen heikel, weil ­dieser Herr Peine und die Landesregierung kühn die Behauptung aufstellen, sie wollten und könnten die Arbeitsplätze retten.2
SOHN Artikel 20 des Fusionsvertrages verhinderte schlussendlich einen eigenständigen Verkauf des Thomas-Müntzer-Schachts in Bischofferode außerhalb der großen Fusion.
SCHUCHT Warum schauen Sie denn so?
SOHN Mein Vater liegt dort drüben. Wollen Sie den mal sehen? In seinem ewigen Krankenbett. Und sehen Sie? Dort ist er noch einmal. Unten im Berg. Wie er da herumläuft. Immer hin und her im Grubenfeld.
SCHUCHT Und ach. Dort. Der Kohl. Mit Ei am Kopf. Wie schön.
SOHN Mai 91.
SCHUCHT Am Abend dann die Unterredung mit Peine. Die beiden Herren und mehrere Mitarbeiter waren zu uns gekommen. Sie möchten das Kalibergwerk Bischofferode kaufen. Ein Unding. (…) In dem langen Gespräch haben wir versucht klar zu machen, daß wir hier nicht verkaufen, sondern fusionieren (…) und daß der Weiterbetrieb von Bischofferode auch unter der Führung von Peine nur dann möglich sei, wenn Peine einen eigenen Markt mitbrächte, denn sonst würde das Problem Stilllegung von Bischofferode auf ein x-beliebiges anderes Bergwerk verlagert. (…) Ich erwähne auch, daß wir die Stilllegung eigentlich schon hätten im vorigen Jahr hätten durchführen müssen aufgrund einer Empfehlung des Leitungsausschusses aus September 1991. (…) 6.30 Uhr Abfahrt nach Erfurt, wo ich gleich morgens mit Ministerpräsident Vogel um 10.00 Uhr verabredet bin. Vogel ist ein sehr entgegenkommender, jovialer, angenehmer Mann, der sich nur mehr und besser gegen seine jugendlichen Kabinettsmitglieder durchsetzen müßte. (…) Ich schildere Vogel dann die unmögliche Lage, die entstehen würde, wenn das Land Thüringen 20 Mio DM Subventionen je Jahr zahlen müßte. Dies sind nämlich die Verluste, die das Bergwerk macht (…). Dreistündige Diskussion mit den Betriebsräten von Bischofferode. Völlig vergiftetes Klima. Der Landrat dabei, der Bürgermeister. (…) Die THA ist umstellt. Eier fliegen en masse. (…) Eine einzige Katastrophe. Bisher ist noch nie so aggressiv vor der THA demonstriert worden. Und dies ist (außer der PDS) – die katholische Bevölkerung aus dem Eichsfeld! (…) Ich mache einen etwas polemischen Vorstoß in Fragen Bonität (…), betone, daß die THA mit P­eine dieses Geschäft unter keinen Umständen mache, von dem sie heute schon sehen könne, daß es nicht gutgehen würde (…). Man würde danach fragen, ob wir die Bonität sorgfältig geprüft hätten. Dies hätte ich getan, gebe auch an, daß nach SCHUFA Peine eine persönliche Kreditlinie von 100.000 DM und nicht mehr hat.2
SOHN Der Grubenbetriebsführer von Bischoffe­rode Henkel fährt im Dezember 92 zum Hauptsitz der MDK nach Sondershausen, wo der Vorstand das Konzept der Fusion vorstellt. Wenn das Werk Bischofferode im kommenden Jahr nicht deutlich bessere Zahlen schreibt, wird es am Jahresende geschlossen. Aber die anhaltende Krise auf dem Kalimarkt bedeutet, dass bessere Zahlen schlicht und einfach nicht in Sicht sind. Zudem beliefert Bischofferode die französische EMC und finnische Kemira Oyj, zwei direkte Konkurrenten von BASF auf dem Kaliumsulfatmarkt, mit qualitativ hochwertigem K60 / K61 aus dem Eichsfeld. Sollte ­Bischofferode geschlossen werden, müssten die beiden Unternehmen auf Kali vom russischen ­Produzenten Uralkali zurückgreifen. Die dort bestehenden Exportbeschränkungen würden die beiden Konkurrenten der BASF deutlich schwächen. Die bevorstehende Schließung des Thomas-Müntzer-Werkes in Bischofferode ist nichts anderes als eine Marktbereinigung. Und die Treuhandanstalt? Die sieht, wie mir scheint, in der Fusion die einzig verbliebene Chance, die deutsche Kaliindustrie langfristig von jahrelangen staatlichen Subven­tionen zu entkoppeln. Stört Sie das nicht?
SCHUCHT Was?
SOHN Dass Sie hier herumlaufen müssen. Ständig. Und reden. Und alles anfassen. Das Pano­rama. Die Bauern. Die Bergleute, mit denen Sie sich immerzu sehen lassen wollen.
SCHUCHT Sie gefallen mir, junger Mann.
SOHN Haben Sie schon gesagt.
SCHUCHT Sie haben alles gelesen. Meine Dienst­tagebücher. Über meinen mühseligen Auftrag, den ich für dieses Land erduldet, gesucht und erfüllt habe.
SOHN Ich habe. Nicht alles gelesen.
SCHUCHT Nicht?
SOHN Ich hatte die Zeit nicht.
SCHUCHT Das sollten Sie ändern.
SOHN Leben Sie hier?
SCHUCHT Mein junger Freund, ich lebe überhaupt nicht mehr.
SOHN Ich meine. Hier. Ob Sie jetzt hier zu finden sind. Im Panorama?
SCHUCHT Natürlich.
SOHN Im April 93 werden die letzten Details des Vertrages geklärt. Verhandelt wird bereits ohne die MDK. Die Übernahme wird beschlossen. Bischofferode soll Ende des Jahres geschlossen werden. Am 7. April besetzen Kumpel das Werk.
SCHUCHT Es fehlt offensichtlich völlig an der Einsicht ins Unvermeidliche. Gegen den Beschluss des Verwaltungsrates hilft auch kein Eierwerfen. Wir denken gar nicht daran, uns von diesen Dingen beeindrucken zu lassen.2

