Theater der Zeit

Thema: „Mein Kampf “ in Weimar

Das unheimliche Buch

Wie Rimini Protokoll mit „Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2“ beim Kunstfest Weimar die Hetzschrift entmystifizieren

von Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Der Auftrag – Lars-Ole Walburg und Sewan Latchinian (10/2015)

Assoziationen: Thüringen Theaterkritiken

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Zu Beginn sieht man am linken Bühnenrand neben einem kleinen Weihnachtsbaum Bilder vom Eichmann-Prozess auf einem Fernsehbildschirm laufen, während zwei Spieler eine Marx- Engels-Gesamtausgabe aus dem wie ein Regal wirkenden Bühnenaufbau räumen. „Karl Marx: Das Kapital, Erster Band“ war vor neun Jahren ein mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichneter Abend von Rimini Protokoll zu einem ebenfalls bekannten und weithin – vermutlich – wenig gelesenen Buch. Das „Kapital“-Bühnenbild von Marc Jungreithmeier und Grit Schuster ist nun in der Rückansicht mit kleinen Nischen und Podesten der Ort für Hitlers „Mein Kampf“, das vor allem im zweiten Teil mit großem Geschütz gegen den Bolschewismus, auch in der Kultur, ausholt. Der Weihnachtsbaum neben Eichmann erklärt sich, wenn die Rechtshistorikerin Sibylla Flügge erzählt, dass sie mit 14 Jahren ihren Eltern ein selbst gefertigtes „Mein Kampf“-Exzerpt zum Fest schenkte. Dann kommt Christian Spremberg, der als blinder Moderator und eloquenter Experte auch schon beim „Kapital“ dabei war, mit einem Einkaufswagen voll mit sechs dicken Bänden „Mein Kampf“ in Brailleschrift. Das Ertasten eines Hakenkreuzes auf dem Buch bedeutet ihm nichts, denn für ihn ist Nazi-Kult vor allem über Stimmen und Sprechweisen definiert – er kennt nur die Audioseite der Propaganda, was hier aber auch deren visuelle Qualität in dieser kleinen Trennung noch einmal hervorhebt. Dazu, gleichsam als Perspektivwechsel, die hintergründig doppelbödig in den Raum gesprochene These des israelischen Rechtsanwalts Alon Kraus, dass es „besser geschriebene antisemitische Texte“ gebe, was eben heißen könnte, so gefährlich ist das Buch eigentlich gar nicht mehr.

In diesem Wechsel der Perspektiven stellen Helgard Haug und Daniel Wetzel die entscheidende Frage auf die Bühne: Was bedeutet dieses Buch, dessen Copyright zum Jahresende, 70 Jahre nach dem Tod des Autors, ausläuft, heute? Der deutsch-türkische Rapper Volkan T Error (volle Kanne Terror) bringt eine irritierende Ambivalenz ins Spiel, wenn er, in der Hand die ihn begeisternde türkische Comicversion, lässig vorträgt, dass da am Ende in einem einzigen Bild sogar noch der Holocaust abgehandelt wird, bevor im Schlussbild das „Tausendjährige Reich zu Asche zerfällt“. Für einen Moment steht die gegenwärtige Attraktivität von Hitlers Kampfschrift in der türkisch-arabisch-iranischen Welt mit im Raum. Eine andere Storysparte, in die sich der polyperspektivische Abend vielleicht ein bisschen zu ordentlich gliedert‚ ist deutsches „Festungshaftschrifttum“, als Volkan nach einem kurzen Blick auf den ehemaligen RAF-Anwalt und in seinen Gefängniskonvoluten nach extrem rechts abgedrifteten Horst Mahler mit der Frage nachsetzt, woran Beate Zschäpe gerade schreibe. Der ansonsten in der Anna- Amalia-Bibliothek beschäftigte Buchrestaurator Matthias Hageböck balanciert geschickt einen schweren Stapel von „MK“-Ausgaben. Volkan legt ihm noch zwei türkische obendrauf, und natürlich ist auch das ein Rimini-typischer Spielzug der Entmystifizierung und zugleich Vergegenwärtigung – Hitlers vermeintliches Vulkanbuch ist buchstäblich Spielobjekt der Darstellung.