16
MUTTER Ich dachte, du schläfst.
SOHN Ich bin noch nicht durch. Es ist so viel.
MUTTER Ich frag mich. Seit du hier bist. Seit du dich in diesem Zimmer verkrochen hast. Und das Licht nicht mehr ausgeht. Obwohl es doch Nacht ist. Längst. Und ich das Rascheln hör. Hinter der Zimmertür. Und deine Stimme. Das Flüstern. Brabbeln. Ich frag mich, was du willst. Was du da suchst. Im Papier.
SOHN Ich frag mich, ob er recht hatte. Vati. Ob sie es geschafft hätten. Mit Peine. Allein. Gegen den fusionierten Großkonzern.
MUTTER Weiß man nicht.
SOHN Nein.
MUTTER Kann man nie.
Stille.
MUTTER Da beißt die Maus keinen Faden ab.
SOHN Nein.
Stille.
MUTTER Da gehts den Menschen wie den Leuten.
Stille.
MUTTER Und so weiter.
SOHN Und so weiter.
MUTTER Ja.
Stille.
MUTTER Ich bin schon wach, weißt du? Bin draußen im Garten. Vorm Haus. Ich steh so früh auf. Immer. Seit Vati. Na ja. Wenn du mich suchst. Wenn du Lust hast. Auf ein bisschen Schweigen. Und Kaffee.
SOHN Ja. Gleich. Bald. Vielleicht.
MUTTER Ist gut.
SOHN Ja.
MUTTER Also.

17
im Land der
Tochtergesellschaften und Verbraucher
der Auszug der Musen
durch die Jahre hinweg
durch einen Umbruch hindurch das
Ausbluten der Ideen
Adam auf dem Feld
Knochen und Schädel aussäend
Eva mit
der Peitsche hinter ihm
zwischen entleerten Plattenbauten
auf das sie fruchtbar werde
die Ernte oder

„lasset uns die Hand drauf geben dass es die unsere sei“12

TREUHANDMITARBEITER
Und da gibt es Regeln, Buch, wir haben sowieso so ein Handbuch für Privatisierung, so ein Handbuch für Organisation, was kein Aas liest, lesen kann und sich auch nicht dran halten kann (…) Ich wette, in meinem Direktorat inklusive mir, hat kein Mensch diesen Verwaltungsordner oder diese mehreren oder überhaupt nur im Ansatz studiert. Meine Sekretärin kennt ein paar Sachen, aber das war es auch.6

in Berlin wird
die Treuhand erwachsen
Pickel und Richtlinien
Privatisierung über allem über
allem in der Welt
für alles jetzt Formulare
Schucht
längst an Bord und stets
in meiner Nähe während
er tote Rohwedder im zugigen Treppenhaus
noch immer
die Osterpredigt vom
letzten Jahr verteilt

„Die Entscheidung für
die deutsche Einheit war zugleich
eine Entscheidung für
die soziale Marktwirtschaft
in ganz Deutschland.“13

TREUHANDMITARBEITER
Und dass nun so viele Dinge zusammengefallen sind, die Sache mit dem Ostmarkt und die Krise nun auch noch dazu. Wer ein bisschen Einblick hat, der merkt, „Ja verdammt verständlich ist es, dass sie alle auf die Treuhand schimpfen, aber andererseits treffen sie damit nicht den Richtigen“. Ich will nicht sagen, dass wir uns damit beruhigen, aber im Grunde genommen ist das für jeden auch eben eine innere Bestätigung zu sagen, „Also es ist trotzdem nicht falsch, was wir machen, es ist der einzige Weg, es gibt nichts anderes.“6

ein anderer TREUHANDMITARBEITER
Ich meine, wir haben ja alle nicht zu verantworten, dass hier so ein System geherrscht hat, insoweit kann man sich da auch etwas leichter tun, und die Menschen, die hier gelebt haben, hatten das auch nicht zu verantworten, dass sie in diesem System großgeworden sind und mitmachen mussten, leben mussten. Also das kann man ganz ohne bad feelings angehen …6

93
ein Land biegt ein
in einen langen Sommer
auf
der Aktionärsversammlung der
Kali und Salz AG Kassel
wird die Fusion
gebilligt
das Aus für Bischofferode

Johannes Peine will zugreifen kaufen investieren
der westfälische Mittelständler
den die Treuhand abwatschen muss damit
der Deal über die Bühne gehen kann
wie er geplant ist
der Baum
den Peine ausreißen will ein
trockenes Ding halb
absterbend
halb aufblühend unter seinen Händen
wer weiß das schon
bleibt fest in der Erde
im Graben vor dem Felsen
wo man ihm eine blaue Schleife
um den Hals gebunden hat
hinter ihm die versammelte Belegschaft
oder
das
was nach drei Jahren noch
davon übrig geblieben ist
es sieht
nicht gut aus für
die Kumpel
aber die
wollen nicht aufgeben

18
HÄBERIN mir platzt der Arsch von dieser Sitzerei
RENATE sei still ich hab an dieser Luft genug so heiß und voller Diesel tief im Berg
BIRGITT wenn wir den Männern helfen können so mach ich was man mir abverlangt ich sitz mir meinen fetten Arsch so flach wie der seit zwanzig Jahren nicht mehr war wenns muss besetz die Tiefe ich ein Leben lang
RENATE du hast Reserven Birgitt mehr als ich
HÄBERIN weil du nur Blätter frisst und Stängel Kind seit du zu Hause sitzt und Arbeit suchst wos keine gibt mehr weit und breit
RENATE sei still
BIRGITT sie hat ja recht die Kinder fahren schon zur Arbeit rüber schlafen nur noch hier
HÄBERIN ich bin zu alt für einen Neuanfang
die Füße tun mir weh ich latsche rum
den ganzen Tag und stell das Fressen auf
den Tisch für Mann und Brut das Geld ist knapp
das Haus zahlt sich allein nicht ab mein Mann
der säuft wenn er nicht hungern muss ich putz
das Klo ich mach Kaffee und Fleischsalat
mich fragt kein Schwein wann ich das letzte Mal
zur Arbeit bin die Beine fett das kriegt
mit Fußbad man am Abend nicht mehr dünn
das brennt und sticht mir durch die dünne Haut
das ewige Gelatsche Schufterei
wenn ich noch eine Arbeit hätt wenn ich
was wäre noch ein bisschen mehr als ich
die für die Kinder nur noch lebt und für
den Mann und sein Geheul bring mich zurück
ins Schlachthaus wo ich meine Arbeit hatt
gib mir zurück das Messer in die Hand
RENATE wünscht doch die Zeit zurück der Mann erfüllt
beim Saufen nur den Plan wisst ihr wies war
im Berg Maschinen aus der Kaiserzeit
und Selbstkritik wenn man das Maul nicht hält
drei Mann für das was drüben einer schafft
BIRGITT deswegen hast du demonstriert nicht wahr
mit Mann und Maus und Koffer in der Hand
für Einheit und für Marktwirtschaft jetzt schau
jetzt hast du was du wolltest hier jetzt kehrt
die Marktwirtschaft uns die Betriebe aus
und besenrein wird was nicht Geld abwirft
RENATE ich habe meine Arbeit auch verlorn
HÄBERIN wie Erwin wisst ihr noch der Saufkumpan
von meinem Mann der hing im Baum so schön
im letzten Mai ein Zettel in der Hand
ich dank dir Helmut Kohl die Frau zu Haus
im Bett und auch das Kind fein zugedeckt
drei Späne wenn gehobelt wird ich scheiß
mit Anlauf auf die alten Hoffnungen
RENATE wenn die Fusion heut durchgewunken wird
gibts Tote oben sag ich euch mein Mann
der hungert sich die Seele klein und schwarz
den krieg ich nicht mehr auf die Beine so
BIRGITT wart ab noch gibt es keine Meldungen
HÄBERIN seit die dort oben hungern fresse ich den Anteil meines Mannes mit mich kriegt
kein Schwein mehr aus dem Berg ich bleibe hier mehr als nen halben Kilometer tief BIRGITT das hast du schön gesagt mein Zuckerfratz
HÄBERIN nicht wahr
RENATE bei dieser Hitze schwitzt man Fett
BIRGITT da kannst du endlich fressen was du willst
RENATE das liegt bei mir nur am Verdauungstrakt der macht noch Klassenkampf das Westprodukt rutscht durch bei mir ich scheiße Mon Chéri
BIRGITT jetzt weiß ich endlich auch warum dein Mann
an deinem dünnen Arsch klebt immerzu
HÄBERIN Renate Kind nimms nicht zu Herzen dir
die Tiefe macht dass wir so blöde tun
und dass man umschult uns von Zeit zu Zeit
wir können nichts die Arbeit ist vorbei
das macht das Herz gar und die Finger krumm
da sind die Männer viel romantischer
die kämpfen erst dann hängen sie im Baum
nd baumeln blöd im Wind wir klagen nicht
wir hängen Wäsche auf und irgendwann
sind auch die Kinder aus dem Haus der Mann
der findet irgendwann ein Hobby bis
wir sterben
BIRGITT das hast du wieder schön gesagt
HÄBERIN hab Dank
RENATE wir sterben doch schon immerzu
und überschminken uns das Wachsgesicht
die Kinder glotzen mitleidig uns an
und schweigen nur wenn man nichts fragt wisst
ihr manchmal da träum ich von nem Arbeitsplatz
und schäm mich früh wenn ich das Frühstück mach der Spitzner unser alter Sekretär
der hat sich nur für kurze Zeit geschämt
erst Planwirtschaft dann plötzlich Demokrat
hält Reden jetzt und spricht von Arbeitskampf
BIRGITT der hält zu uns was keiner tut
RENATE der hat uns diesen ganzen Mist doch eingebrockt
jetzt spenden wir dem freiwillig Applaus
HÄBERIN so viel Moral passt momentan nicht mehr
in meinen Tagesablauf rein in dem
die tote Arbeit residiert mir ist
egal wer für uns spricht
RENATE seid doch mal still
BIRGITT das Telefon
RENATE nimm du ab
BIRGITT nein
RENATE dann du
HÄBERIN ich höre gibts was Neues schon bei euch verstehe ja ist gut ich habs kapiert
bin ja nicht dumm in meinem Kopf nicht taub
Stille.
HÄBERIN es ist vorbei bis Jahresende noch
dann kann verrotten selig was hier ist
ich hab gewusst das es so kommen wird
BIRGITT ich auch
RENATE ich nicht
BIRGITT du auch
HÄBERIN im Ernst es war
mir eine Ehre wehrte Damenschaft
gemacht ist der Vertrag mit Unterschrift
gebilligt auch vom Ministerium
wir fahren aus und gehen heim wenn wir
verschämt einander wiedersehen bald
uns wortkarg kalt beäugen und verschreckt
den Niedergang den eigenen mit dem
der anderen vergleichen nehmt krumm nichts
nehmt nichts an verhärtet nur die andren
sind es längst