Entgegen allen Legenden gilt: Besitz und Lektüre von „Mein Kampf“ sind keinesfalls verboten. In Bibliotheken muss man allerdings wissenschaftliches Interesse nachweisen. Verboten sind die Verbreitung der Schrift und vor allem deren Neudruck, für die der Freistaat Bayern als Rechtsnachfolger des „Zentralverlags der NSDAP, Franz Eher Nachfolger GmbH, München“ auch für den Schriftsteller Adolf Hitler die Rechte wahrnimmt, also kontrolliert und bis zum Ende des Jahres Neuauflagen in Deutschland immer noch rechtswirksam verhindern kann.

Mit der sogenannten Gemeinfreiheit von Hitlers 800-Seiten- Text entsteht eine neue Situation. Als Volksverhetzung und NSPropaganda, für die es in Neonazi-Kreisen immer noch als traditionsstiftend für völkisches Denken verehrt wird, könnte das eklektische Werk neu aufgelegt dann durchaus verfolgt werden. Darauf einigten sich die Innenminister – man müsste diesbezüglich auf einen Pilotprozess warten. In einer wissenschaftlich kommentierten Ausgabe hingegen ließe sich „Mein Kampf“ rund 90 Jahre nach seiner Niederschrift im Kontext seiner Zeit beleuchten, mit seinen verborgenen Quellen, historischen Verdrehungen, autobiografischen Verbrämungen und seiner antisemitischen Anstachelung. So ließe sich erkennen, wie gefährlich das Buch heute noch ist. Ein Historikerteam vom Münchner Institut für Zeitgeschichte jedenfalls hat eine Ausgabe angekündigt, die Hitlers Buch detailliert durchleuchten und kommentieren will – auf 2000 Seiten. Diese Seitenzahl dürften Rimini Protokoll mit ihrem Dramaturgen Sebastian Brünger in ihren Recherchen und Vorgesprächen mit Experten auch erreicht haben. Othmar Plöckinger, ausgewiesener Experte als Historiker und Literaturwissenschaftler, kommt in der Inszenierung per Video zu Wort mit einem literarischen Urteil: Natürlich keine Hochliteratur, aber qualitativ so ungefähr in der Mitte dessen, was damals als Weltanschauungsmemoiren veröffentlicht wurde. Auch das befördert die Entmystifizierung.

Ein Tabubruch ist es wohl nicht, dieses Buch so leichthändig auf der Bühne zu behandeln. In einer Historiker-Expertenrunde konnte sich der Jenaer Geschichtsprofessor Norbert Frei zwar vorstellen, dass demnächst in der U-Bahn jemand ungeniert „Mein Kampf“ liest, sah aber „keinen Bedarf an Normalisierung“ dieser Art. Da wird in erster Linie akademische Kompetenz verteidigt und den Kollegen mit ihrem über 1000-Seiten-Kommentar zur Seite gesprungen. Der gewaltige Fußnotenapparat indes könnte unabsichtlich zu einer neuen Mystifizierung beitragen: zu dem Gefühl, dass man ohne dieses Expertenwissen das Buch gar nicht lesen könne. Eine „Normalisierung“ muss aber schon stattgefunden haben, meint Helgard Haug, denn vor 15 Jahren sei ein solches Theaterprojekt noch gänzlich undenkbar gewesen. Ein weiteres Indiz für einen entspannten Umgang ist wohl auch, dass es bei der Uraufführung beim Kunstfest Weimar keinerlei Skandal gegeben hat. Der Abend, demnächst in Graz, München und Berlin zu sehen, beweist: Rimini Protokoll haben nicht etwa provoziert, sondern eine schon halb offene Tür eingerannt. //

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