19
während der neuen Schwurgemeinschaft
das Land unter dem Arsch ein
neues geworden ist
während der Betriebsrat nach Warburg fährt wo der Unternehmer Peine seinen Sitz hat dort
wo die letzte Hoffnung wohnt wo
man sich umhört vor
Ort in der
Bäckerei auf
der Straße neben der
Tankstelle während
in Kassel der
Fusionsvertrag im Geheimen unterschrieben wird während der Treuhandausschuss des
Bundestages der Fusion schlussendlich zustimmt
während das alles immer wieder immer wieder immer und immer
übers Panorama huscht und
zieht und
treibt
während mir Schucht bei allem zusieht mir
auf jeden Schritt folgt jedes
Kratzen am Ohr jedes Schlucken jede
unwesentliche Bewegung
steht mein Vater wieder in
der alten Winterlandschaft winkt
mir zu mit Mütze und Fäustlingen
im Kofferraum der letzte Wochenendeinkauf
eingepackte Mortadella Maggie und
Cornflakes schauen mich an aus
der Klappbox wo es doch jetzt eigentlich
ans Hungern geht zusammen
mit den Kumpeln
wo die Frauen den Schacht besetzen
und die Liegen ausgeklappt werden
in der alten Kantine träumen schon die Ersten
von Bockwurst und Kalbsbraten in
der stickigen Luft des Hochsommers

ein Rest Branntwein im Kopf längst
Morgen im Haus hinter der Halde
und blasses Blau
Mutter wühlt erst in den Beeten dann
in der Küche
während ich am offenen Fenster rauche
auf dem Boden hinter mir ein
halbes Leben aus Papier
in meiner Hand ein Foto
der rote Abraum im Abendsonnenlicht
mein Vater davor in
seiner Bergmannstracht es muss
heiß gewesen sein an
diesem Tag die Stirn nass sein Haar
längst grau Jahre
nach seiner letzten Einfahrt
sein Blick wie immer wenn
er fotografiert wurde
kindlich unbeholfen

20
MÜNTZER Bockwurst. Mit ordentlich Senf. Oder Kalbsbraten. Schnitte mit Käse. Eiersalat. Tote Oma meinetwegen. Mit Kartoffeln und Sauerkraut. Saure Gurken. Ich Thomas Müntzer von Stollberg …1 Oder Zupfkuchen. Salamipizza. Mayo. Einfach so. So weit bin ich. Semmel jedenfalls mit Schinken. Semmelknödel böhmische Art. Roster. Ja. Roster ist gut. Laßt euch nicht erschrecken das schwache Fleisch und greift die Feinde kühnlich an …1 Ragufeng, wenns sein muss. Kirschen. Eingelegt. Zur Mittagszeit. Oder Butter. Da. Einfach aus der Verpackung falten. Reinbeißen. Oder mit der Zunge drüber. Frisches Brot. Immer wieder. Aber auch Schweinekotelette. Schweinmedaillons. Rohes Schweinehack. Nach dem ersten Erwachen. Ihr dürft das Geschütz nicht fürchten, denn ihr sollt sehen, daß ich alle Büchsensteine in den Ärmel fassen will, die sie gegen uns schießen …1 Spiegelei. Angebratene Zwiebeln. Mit Champignons. Pfifferlinge mit Majoran. Ja. Knoblauch. Gebraten in Butter. Pommes. Pommes. Die Kinder wollen immer nur Pommes essen, seit es Pommes gibt. Pommes jedenfalls auch. Auch schon am Vormittag. Ja, ihr seht, daß Gott auf unserer Seite ist, denn er gibt uns jetzt ein Zeichen …1 Senfei. Soljanka. Irgendwas im Schlafrock. Irgendeinen Mist in irgendeinem andern. Oder Broiler vielleicht. Dass die Finger glänzen. Aber selten. Auch Biersuppe. Oder wieder und wieder und wieder eine Roster. Frisch. Der heiße Saft spritzt, dass die Kohle zischt. Oder roh aus dem Darm gepresst. Mit Senf in jedem Fall. Auf die Faust. Zwei Stück. Oder kalt. Am Tag danach.
Stille.
Und Kalter Hund. Kalbsgeschnetzeltes. Königsberger. Lang nicht mehr. Oder Frikassee. Frikadellen … seht ihr nicht den Regenbogen am Himmel? der bedeutet, daß Gott uns, die wir den Regenbogen im Panier führen, helfen will, und dräut den mörderischen Fürsten Gericht und Strafe …1 Oder einfach Roster. Mit der nassen Hand vom Grill greifen. Senf nachschieben. Mit dem Finger aus dem Glas. Und tief rein. Ganz tief. In den Mund. Dass sich mir alles, alles dreht. Vor lauter lauwarmem Tee. Und neben mir die tranigen Kumpel. Wie sie die Beiträge ­lesen. Über uns. In den Zeitungen. Sendungen. Germans Occupying Mine They Seek To Save.14 Hühnersuppe vielleicht. Einen Löffel. Oder ein zaghafter Biss in den kümmerlich abgebrochenen Rest einer vertrockneten Salzstange. Der Schluck aus dem Wasserglas. Metall auf der Zunge. Es wird kein Bedenken oder Spiegelfechten helfen. Die Wahrheit muss hervor. Die Leute sind hungrig, sie müssen und wollen essen.15 Matjes. Beim Dösen am Nachmittag. Immer auch grobe Hausmacherleberwurst. Blutwurst. Natürlich. Und Rehrücken. Wenn ich mich einsam fühle. Oder die Frau vorbeischaut.

21
SOHN Hier bist du. Hier oben.
VATER Jetzt haben sie den alten Förderturm gelegt.
SOHN Schon lang.
VATER Und ein Museum gemacht. Aus der alten Betriebsambulanz.
SOHN Ja.
VATER Wenn ich noch mal so hungrig sein könnte. So. So wie damals. Wenn es noch was gäbe. Nicht nur die Fotos, auf denen ich an Kalbsbraten denke.
SOHN Wo willst du denn hin?
VATER Zurück.
SOHN In deinen Berg.
VATER Natürlich.
SOHN Wenn alles gebrannt hätte. Damals. Wenn der übergesprungen wäre. Der Funke. Wenn das wirklich überall gewesen wär. Euer Bischofferode. Überall die Haufen. Plötzlich. In der ostdeutschen Landschaft. Besetzte Werke. Gegen die Laufrichtung der Ereignisse.
VATER Dann hätten wir es geschafft.
SOHN Dann vielleicht.
VATER Warum guckst du so?
SOHN Ihr allein gegen alle. Die Treuhand. Die IG Bergbau. Ihr gegen die Kali und Salz AG Kassel. Die MDK. BASF. In guten Zeiten. Da ward ihr Bischofferode. Ganz allein. Mit guten Aussichten und guten Geschäftskontakten. Vorkommen für Jahrzehnte. 1993 muss Bischofferode schon überall sein. Muss die verteilt sein. Eure Last. Die doch alle treffen muss, die auch schon einmal etwas getroffen hat. In Wolfen. Oder Wittenberge. In Eisenach. Warnemünde. In Schwedt. Oder Magdeburg. Aber das Geld teilt. Und herrscht. Und teilt immer weiter. Quer durch die ostdeutschen Gefilde. Stück für Stück. Ganz ohne Flächenbrand.
VATER So einfach ist es nicht.
SOHN Nein?
VATER Ich war Mitte 30. Ich wollte noch was. Vom Leben. Mit Mutti. Und dir. Und ich wollte Bergmann bleiben. Wollte den Schmutz, den Lärm. Die Dunkelheit. Und das verdiente Geld. Und du?
SOHN Ich?
VATER Willst deinen Job in der Agentur. Deinen Urlaub mit der Familie. Das Geld, das dir zusteht für deine Mühen im Büro. Und nichts rast. Nichts fährt heute durch die Pläne von gestern. Weißt du. Ich hab einfach versucht, nicht umzufallen. Ich hab versucht, da durchzukommen. Durch die ­komische Zeit.
SOHN Das hast du doch geschafft.
VATER Ja?
SOHN Auch ohne den Schacht. Ohne Müntzer.
VATER Ja?
SOHN Hast du.
VATER Ja?
Stille.
VATER Ja?
Stille.
MUTTER Und jetzt? Willst du dich einfach davonmachen?
VATER Du hier?
MUTTER Fällst einfach die Treppe runter. Wo ich doch extra Kotelette gemacht hab. Für dich. Und Erbsen. Lässt mich allein im Haus. Das ist plötzlich so groß. Und du sagst nichts. Obwohl ich dich schüttle. Obwohl ich dich anschreie. Und dann der ganze Salat. Der Krankenwagen. Die ­Sanitäter, die ins Haus latschen. Weil das, was sie sehen, das ist, was sie jeden Tag sehen. Aber für mich ist das neu. Und du regst dich nicht. Und ich höre, wie die Sanitäter miteinander reden. Ganz ruhig. Und dann steh ich an der Tür. Und dann mach ich die zu und schau durch das kleine Fenster auf die Straße, wo sie dich in den Wagen schieben. Und dann ist es still. Und das Krankenhaus. Das ist so weit weg. Jedenfalls. Ich hab dir Blumen mitgebracht.
VATER Oh.
MUTTER Und ich weiß gar nicht, ob ich die hierhin stellen darf. Und ich weiß nicht, ob ich die einfach nehmen kann. Deine Hand. Und. Wo bist du denn jetzt?
SOHN Mutti.
MUTTER Wo ist er denn hin? Der hat doch grade noch. Der hat doch gesprochen und erzählt. Von seiner ewigen Treuhand.
SOHN Der ist noch ein bisschen in seinem Berg.
MUTTER Ja.
Stille.
MUTTER Jedenfalls.
Stille.
MUTTER Du kannst ja noch bleiben.

22
du
kannst ja noch bleiben sprach
die Gans zum Fuchs im Baum
und grinste still
im Schlaf nichts dreht sich auch
nicht die Verhältnisse

die Kumpel hungern sich
die Hoffnung groß
wir fressen nur was
aus dem Westen kommt wir
waschen unsre Wäsche nicht
mit Spee wir kaufen Opel
und Rama und Kinderüberraschung

TREUHANDMITARBEITER
Denn Sie dürfen ja nicht vergessen, dass die Firmen, die wir jetzt noch haben, in der Regel natürlich auch die größten Probleme machen, also das kann man ja nicht anders sehen, denn sonst wären sie ja längst weg (…). Und wir müssen natürlich jetzt manchmal auch ein paar harte Entscheidungen treffen, denn es hat ja keinen Zweck, auch wenn Sozialisten so einen Blödsinn immer wieder behaupten, immer wieder Geld in so eine Firma reinzustecken, nur um angeblich Arbeitsplätze zu erhalten. Das bringt ja langfristig gesehen nun beweisbar nichts.6

Gysi im Eichsfeld
der Sozialist im katholischen Land
der Linke mit
Planwirtschaftshintergrund
wütend gegen die kapitalistischen Umtriebe
gibt er
den kleinen Mann volksnah
und verständig mit Kaffee
aus dem Plastikbecher und Kippe
vier Wochen Hungerstreik bereits
auf dem Werksgelände jeden Tag die
Aufnahmewagen von SAT1 ZDF RTL
man erwartet Berichtenswertes
im Schacht derweil
wachen die Frauen aus dem Faxgerät
des zerstrittenen Betriebsrates quillt
internationale Solidarität
Versuche in Zärtlichkeit
große Reden im grauen Wurstdunst der
über das Werksgelände zieht
fast Zehntausend sind gekommen
man pfeift auf Politik

noch ein TREUHANDMITARBEITER
Ich möchte so sagen, die soziale Marktwirtschaft und der Kapitalismus haben sich hier in Ostdeutschland nicht geschickt etabliert. Um nicht zu sagen, es war aus meiner Sicht ein Fehler – nicht sehr frühzeitig doch systematische Strukturpolitik anzusetzen, der Treuhand diese Aufgabe zu geben. (…) Es dem freien Spiel der Kräfte auszusetzen und darin die Lösung zu sehen, nur weil unser Wirtschaftssystem normalerweise so funktioniert, das konnte nicht gutgehen.6

weit unter dem Fußpunkt des Fallenden
dem ostdeutschen Ikarus
sitzen sie zusammen hinter der
Hecke am Brunnen
die Solidarischen
zu Lesung und Gesang zu
Rede und Gespräch
die ostdeutsche Intelligenz
Heym Plenzdorf als hätte man sie
ohne ihr Zutun dazugesetzt in
die Zusammenhänge die sich
nicht vergleichen lassen mit dem eigenen Schreiben ein
Pastor predigt etwas abseits
für die Grube man spricht von den
Puhdys die morgen kommen sollen
ein Ständchen für die Frauen
im Schacht der Abraum aber
mit jedem Hungertag ein wenig blasser schon

wieder ein anderer TREUHANDMITARBEITER
Die Treuhand ist politisch und organisatorisch ein auslaufendes Modell. Alle diskutieren nicht die Frage, wie kann die Treuhand besser arbeiten, so sondern (…), wie kann es nach der Treuhand mit den Dingen weitergehen, die übrig bleiben müssen, wenn das operative Geschäft beendet ist.6

die alten Kader kriegen
frischen Applaus zusammen mit
den Bergmännern fühlt man sich
betrogen es war
ein chancenarmes Spiel die
Straßen voll mit denen
die man nicht mehr braucht in
den Betrieben und Fabriken

wer hier bleibt ruft die Stimme Müntzers
heiser übers Panorama
an Kohl vorbei der immer noch
nach seinem Eierwerfer sucht
und seinem Wirtschaftswunder
wütend dabei
über den Platz vorm Stadthaus hetzend
wer hier bleibt ist am Arsch
die Mühen der Ebene wohin
der Blick fällt irgendwo
fällt
etwas
fällt der Blick zu Boden
fällt was und
fällt
und wir schauen zu
und erwarten den
Aufprall
und erwarten nichts anderes mehr von diesem letzten Tag im Jahr

23
auf dem Weg zum Krankenhaus
durch alten Schnee
schmutzig und fest an
den Straßenrändern eine
verlassene Gegend manchmal
wackelt hinter einem Fenster noch
eine Gardine eine Hand mit dem
Mietwagen durch die kleinen Ortschaften

SCHUCHT Am 31.12.1993 ist der Kompromiss in Bischofferode nun doch geglückt. Bayreuther hat sich mit seinem Plan durchgesetzt. Er hat jedem noch einmal eine Abfindung von 7500 DM über den Sozialplan hinaus angeboten und damit ist die Angelegenheit geregelt. Gott sei Dank, das Thema ist beendet.2
VATER Ist es das?
SCHUCHT (…) das Thema ist beendet.2
VATER Ist gut.
SCHUCHT (…) ist beendet.2
VATER Hab ich verstanden, Herr Schucht. Wir waren ja nicht die Einzigen, nicht? Ein Punkt waren wir. Einer von vielen. Und Sie, Sie hatten ja eine Menge zu tun. Eine große Aufgabe. Das Ganze. Ein aufgebrachtes Meer aus vielen kleinen Punkten. Und wir ganz oben. Auf der Dünung. Da waren wir zu sehen. Für kurze Zeit. Für Sie.
SCHUCHT (…) beendet.7
VATER Beendet. Ganz recht. Und so gut gemacht, wie es eben möglich war, oder nicht? Immerhin. Die beste unter vielen Möglichkeiten. Besser hier ein paar ohne Arbeit, als dort noch ein paar mehr. Oder nicht? Das ist sie doch. Die Rechnung. So funktioniert es doch. Immer schon. Immer nur das kleinere Übel. Als wäre das schon alles, was es zu gewinnen gibt. Als wäre alles andere gar nicht erstrebenswert.
SOHN Schon gut, Vati.
VATER Ja.
SOHN Der hört nichts. Der geht nur rum. Und redet so, weißt du?
VATER Bist du im Krankenhaus.
SOHN Auf dem Weg zu dir.
SCHUCHT Donnerstag nachmittag Grubenfahrt im Kali (…), anschließend Abendessen mit allen, die am Kalivertrag mitgearbeitet hatten. Es wird ein fröhlicher Abend. Ich kann mich um 23.00 Uhr zurückziehen, stelle aber am nächsten Morgen fest, daß die letzten um 3.00 Uhr ins Bett gegangen sind.2
AUDIOGUIDE Mit einem letzten Blick aufs Pa­no­rama, so kurz vor dem Ende, wollen wir dies alles also ausklingen lassen. Wollen es dabei belassen, es zurücklassen in der Zeit. So oft schon haben wir es abgeschüttelt. Uns von den gekrümmten Rücken geschlagen. Blicklos. Mit den Armen fuchtelnd. Aber dort, wo noch getanzt wird unter dem Galgen, dort, wo die Zeit längst abgelaufen ist, der Tod und das Rad der Fortuna miteinander wetteifern, dort bringt die ostdeutsche Frau, die das Mittagessen für die Familie gekocht, den Tisch gedeckt und wieder abgedeckt, die Töpfe also, Teller, die Pfanne gesäubert, den Tisch schließlich abgewischt, getrocknet, das Geschirrtuch über eine Stuhllehne gehängt hat, dort geht die ostdeutsche Frau zu den Tonnen, dort bringt sie den Müll raus. Dort trifft sie den Nachbarn aus dem vierten Stock. Dem erzählt sie von ihrer Suche nach einem neuen Arbeitsplatz. Vom alten VEB, den sie, die gelernte Ökonomin, aufzulösen beauftragt wurde. Der Nachbar nickt, wie wir gut erkennen können. Der spricht etwas, was wir nicht verstehen können, und sehen doch weiter drüben, wie er bereits an ihrer Tür klingelt. Am Abend, weil er den Personalchef der Firma, in der er selbst erst seit dreieinhalb Monaten arbeitet, oben in seiner Wohnung am Telefonapparat hat. Die Frau also, die selbst noch keinen Anschluss hat, sie zieht, wie wir erahnen, eine dünne Strickjacke über die Schürze, in der sie das Abendessen vorbereitet, den Tisch gedeckt, das Spiegelei gebraten, den Gurkensalat zubereitet hat. Sie steigt die Treppen nach oben, während sie sich die Jacke zuknöpft, und betritt die unbekannte Wohnung des oft freundlichen, an manchen Tagen verschlossen wirkenden Nachbarn, der hier im Haus seit über einem Jahr, seit seine Tochter ins Hessische, in eine Ausbildung hineingezogen ist, seit er also hier im vierten Stock allein wohnt. Der Personalchef indessen ist kaum zu verstehen, er nuschelt feucht, worauf der Nachbar, bereits auf dem Weg nach oben aber hingewiesen und sich nicht zu erschrecken gebeten hatte. Ein Termin wird vereinbart. Für den nächsten Tag. In der Firma. Weil man dort tatsächlich gesucht hatte. Nicht nach ihr persönlich, das nicht. Aber so nimmt sie es, während sie nach unten stapft, zurück in die Wohnung, wo im spärlich beleuchteten Wohnzimmer längst das Sandmännchen läuft. Im alten Apparat. Damit wollen wir also unseren Frieden machen. Und ein wenig applaudieren, wenn es soweit ist. Nicht wahr?

Fahrt neben weiß
schmutzigen Feldern die
Sonne derweil so tief stehend
dass alles Weiße zu gleißen beginnt
eine
Überblendung des Vergangenen ein
Wind fährt in Vaters alte Papiere und
treibt sie in schnell kreisender
Bewegung nach oben
hinter uns längst das schwache Rot
der Halde im Rückspiegel
hinter dem Gleißen
nichts

im Krankenhaus in
den weiten Gängen
die Station
in einer Art langem nichtssagendem Schlaf
im Zimmer angekommen schließlich
neben ihm am Bett sitzend
nehme ich Vaters Hand

Ende.

Quellen
1 Ernst Bloch „Thomas Müntzer als Theologe der Revolution“
2 Diensttagebücher von Klaus Schucht
3 Vorlage für das Politbüro des Zentralkomitees der SED / 30.10.1989
4 Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989 / Bundesbank August 1999
5 Freies Forschungskollegium „Selbstorganisation“ für Wissenskatalyse an Knotenpunkten / 11.02.1990
6 Dietmar Rost, Innenansichten der Treuhandanstalt. Ergebnisse einer qualitativen Befragung von Führungskräften, Freie Universität Berlin 1994 (Forschungsgruppe Altern und Leben [FALL], Forschungsbericht 43, Mai 1994)
7 Fernsehansprache von Bundeskanzler Helmut Kohl zum Inkrafttreten der Währungsunion, 1. Juli 1990
8 Brief von Heinz Braun (CDU-Stadtrat Ludwigshafen) an Helmut Kohl vom 26.11.1990
9 „Kohls Lüge von den blühenden Landschaften“, Der Spiegel / 26.05.2018
10 Treuhandanstalt: Dokumentation, Band 2
11 Beschlußempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses „Treuhandanstalt“ nach Artikel 44 des Grundgesetzes / Drucksache 12/8404 vom 31.08.1994
12 Mailied Bertholt Brecht
13 Detlev Karsten Rohwedders Brief an die Mitarbeiter der Treuhandanstalt am 27. März 1991
14 New York Times / 21.07.1993
15 Aus „Luthers sämtliche Werke“ / abgedruckt unter dessen Schriften gegen Müntzer und die aufrührerischen Bauern
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